Junge Deutsche sind des Gedenkens müde
Vor allem Jüngere wollen sich nicht mehr mit dem Holocaust befassen, enthüllt nun eine Studie. Fast 40 Prozent von ihnen ist das Thema nahezu gleichgültig. Die Nazi-Verbrechen seien zu lange her und es gebe keinen direkten Bezug mehr, sagen die Forscher.
In einer Feierstunde des Bundestages zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren sagte Bundespräsident Joachim Gauck:
"Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben".
"Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben".
Die Mehrheit der Deutschen fordert nach einer neuen Studie der Bertelsmann-Stiftung genau das Gegenteil. 58 Prozent der Befragten wollen nämlich nicht mehr über die Judenverfolgung durch die Nazis reden. Drei Viertel der Israelis folgen dagegen in dieser Frage Bundespräsident Gauck und lehnen einen solchen Schlussstrich ab. Die Shoah, die die Beziehungen zwischen Deutschen und Israelis immer noch prägt, scheint zunehmend ein polarisierendes Thema zu sein.
Zunehmende zeitliche Distanz zum Zweiten Weltkrieg
Werner Bergmann, Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, ist überrascht von der weitverbreiteten "Erinnerungsabwehr", wie er das nennt. Die ist seit der Wiedervereinigung relativ stabil, wie die Forscher sagen. Enttäuscht ist der Antisemitismus-Forscher Bergmann aber vor allem darüber, dass gerade jüngere Deutsche von der Shoah nichts mehr wissen wollen.
"Wenn ich das vergleiche, was damals in den 60er, 70ern und noch 80er Jahren thematisiert worden ist, wie dieses Thema öffentlich behandelt worden ist in Gedenktagen, in Gedenkstätten und heute, dann ist das ein riesiger Unterschied. Das heißt, wir haben heute ein Mahnmal hier in Berlin, wir haben die Topografie des Terrors, wir haben ein Jüdisches Museum. Wir haben wirklich eine Fülle von Fernsehen- und Filmgeschichten, die Schulen behandeln es. Insofern würde man eigentlich denken, diese Präsenz müsste doch positivere Effekte gehabt haben."
"Wenn ich das vergleiche, was damals in den 60er, 70ern und noch 80er Jahren thematisiert worden ist, wie dieses Thema öffentlich behandelt worden ist in Gedenktagen, in Gedenkstätten und heute, dann ist das ein riesiger Unterschied. Das heißt, wir haben heute ein Mahnmal hier in Berlin, wir haben die Topografie des Terrors, wir haben ein Jüdisches Museum. Wir haben wirklich eine Fülle von Fernsehen- und Filmgeschichten, die Schulen behandeln es. Insofern würde man eigentlich denken, diese Präsenz müsste doch positivere Effekte gehabt haben."
Das zunehmende Desinteresse für den Holocaust unter jüngeren Deutschen erklären die Forscher mit der wachsenden zeitlichen Distanz. Die meisten Befragten in Deutschland, die nach 1970 geboren wurden, haben durch ihre Eltern keine direkte Verbindung zu den Verbrechen der Nazis. Zwei Drittel von ihnen wollen von Auschwitz nichts mehr hören, in ihrer Elterngeneration fordert das nur jeder Zweite. Antisemitismus-Forscher Werner Bergmann:
"Das Interessante ist, dass die Aufschlüsselung nach Alter jetzt eine umgekehrte Richtung zeigt. Früher war es sehr deutlich so, dass die Jüngeren gegen den Schlussstrich waren und die Älteren noch aus der NS-Generation stammenden waren dafür, einen Schlussstrich zu ziehen. Also es war deutlich eine Abnahme innerhalb der jüngeren Generation zu erkennen... Und das deutet daraufhin, dass der historische Abstand offenbar hier eine Rolle spielt, dass diese jüngere Generation sagt: 'Wir haben das gelernt', so ungefähr, und wir wollen aber nicht dauernd darüber reden."
Positiv findet Werner Bergmann, dass 42 Prozent der Deutschen sich weiterhin mit der Nazi-Vergangenheit befassen wollen, doppelt so viele wie vor 20 Jahren. Dennoch bleibt es eine Minderheit, denn 58 Prozent wollen das Gedenken an die Judenverfolgung ruhen lassen.
Die Israelis wünschen sich Unterstützung im Nahostkonflikt
Beim Thema Judenverfolgung empfinden sie die gleichen Emotionen wie die Israelis. Neun von zehn Deutschen äußern Bedauern, 85 Prozent Empörung und eine knappe Mehrheit Verantwortung aufgrund der Vergangenheit. Alarmierend ist hingegen die Tatsache, dass bei 39 Prozent das Thema Gleichgültigkeit auslöst. Aber nicht alle sind Antisemiten. Der Anteil der Judenhasser in Deutschland geht der Umfrage zufolge zurück auf 23 Prozent.
Erfreulich auch: Zwei Drittel der Israelis haben eine positive Meinung über Deutschland, aber nur 36 Prozent der Deutschen haben eine gute Meinung über Israel. Die Tagespolitik spielt da offenbar eine Rolle: 62 Prozent der Deutschen bewerten die Netanjahu-Regierung negativ. 63 Prozent der Israelis haben dagegen eine gute Meinung von der Regierung Merkel. Die allermeisten Israelis erwarten politische Unterstützung im Nahostkonflikt oder deutsche Waffenlieferungen, was aber eine deutliche Mehrheit der Deutschen ablehnt.
Stephan Vopel, Israel-Experte der Bertelsmann-Stiftung, der in Israel studierte und fließend Hebräisch spricht, erklärt diese unterschiedlichen Erwartungen mit den ungleichen politischen Kulturen beider Länder. Deutsche und Israelis ziehen auch unterschiedliche Lehren aus dem Holocaust, sagt Stephan Vopel:
"Der Holocaust ist in der deutschen, europäischen Deutung heute nicht mehr in erster Linie ein spezifisches historisches Ereignis mit spezifischen historischen Schlussfolgerungen, sondern ein universelles Ereignis geworden. Es war zuerst gewissermaßen ein Völkermord, und heute ist daraus eigentlich das Prinzip der Achtung der Menschenrechte als oberstes Prinzip geworden."
"Der Holocaust ist in der deutschen, europäischen Deutung heute nicht mehr in erster Linie ein spezifisches historisches Ereignis mit spezifischen historischen Schlussfolgerungen, sondern ein universelles Ereignis geworden. Es war zuerst gewissermaßen ein Völkermord, und heute ist daraus eigentlich das Prinzip der Achtung der Menschenrechte als oberstes Prinzip geworden."
Die deutsche Lehre aus dem Holocaust ist nämlich "nie wieder Krieg", für die Israelis heißt es "nie wieder Opfer sein". Das sorgt für Entfremdung, auch im Jubiläumsjahr.