"Stürmische Landschaften"
Vom Film zum Theater über die Oper zurück zum Film, so beschreibt Regisseur Christoph Schlingensief seinen Weg in die Jury der Berlinale. Das sei ein toller Sprung, den er sehr genieße, betonte Schlingensief. Allerdings vermisse er im Wettbewerb des Filmfestivals noch Werke, die er ästhetisch interessant finde, weil sie etwas entwickelten.
Dieter Kassel: Vom Beurteilten zum Beurteiler: Christoph Schlingensief war mit seinen Filmen schon mehrmals auf den Berliner Filmfestspielen zu Gast - mit unterschiedlichem Erfolg. Diesmal sitzt er in der siebenköpfigen Jury, die über die Vergabe der Bären entscheidet. Ein Gespräch mit Andreas Müller:
Christoph Schlingensief: Ich habe aber hier eigentlich mit einem Desaster begonnen, das war 1986 mit dem Film "Menu Total", in dem Helge Schneider mitspielte, der damals noch gar nicht bekannt war, und auch Alfred Edel als Cuca, als Frau, der sich zu Tode übergab, also immer wieder auskotzen musste die ganze Geschichte, und Kuhlbrodt. Und dieser Film kam ja miserabel an. Das waren 800 Zuschauer beim Start der Vorführung, und nach der Vorstellung waren es noch 400. Und in diesen 400 gab es dann noch zehn Leute, die sich geprügelt haben. Mein Vater heulte, meine Patentante fand es toll. Eva M. J. Schmidt, die Kritikerin damals, die fand es auch klasse. Werner Nekes, mein Lehrmeister, fand es faschistoid. Es war furchtbar. Und dann habe ich noch mit meiner Freundin Schluss gemacht, habe dann Tilda kennengelernt auf demselben Festival, die gerade "Caravaggio" hier hatte. Und Tilda Swinton und ich sind dann da nach 24 Stunden ein Paar gewesen und sind das auch einige Monate geblieben und haben auch zusammen dann einen Film gedreht: "Egomania" mit Udo Kier und Tilda Swinton auf einer Hallig in der Nordsee. Also sehr stürmische Landschaften, muss ich sagen. Und jetzt in der Jury zu sitzen, ist natürlich schon ein toller Sprung, den ich sehr genieße, zumal ich auch mit Filmen ja weniger zu tun hatte in der letzten Zeit. Bin vom Film kommend dann zum Theater, dann zur Oper und jetzt eben wieder beim Film, und das tut mir sehr gut, weil ich das doch unglaublich liebe und auch eine Basis meiner Arbeit ist.
Müller: Ja, ich war damals ein wenig und mit vielen anderen auch enttäuscht, dass Sie mehr oder weniger aufhörten, Filme zu machen. Das war ja die unmittelbare Nach-Wendezeit. War Film nicht mehr schnell genug, um auf das zu reagieren, was damals passierte im Land?
Schlingensief: Es war so, dass es nachher wirklich anfing, da haben wir den Film gedreht "Die 120 Tage von Bottrop", der letzte neue deutsche Film. Das ist genau hier eigentlich in der Landschaft gedreht, wo jetzt dieses Potsdamer Einkaufscenter ist und wo alles also schön jetzt gerade gemacht wurde. Da war noch dieses riesige Loch, und da unten hat dann Volker Spengler mit Martin Wuttke den letzten neuen deutschen Film eigentlich vertreten. Und ganz hinten sah man das Weinhaus Huth. Ich habe damals aufgehört zu Filmen, weil es wirklich mit den Anträgen bei der Filmförderung immer schwieriger wurde. Und es war dann so, dass die kulturelle Filmförderung abgeschafft werden sollte, das spürte man schon damals. Es gab zwar auch noch Widerstände, da war ich auch dran beteiligt, aber es hatte keine richtige Chance. Es sollte alles dann doch mehr dahin führen, dass man schon vor dem Film bei der Abgabe des Drehbuches weiß, wie eigentlich der Schluss ist oder auch, welchen Werbeträger man vielleicht dabei hat. Und diese Filmförderung, die dann entstanden ist, hat natürlich Filme hervorgebracht, die ich eigentlich überhaupt nicht gut finde, wo ich auch nichts mit zu tun haben will. Jetzt wandelt sich das Blatt, so allmählich kommen ja dann doch auch die großen Financiers auf die Idee, mal etwas anderes reinzubauen. Aber ich glaube, die Filme, die mir vorschweben und die ich auch eigentlich als ästhetisch interessant finde, weil sie was entwickeln, weil sie Dinge vielleicht anders betrachten, die vermisse ich jetzt auch natürlich im Wettbewerb. Also bis jetzt habe ich in der Richtung noch nichts gesehen. Aber die suche ich weiterhin, weil ich daran glaube. Und ich glaube auch daran, dass man junge Leute fördern muss, dass die Alten, die sollen sich dann hier meinetwegen auch finanziell absichern, aber die Jungen, die noch Abenteuer wollen, die brauchen kulturelle Filmförderung. Die müssen mit wenig Geld auch meinetwegen richtige große Spielfilme drehen, einfach ihr ganzes Bedürfnis rauslassen. Darum geht es jetzt.
