Grundgesetz, Kultur und Sozialstaat
Die Open Society Foundation wollte wissen, worauf die Bürger verschiedener Nationen stolz sind. Die Deutschen sagen am häufigsten: auf das Grundgesetz. Aber ist "Stolz" überhaupt ein treffender Begriff? Nein, meint der Psychologe Ulrich Wagner.
Gut ein Drittel der Deutschen ist stolz auf das Grundgesetz. Knapp ebenso viele Bundesbürger blicken voll Stolz auf ihren Sozialstaat und auf das kulturelle Erbe Deutschlands.
Stolz sind zudem 15 Prozent der Bundesbürger darauf, Treiber der europäischen Integration zu sein, 14 Prozent nennen den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte, 13 Prozent die Toleranz der Deutschen gegenüber Zuwanderern. Nur zwölf Prozent der 1.046 Befragten erklärten in der repräsentativen Umfrage des internationalen Meinungsforschungsinstituts Lightspeed, sie seien "überhaupt nicht stolz" auf ihr Land. Auftraggeber der Studie ist die Open Society Foundation von George Soros. Die Foundation kommt nach den Umfrageergebnissen zu dem Schluss, Deutschland sei eine offene Gesellschaft.
Was hat Stolz auf die eigene Kultur mit Offenheit zu tun?
Der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg hat sich die Studie angeschaut, sieht die Fragestellungen kritisch und glaubt nicht, dass die Ergebnisse auf eine offene Gesellschaft schließen lassen. Er sagt, für ihn sei nicht erkennbar, warum Stolz auf das Grundgesetz oder auf die Kulturleistungen ein Indikator für Offenheit sei.
Wagner weiter: "Stolz ist ja eigentlich etwas, das man berechtigterweise nur haben kann, wenn man selbst einen Beitrag dazu geleistet hat. Ich bin 67 Jahre alt, und wenn ich sage, ich bin stolz auf das Grundgesetz, ist mein Beitrag dazu eher gering. Die Interpretation solcher Fragen ist ein bisschen schwierig. Es wäre eindeutiger gewesen, wenn man gefragt hätte: 'Sind Sie froh, dass es in Deutschland das Grundgesetz in dieser Art gibt?' Oder: 'Wollen Sie sich in Deutschland für die Fortsetzung einer offenen Gesellschaft engagieren?'"
Patriotismus und Nationalismus
In diesem Zusammenhang stellte Wagner mit Blick auf ein Interview mit dem Soziologen Volker Kronenberg zum Patriotismus fest: Es sei deutlich zwischen Patriotismus und Nationalismus zu unterscheiden. Das eine sei mit Stolz auf positive Errungenschaften wie etwa stabile und gerechte demokratische Strukturen in einem Land verbunden – und durchaus auch mit dem Willen, etwas zu verbessern, das nicht gut laufe. Das andere, der Nationalismus, grenze andere Menschen aus.
Aus psychologischer Sicht bestehe immer das Risiko, dass, wer sich sehr stark mit seiner Gruppe – mit seinem Land – identifiziere, auch stärker dazu neige, Grenzen zu ziehen und diejenigen, die nicht dazu gehörten, auszuschließen.
Heterogenität ist positiv
Als positiv wertet Wagner, dass die Studie keine eindeutigen Ergebnisse zutage fördere und sich die Stolz-Bekundungen auf viele verschiedene Dinge verteilten. Es sei gut für eine Demokratie , "dass die Leute nicht mit völlig homogenen Meinungen durchs Land laufen, sondern unterschiedliche Aspekte an der eigenen Gemeinschaft wertschätzen".
(mkn)