"Studierende" und "Geflüchtete"

Die Vorteile der Partizipienreiterei im Sprachgebrauch

"Geflüchtete Willkommen" steht auf dem Plakat einer Demonstrantin.
Da Partizipien wie "Geflüchtete" keine Änderung im Sprachsystem erforderten, hält Anatol Stefanowitsch sie für eine gute sprachliche Alternative. © picture alliance / dpa / Marc Tirl
Anatol Stefanowitsch im Gespräch mit Max Oppel |
Kann der Begriff "Flüchtling" ein gutes Wort für einen heimatlos gewordenen Menschen sein? Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch hält die Sprachdebatte um das Wort für richtig und bewertet alternative Formulierungen.
Den Begriff Flüchtlinge – oft gebraucht und "Wort des Jahres 2015" – ersetzen Kritiker des Nomens inzwischen häufig durch Partizialformen wie Geflüchtete, Flüchtende oder auch Vertriebene. Warum?
"Die mögliche, herablassende, abwertende oder etwas klein machende Bedeutung, die immer wieder behauptet wird", erklärt Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaft an der FU-Berlin, werde oft als Grund für die Vermeidung des Wortes Flüchtling genannt.
Im Sprachgebrauch lasse sich ein abwertender Gebrauch allerdings nicht beobachten. "Es hat nichts Herablassendes, nichts Abwertendes. Es hat natürlich eine juristische Definition, aber auch im Alltag bedeutet es eben: Das ist jemand, der sich auf der Flucht befindet."

"Wir haben 'der Flüchtling', aber nicht 'die Flüchtlingin'"

Der zweite Kritikpunkt ziele darauf, dass das Wort Flüchtling keine feminine Form hat. "Wir haben 'der Flüchtling', aber nicht 'die Flüchtlingin'", so Stefanowitsch. Und damit wäre das Wort Flüchtling eigentlich eins dieser seltenen Fälle, wo das grammatische Geschlecht zwar maskulin ist, aber da es keine feminine Form gibt, die Form an sich geschlechtsneutral wäre."
Allerdings beobachte er seit einiger Zeit, dass wenn von Frauen oder Kindern auf der Flucht die Rede sei, von Flüchtlingsfrauen oder Flüchtlingskindern gesprochen werde.
"Und das ist natürlich problematisch, weil durch diesen Kontrast wird das Wort Flüchtling dann natürlich also auch im Deutungssinne männlich belegt. Und das wäre tatsächlich ein guter Grund darüber nachzudenken, ob diese Begriffe 'Flüchtende' oder 'Geflüchtete' nicht besser sein könnten, denn diese Partizipien haben den Vorteil, dass sie im Plural grundsätzlich geschlechtsneutral sind, und dass sie im Singular zwar immer noch ein Geschlecht haben, 'der Geflüchtete' oder 'die Geflüchtete', aber das lässt sich eben ganz leicht durch den Artikel signalisieren."

"Männlichen Formen werden nicht geschlechtsneutral interpretiert"

Ein ähnlicher Fall, das Wort Studierende, das habe sich inzwischen mehrheitlich durchgesetzt: Es ist ebenfalls eine Partizipialkonstruktion.
In den allermeisten Fällen, so der Sprachwissenschaftler, lasse sich aus dem Verb, das eine Tätigkeit bezeichnet, auf diese Weise eine Bezeichnung für denjenigen oder diejenige ableiten, die diese Tätigkeit ausführt. Das berge aber auch eine Gefahr.
"Einerseits ist es eine sehr elegante Art, es erfordert keine Änderung am Sprachsystem. Dadurch dass es aber auch die einzige wirkliche Allzweckwaffe ist, kann das natürlich dazu führen, dass viel zu viele von diesen Partizipien vorkommen, dass es stilistisch einfach langweilig wird."
Deshalb rät Anatol Stefanowitsch dazu, auch über Alternativen nachzudenken, denn geschlechtspezifische Formen zu ignorieren, sei keine Option.
"Wir wissen aus psycholinguistischen Experimenten, dass diese männlichen Formen nicht geschlechtsneutral interpretiert werden. Sondern die werden immer zunächst als männlich interpretiert, und wenn der Zusammenhang dann nahe legt, dass hier aber auch Frauen gemeint sind, dann muss immer so eine Art Uminterpretation erfolgen. Das kann man richtig messen im Millisekundenbereich. Wenn das jedes Mal passiert, den ganzen Tag über, wenn immer das Männliche der Normalfall ist, dann hat das natürlich möglicherweise auch gesellschaftliche Konsequenzen."

Alternative: männliche und weibliche Formen abwechseln

Eine andere Möglichkeit – in der feministischen Linguistik angewandt – sei es, die männliche und die weibliche Form im Plural einfach abzuwechseln, also mal von Studenten und mal von Studentinnen zu sprechen.
"Man fängt dann einfach an, diese Formen gar nicht mehr als geschlechtsspezifisch zu interpretieren. Der Vorteil ist dann eben, dass mal die männliche und mal die weibliche Form in neutraler Bedeutung verwendet wird."
Kritiker solcher sprachlichen Alternativmodelle, die sich um Klang und Kraft der Sprache sorgen, hält Stefanowitsch entgegen:
"Da ist viel Gewohnheit dabei, und klar ist, dass eine Strategie der gerechten Sprache keine Freikarte sein soll, um nicht mehr darauf zu achten, wie kraftvoll die Sprache ist. Aber ich würde bestreiten, dass allein die Tatsache, dass man geschlechtergerechte Sprache verwendet, zu einem schlechten Stil oder zu einem langweiligen Duktus voller Wiederholungen führen muss."
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