Müller: Ich habe manchmal den Eindruck, dass diese Filme entsetzlich brav sind, also das, was Sie damals auch in sehr, sehr jungen Jahren bereits gemacht haben, ist ja etwas ganz anderes gewesen. Und wenn wir heute von einem jüngeren Regisseur zum Beispiel sprechen, dann meinen wir Hans-Christian Schmid, aber der ist auch schon 40, über 40. Also wo sind denn die 17-Jährigen? Sie haben mit 17 angefangen, Sie haben Ihren ersten Film mit 17 gemacht. Wo sind die, sehen Sie die irgendwo?
Schlingensief: Ja, es gibt ja eine wirkliche Überraschung, also ich kenne sie auch schon länger, das ist die Helene Hegemann, die jetzt den Film "Torpedo" gemacht hat. Der lief auf den Hofer Filmtagen, die für mich auch ganz wichtig waren. Das ist ein Festival, das war zwar familiär, aber in einer Familie gibt es auch böse Nachbarn oder böse Onkels. Die Helene ist jetzt dahin gekommen, hat ihren Film vorgeführt und gerät gerade wirklich zur Entdeckung, weil sie hat mit wenig Geld, mit sehr guten Freunden, mit sehr guten Schauspielern und sehr intelligent als 16-Jährige einen Film auf die Beine gestellt – eigentlich als 15-Jährige, jetzt ist sie 16 –, einen Film auf die Beine gestellt, der gerade auch den Blick der Jungen auf uns wieder – also ich bin jetzt auch schon älter. Jetzt kommen wir drin vor, jetzt werden wir auch mal angeguckt von der Seite usw. Ich halte sehr viel von ihr, ich hoffe, dass sie jetzt nicht versaut wird durch große Financiers, die sagen, jetzt soll sie doch mal einen richtigen Film machen. Das ist nämlich eigentlich ein richtigerer Film als die anderen richtigen Filme. Helene Hegemann wäre so eine Figur, die, hoffe ich, wird jetzt ein bisschen zu der Figur - es geht auch so. Und solche Filme brauchen wir, ja.
Müller: Sie haben eben gesagt, Sie sind jetzt wieder so ein bisschen zum Film zurückgekehrt, auch dadurch, dass Sie natürlich hier in der Jury sitzen bei der Berlinale. Andererseits haben Sie erst mal wieder einen Weg nach Afrika genommen, also das Afrika-Projekt ist etwas, was Sie offensichtlich natürlich sehr beschäftigt. Und da ist dann aber auch wieder von Oper die Rede, von einem Festspielhaus in Kamerun, ein unglaubliches Projekt. Wird denn da auch in irgendwelchen Zusammenhängen Film wieder stattfinden, oder ist das wieder ganz weit weg von Film?
Schlingensief: Nein, gar nicht. Also das ist sogar eher die Idee, so wie der Gaston Kaboré, der jetzt mit mir in der Jury sitzt, der hat eine Filmhochschule in Burkina Faso gegründet. Der unterrichtet, der sucht sich alte Schneidetische, was weiß ich zusammen, und es gibt da eine gepflegte Filmlandschaft und das größte pan-afrikanische Filmfestival, das alle zwei Jahre stattfindet. Also da gibt es ja tatsächlich Beweggründe, und sich vielleicht sogar gerade da hinbewegen, also da, wo dann auch mit einfacheren Kameras gearbeitet wird, wo wirklich vielleicht so eine Art Cinema Verité wiederkommt, also eine Kamera, die auf der Schulter durchrennt und keine zehn Regeln braucht wie Dogma-Filme, um dann frei zu sein, daran glaube ich auch nicht. Ich will – das Opernhaus – ist jetzt so ein großes Wort, ich sehe das mehr als Probebühne, als Ministudio an, ich sehe das als ein Krankenhaus mit einer Pension, mit Hoteleinrichtung, wo man also übernachten kann. Und da kommen sowohl Theaterleute hin als auch junge Leute, die ein Stipendium haben, nach der Malerei oder nach der Filmhochschule, die dann dort unten nicht eine Woche sind, zwei Wochen, um nur zu sagen, wer sie sind, sondern auch mal zu erfahren, wer andere sind. Und dann in Afrika Filme drehen, ist hoch spannend, ich habe das selber schon zweimal gemacht. Einmal dann nachher wirklich mit Super-Abenteuern, mit Geheimdienst und Festnahmen. Udo Kier war im Gefängnis, ich war draußen. Er war da im Gefängnis, dann war ich wieder draußen. Ein Botschafter, der die Lufthansa-Maschine aufgehalten hat, indem er sich vor den Reifen gelegt hat. Also wir waren da sehr abenteuerlich zugange. Der Film war nicht so gut wie die Abenteuer drumherum. Das habe ich mittlerweile gelernt. Jetzt kommt es auch auf das Drumherum an. Und ich glaube, das wird auch wieder im Zentrum mit dem Filmtheater Kunst alles zusammenfließen.
