Studien über indigenes Wissen

Traditionelle Heilmittel und der Kampf gegen Krebs

07:52 Minuten
Der Simien Berg in Äthiopien
Der Simien Berg in Äthiopien: Die Natur des Landes birgt zahlreiche medizinische Pflanzen. © picture alliance / Mary Evans Picture Library / Robyn Stewart
Von Kolja Unger |
Audio herunterladen
In Äthiopien greifen Naturmediziner auf jahrhundertealtes Wissen zurück. An der Universität Greifswald untersucht ein äthiopischer Pharmakologe ein traditionelles Heilmittel gegen Krebs jetzt auf seine Wirksamkeit.
Mit einem Plastikbecher Automatenkaffee sitzt der äthiopische Pharmakologe Solomon Tesfaye vor seinem Labor auf dem Campus der Universität Greifswald. Begeistert erzählt er von seiner Faszination für Nutzpflanzen und seinen Drang, sie zu erforschen: "Ich bin in Addis Abeba aufgewachsen", erzählt er. "Obwohl es eine große Stadt ist, wachsen dort überall Pflanzen wie die Vernonie, die bittere Scheinaster." Menschen in Äthiopien benützen ihre Blätter seit Ewigkeiten als Putzmittel. "Und jetzt, wo ich weiß, dass Vernonien antibakteriell wirksam sind, frage ich mich, wie die Menschen das damals herausbekommen haben."

Naturheilkunde mit langer Tradition

Pflanzen spielen eine große Rolle in Äthiopien – im Alltag, aber auch in der Medizin. Häufig suchen Äthiopierinnen und Äthiopier statt einer Ärztin einen traditionellen Heiler auf. Sie arbeiten nach Konzepten der Naturheilkunde, behandeln etwa Wunden oder Krankheiten der inneren Organe, unter anderem mit Mitteln aus getrockneten Pflanzen. "Dieses Wissen wurde über Jahrhunderte hinweg angewandt, um verschiedene Krankheiten zu kurieren", sagt Tesfaye. "Traditionelle Heiler haben für sich in Anspruch genommen, alle Krankheiten behandeln zu können."
Unter anderem auch Krebserkrankungen. Sie werden im medizinischen System der Heiler als "Krankheiten, die von innen kommen", systematisiert. Und obwohl Krebs oft schwer zu diagnostizieren ist – ohne bildgebene Verfahren, ohne Tumormarker –, gelingt dies einigen Heilern mitunter ganz gut. Viele Verläufe deuten auf einen Erfolg der Kräutertherapie hin.

Skepsis gegenüber traditionellen Verfahren

Dennoch steht der international ausgebildete Wissenschaftler Solomon Tesfaye dieser Praxis anfangs skeptisch gegenüber: "Einige der Kräuter sind auch bekannt für ihre Genotoxizität. Die Praxis der Heiler zu überprüfen, bedeutet auch, die Konsumenten vor Vergiftungen zu schützen."
Solomon Tesfaye möchte die Kunst der traditionellen Heiler wissenschaftlich prüfen: Welchen Effekt haben ihre Kräuter auf Krebszellen und welchen auf gesunde? Er bereist das ganze Land, besucht Heiler, sammelt mit ihnen Heilpflanzen und versucht, so viel wie möglich über ihre Anwendung zu erfahren. Unter anderem trifft er Tegistu, Sekretär der Traditional Healers Organisation und selbst praktizierender Heiler im nordäthiopischen Bahir Dar.
Mit ihm fährt er zur Quelle des Blauen Nils, in die umliegenden Berge und über den Lake Tana, lässt sich Pflanzen zeigen. Tegistu verwendet sie etwa gegen von Amöben verursachte Krankheiten, gegen Durchfall und auch in der Krebstherapie. "Das hier ist Azoi – sehr reaktiv. Eine mächtige Pflanze gegen verschiedene Krebssorten."

