"Wettrüsten" am Ärmelkanal

Die Schlepper passen sich an

08:22 Minuten
Ein Boot fährt bei Dunkelheit in den Hafen von Calais ein.
Die gefährliche Überfahrt mit denm Schlauchboot über den Ärmelkanal fordert immer noch zahlreiche Todesopfer. © picture alliance / dpa / MAXPPP / Marc Demeure
Srdjan Govedarica im Gespräch mit Dieter Kassel |
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Vor einem Jahr ereignet sich im Ärmelkanal das bis dahin schlimmste Bootsunglück mit einem Schlepperboot. Doch noch immer wagen Geflüchtete die gefährliche Überfahrt von Frankreich nach England. Der Journalist Srdjan Govedarica berichtet aus Calais.
In der Nacht zum 24. November 2021 sind 27 Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen, den Ärmelkanal in Richtung Großbritannien mit einem Schlauchboot zu überqueren. Es ist das schlimmste bekannte Unglück dieser Art vor der Küste von Calais. Die Aufklärung dauert noch an.
Dennoch ist die Zahl derjenigen, welche die gefährliche Überfahrt geschafft haben, in diesem Jahr auf 40.000 gestiegen. Das ist ein neuer Höchststand. Die Migranten, die von Frankreich aus weiter nach England wollen, lassen sich von dem Drama vor einem Jahr nicht abhalten. Ihre Asylanträge in der Europäischen Union wurden meist abgelehnt, nun erhoffen sie sich Aufenthaltsgenehmigungen in Großbritannien.

Polizei will keinen zweiten "Dschungel"

Der Journalist Srdjan Govedarica war kürzlich auf einer Recherchereise in Calais und berichtet von seinen Erfahrungen: "Die Menschen bekommen jeden oder jeden zweiten Tag Besuch von der Polizei, die ihre Zelte abbaut." Das sei ein Versuch der Behörden, den Aufbau eines großen Flüchtlingslagers und einen zweiten "Dschungel von Calais" zu verhindern.
"Die Menschen versuchen, sich vor der Polizei zu verstecken", sagt der WDR-Redakteur und spricht von etwa 1000 bis 2000 Migranten, die sich aktuell in Calais aufhalten.
In Loon-Plage, zwischen Calais und Dünkirchen, entsorgen Einsatzkräfte Zelte eines Lagers in Container.
In Loon-Plage, zwischen Calais und Dünkirchen, räumen Einsatzkräfte Zelte eines überwiegend kurdischen Lagers weg. Govedarica berichtet, dass Geflüchtete aus demselben Land eher unter sich bleiben.© picture alliance / ZUMAPRESS.com / Michael Bunel
Etwas anders sei die Situation im circa 50 Kilometer entfernten Dünkirchen, wo die Polizeikräfte weniger streng seien. Govedarica berichtet: "Dort ist ein größeres improvisiertes Flüchtlingslager mit etwa 800 Menschen entstanden. Aber auch dort kommt die Polizei regelmäßig vorbei und baut die Zelte der Menschen ab." Persönliche Gegenstände in den Zelten seien dann verloren, erklärt der Korrespondent.
Neu sei, dass seit einigen Monaten unter den Geflüchteten auch viele Menschen aus Albanien seien, so Govedarica weiter. Sie machen ein Drittel der Menschen aus, die in diesem Jahr die Überfahrt in Richtung Dover überlebt haben.

Ohne freiwillige Helfer geht es nicht

Hilfskräfte und Nichtregierungsorganisationen seien zwar nicht gerne gesehen, aber geduldet. "Das System würde aber auch zusammenbrechen, wenn es die Zivilgesellschaft nicht gebe", sagt Govedarica und ergänzt: "Die Menschen werden hauptsächlich von Freiwilligen unterstützt".
Srdjan Govedarica steht als Moderator einer Veranstaltung 2016 in Köln auf der Bühne.
Srdjan Govedarica war als Berichterstatter in Calais und hat erzählt von den Zuständen vor Ort. Er ist Redakteur für den WDR in Köln und war zuvor ARD-Korrespondent für Südeuropa und Österreich.© picture alliance / Sven Simon / Malte Ossowski
Er habe überwiegend alleinstehende Männer in den Zelten an der französischen Küste beobachtet, so der Journalist. Gerade Familien nähmen bei sinkenden Außentemperaturen im Notfall aber auch offizielle Unterkunftsangebote der Behörden etwa in Lille wahr.
"Diese sind aber weiter weg von der Küste, was logistisch für die Menschen nicht praktisch ist. Da wollen sie nicht hin", erklärt Govedarica.

"Wettrüsten" zwischen Behörden und Schleppern

Eine illegale Überfahrt mithilfe von Schlepperbooten kostet seinen Angaben zufolge etwa 2000 Euro, es gäbe aber auch andere Arrangements. "Die Menschen verstecken sich in den Dünen und warten, bis ein Signal der Schlepper kommt." Bekomme die Polizei dies mit, zerstörten sie die Gummiboote, berichtet Govedarica.
"Die Schlepper sind meistens irakische Kurden oder Menschen aus den Herkunftsländern der Geflüchteten. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, dass die Organisierte Kriminalität aus Albanien dort übernommen hat."
In einem Abkommen einigten sich Großbritannien und Frankreich jüngst darauf, mehr Hubschrauber, Drohnen und Spürhunde sowie hundert zusätzliche Sicherheitskräfte einzusetzen, um illegale Überfahrten zu verhindern. "Die Erfahrung aus anderen Ländern zeigt aber, wenn Kontrollen oder Polizeipräsenz verstärkt werden, passen sich die Schlepper auch an", sagt Govedarica und spricht von einem "Wettrüsten".
(lsc/AFP)
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