Müller: Nun ist ja Afrika, da sind wir uns inzwischen alle einig, die Wege der Zivilisation, wenn man so will, nämlich dort kommen wir alle her. Gehen wir alle wieder dorthin?
Schlingensief: Wir können ganz sicher ganz viel davon lernen. Da bin ich so von überzeugt, weil als wir länger da waren, da habe ich plötzlich auch nach meiner Partei 1998 ja keine Angst mehr gehabt, also ich konnte in jedes Mikrofon reden, über jedes Thema, das, was also jeder Politiker wirklich als Fluch über sich hat. Er kann labern, was er will, er ist immer irgendwie in der Kamera. Er kann Gerechtigkeit brüllen, man glaubt ihm oder glaubt ihm nicht, ist auch wurscht. Das ist eben nachher angstfreie Zone. Man hat vielleicht Angst, dass man nicht mehr gewählt wird, aber vier Jahre hat man wieder gemütliches Zusammensitzen. Und ich habe damals die Angst gesucht, und ich habe sie in Afrika in mir selber wiedergefunden, weil man kommt da an, man fühlt sich geborgen, man weiß auch um die Gefahren, und man weiß auch, dass man da eigentlich gar nicht so richtig hingehört. Also man hat vieles verschüttet. Und wenn man dann hier in diesem Land meckert und immer stöhnt, was alles nicht geht und so weiter und dann mal da unten war, dann merkt man, was wir uns hier für einen Luxus leisten auf Kosten wieder dieser Leute.
Müller: Es gibt aber auch nicht wenige, die gerade dort Erlösung suchen, also dass uns diese Menschen dort uns Reichen im Norden verzeihen mögen und uns, ja, segnen mögen, gibt es ja auch.
Schlingensief: Also ich würde nicht ausschließen, dass man da Leute findet, die plötzlich den "Ich helfe"-Wahn jetzt bekommen. Aber ich möchte einen Austausch. Also ich denke, es ist eben wichtig, dass das hier zu einer – wir haben jetzt gesagt – Infektion kommt, aber im positivsten Sinne. Junge Leute, die also plötzlich einfach gierig werden nach Entdeckungsreisen, wieder so'n jungen Humboldt, der kam auch mit Regenwürmern nach Deutschland zurück, und da haben alle gesagt: Ach ja, haben wir auch hier. Aber als er den Koffer aufmachte, war man sehr erstaunt, wie hässlich und wie eklig die waren, aber wie toll die aussahen. Also gibt es auch noch woanders Regenwürmer. Bayreuth, auch der Wagner selber, hat bei Afrika eigentlich geklaut. Die Kundry, die wird als dunkelbraune Körper-, Gesichtsfarbe beschrieben, die einen Fuß langen, darüber hinausragenden Schlangenrock getragen hat. Die europäische Schlange geht also meist nur bis zum Knie, die afrikanische darüber hinaus. Das habe ich Wolfgang Wagner beibringen können damals in Bayreuth, worauf er dann sagte: Machen Sie doch, was Sie wollen! Und ich hatte die Genehmigung, dass also die Kundry jetzt auch eine Afrikanerin werden wird. Man kann da viel lernen, wenn man nur um dieses eigene Gefühl von "Ich will helfen, ich will helfen", also sagen wir mal, die ganzen Stars, die unten ihre Kinderheime eröffnen oder drei Häuschen bauen, sich viel für die Zeitungen dann fotografieren lassen und wieder abreisen, darum geht es nicht. Es geht auch darum, die Afrikaner dann hierhin zu holen und hier im Theater Sachen machen zu lassen, ihre Art des Denkens hier einzubringen, gleichzeitig sich selber unten zu überprüfen. Und dieser Austausch, der wird Rhizom-Qualität haben, das heißt, es wird wachsen. Und das bedarf dann auch nicht einer einzelnen Person, die sich in der Zeitung wohlfühlt nachher als Retter der Nation oder Afrikas, sondern das ist ein System, das jetzt langsam als Rhizom wie ein Pils überall wächst. Und darauf setze ich und darauf hoffe ich und ich glaube, das wird klappen.
