Jens Jessen ist Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit" im Feuilleton, das er von 2000 bis 2014 auch leitete. Zuvor war er Feuilletonchef bei der "Berliner Zeitung" und Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Begonnen hatte der Autor und Publizist seine Laufbahn von 1984 bis 1988 als Verlagslektor in Stuttgart und Zürich. 2012 erschien im Carl Hanser Verlag Jessens Roman "Im falschen Bett".
Kritik an Abschiebungen nach Afghanistan
Nach dem Anschlag in Kabul mit zahlreichen Toten verschiebt Deutschland eine geplante "Sammelrückführung" von abgelehnten Asylbewerbern nach Afghanistan. Dass die Bundesregierung aber an ihrer Abschiebepraxis festhält, kritisiert der Kulturjournalist Jens Jessen: Er sieht darin den Einfluss von Rechtspopulisten auf Regierungshandeln.
Mehr als 80 Todesopfer und Hunderte Verletzte, auch ein Wachmann der deutsche Botschaft in der afghanischen Hauptstadt wurde getötet: Und doch sollen zu einem späteren Zeitpunkt wieder abgelehnte Asylbewerber von Deutschland nach Afghanistan ausgeflogen werden. Um die Lage in dem Land zu verstehen oder sie anders zu sehen, brauche es den Anschlag nicht, sagt Jessen: "Aber es macht doch noch einmal darauf aufmerksam, in welchem Maße das Regierungslager sich inzwischen von der AfD und den in dieser Partei formulierten Ressentiments vor sich hertreiben lässt."
Jessen erkennt auch ein "Problem der politischen Kommunikation": rein technisch gemeinte Formeln wie "sichere Gebiete" oder "sicheres Herkunftsland" würden die Bürger anders verstehen: "nämlich als etwas, in dem die Leute tatsächlich - vielleicht unter armen, angestrengten Bedingungen - aber sicher leben können".
Flirt mit China - nur aus taktischen Gründen
Zum Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang in Berlin und einer womöglich neuen Freundschaft mit China meint der "Zeit"-Journalist: "Ich glaube, dass man so einen Flirt mit China nur aus diplomatisch-taktischen Gründen inszenieren kann, um ein bisschen Druck auszuüben und zu zeigen, als könne man auch anders." Tatsächlich aber sei die kulturelle, politische, auch ethische Nähe zu den USA "so viel größer als gegenüber Staaten des asiatischen Raums, dass wir gar nicht anders können, als kummervoll im Moment an den USA festzuhalten. Es gibt keine Alternative dazu." China-Korrespondent Axel Dorloff bestätigt, dass Peking auf rhetorischer Ebene den Freihandel ziemlich hoch halte in jüngster Zeit, de facto aber vieles schuldig bleibe.
Facebook und das digitale Erbe
Auch ein Thema in der Sendung: das Urteil des Berliner Kammergerichts zum digitalen Erbe bei Facebook. Das Gericht hat entschieden, dass Eltern nicht das Recht haben, den Facebook-Account ihres verstorbenen Kindes einzusehen. Richtig so? "Eine ganz verzwickte Frage", findet Jessen. Es gehe um Persönlichkeitsrecht, das formuliert wurde, als es die sozialen Netzwerke noch gar nicht gab: "Aber in jedem Fall finde ich es merkwürdig, (…) dass Facebook die Kontrolle über etwas behalten darf, was die Eltern nicht sehen dürfen." Das Unternehmen gewinne dadurch eine "Autorität, die weit über das hinausgeht, was man sonst einer Privatfirma zubilligen würde", so Jessen.