Gesammelte Pflanzen werden taxonomisch erfasst

Zurück in Addis Abeba ordnet Solomon Tesfaye mit Hilfe seines Kollegen Professor Melaku, dem Leiter des Herbariums, die mitgebrachten Pflanzen taxonomisch ein. "Die Blättereigenschaften sind bei vielen Pflanzen ähnlich. Deshalb untersuche ich die Schlüssel-Eigenschaften durchs Mikroskop, um die Pflanzen zu identifizieren, die Solomon erforscht. Einige Pflanzen, die für die Behandlung von Nierenerkrankungen verwendet haben, haben auch die Form einer Niere. Ein Wink der Natur."
Allerdings reichen die Laborkapazitäten in Addis Abeba gerade einmal aus, die wirksamen Bestandteile aus den Pflanzen zu extrahieren – für die Prüfung der toxischen Auswirkungen findet Solomon Tesfaye schließlich Unterstützung an der Uni Greifswald, bei Professor Sebastian Günther: "Äthiopien war nie ein Land, das kolonisiert worden ist, hat einen sehr sehr reichen Arzneischatz und eine riesengroße Biodiversität", sagt dieser. "Diese Pflanzen hatten über Jahrmillionen eine Ko-Evolution mit Proteinen von Wirbeltieren. Und deshalb ist dieser Ansatz auch so schön, weil er perfekt zeigt – und das ist das interessante und schöne an Solomons Daten – wir sehen selektive Toxizität. Wir denken, das ist definitiv ein Grund, da weiterzumachen."

Eigenschaften der Wirkstoffe werden in Greifswald geprüft

Selektive Toxizität – die Komponenten greifen nur bestimmte Zellen an, das birgt die Hoffnung, dass eine Kräutertherapie ebenso effizient sein, aber weniger Nebenwirkungen zeigen könnte als eine Chemotherapie. Nach drei Monaten steht fest: "Fünf der Pflanzenextrakte, die ich mitgebracht hatte, wirken gegen Hautkrebszellen. Nach einem Toxizitäts-Screening haben wir außerdem herausgefunden, dass sie unbedenklich sind für gesunde Zellen."
Solomon Tesfaye und Sebastian Günther beschließen, sich auf eine Pflanze zu konzentrieren: "Die Gnidia. Eine Pflanze, die traditionell in Äthiopien für die Behandlung von Melanomen und Brustkrebs verwendet wird. Wir klären nun die Strukturen auf von neun Komponenten, die wir in der Pflanze als möglicherweise wirksam ausgemacht haben."
Im Labor werden die Extrakt-Komponenten zuerst isoliert. Dann werden sie zusammengebracht mit Zellkulturen, die etwa durch Blutspenden gewonnen wurden. Auf diese Weise lässt sich in Petrischalen die Wirkung dieser neun Proben auf verschiedene Krebsarten beobachten. Die Ergebnisse sind vielversprechend: "Gebärmutterhalskrebs gehört zu den am schnellsten wachsenden Karzinomen. Dennoch, bei Probe sieben sehen wir schon bei 1µg pro ml einen Effekt. Ab 3µg findet kein Wachstum des Tumors mehr statt. Das kann man wohl als sehr potentes Mittel gegen Krebs bezeichnen."

Hoffnung für Krebspatienten in Äthiopien

Das Ergebnis stimmt Solomon Tesfaye hoffnungsvoll. In Äthiopien ist nicht nur die Vorsorgesituation schlecht, auch eine ordnungsgemäße Behandlung findet oft nicht statt. Wenn ein Tumor rechtzeitig erkannt wird, dann können sich die Patientinnen und Patienten in den meisten Fällen keine Chemotherapie leisten. Das muss in Zukunft aber nicht zwangsläufig ein Todesurteil bedeuten: "Wenn unser Projekt erfolgreich ist, können wir diese Extrakte für Patienten zugänglich machen, die sich keine Chemotherapie leisten können, oder an welche, die eine Komplementär-Behandlung wünschen." Noch allerdings geht es nur um Grundlagenforschung, die sich zunehmend indigenem Wissen und biologischen Quellen öffnet und sie prüft.
Mehr zum Thema