Christoph Schlingensief: Ich habe aber hier eigentlich mit einem Desaster begonnen, das war 1986 mit dem Film "Menu Total", in dem Helge Schneider mitspielte, der damals noch gar nicht bekannt war, und auch Alfred Edel als Cuca, als Frau, der sich zu Tode übergab, also immer wieder auskotzen musste die ganze Geschichte, und Kuhlbrodt. Und dieser Film kam ja miserabel an. Das waren 800 Zuschauer beim Start der Vorführung, und nach der Vorstellung waren es noch 400. Und in diesen 400 gab es dann noch zehn Leute, die sich geprügelt haben. Mein Vater heulte, meine Patentante fand es toll. Eva M. J. Schmidt, die Kritikerin damals, die fand es auch klasse. Werner Nekes, mein Lehrmeister, fand es faschistoid. Es war furchtbar. Und dann habe ich noch mit meiner Freundin Schluss gemacht, habe dann Tilda kennengelernt auf demselben Festival, die gerade "Caravaggio" hier hatte. Und Tilda Swinton und ich sind dann da nach 24 Stunden ein Paar gewesen und sind das auch einige Monate geblieben und haben auch zusammen dann einen Film gedreht: "Egomania" mit Udo Kier und Tilda Swinton auf einer Hallig in der Nordsee. Also sehr stürmische Landschaften, muss ich sagen. Und jetzt in der Jury zu sitzen, ist natürlich schon ein toller Sprung, den ich sehr genieße, zumal ich auch mit Filmen ja weniger zu tun hatte in der letzten Zeit. Bin vom Film kommend dann zum Theater, dann zur Oper und jetzt eben wieder beim Film, und das tut mir sehr gut, weil ich das doch unglaublich liebe und auch eine Basis meiner Arbeit ist.
Müller: Ja, ich war damals ein wenig und mit vielen anderen auch enttäuscht, dass Sie mehr oder weniger aufhörten, Filme zu machen. Das war ja die unmittelbare Nach-Wendezeit. War Film nicht mehr schnell genug, um auf das zu reagieren, was damals passierte im Land?
Schlingensief: Es war so, dass es nachher wirklich anfing, da haben wir den Film gedreht "Die 120 Tage von Bottrop", der letzte neue deutsche Film. Das ist genau hier eigentlich in der Landschaft gedreht, wo jetzt dieses Potsdamer Einkaufscenter ist und wo alles also schön jetzt gerade gemacht wurde. Da war noch dieses riesige Loch, und da unten hat dann Volker Spengler mit Martin Wuttke den letzten neuen deutschen Film eigentlich vertreten. Und ganz hinten sah man das Weinhaus Huth. Ich habe damals aufgehört zu Filmen, weil es wirklich mit den Anträgen bei der Filmförderung immer schwieriger wurde. Und es war dann so, dass die kulturelle Filmförderung abgeschafft werden sollte, das spürte man schon damals. Es gab zwar auch noch Widerstände, da war ich auch dran beteiligt, aber es hatte keine richtige Chance. Es sollte alles dann doch mehr dahin führen, dass man schon vor dem Film bei der Abgabe des Drehbuches weiß, wie eigentlich der Schluss ist oder auch, welchen Werbeträger man vielleicht dabei hat. Und diese Filmförderung, die dann entstanden ist, hat natürlich Filme hervorgebracht, die ich eigentlich überhaupt nicht gut finde, wo ich auch nichts mit zu tun haben will. Jetzt wandelt sich das Blatt, so allmählich kommen ja dann doch auch die großen Financiers auf die Idee, mal etwas anderes reinzubauen. Aber ich glaube, die Filme, die mir vorschweben und die ich auch eigentlich als ästhetisch interessant finde, weil sie was entwickeln, weil sie Dinge vielleicht anders betrachten, die vermisse ich jetzt auch natürlich im Wettbewerb. Also bis jetzt habe ich in der Richtung noch nichts gesehen. Aber die suche ich weiterhin, weil ich daran glaube. Und ich glaube auch daran, dass man junge Leute fördern muss, dass die Alten, die sollen sich dann hier meinetwegen auch finanziell absichern, aber die Jungen, die noch Abenteuer wollen, die brauchen kulturelle Filmförderung. Die müssen mit wenig Geld auch meinetwegen richtige große Spielfilme drehen, einfach ihr ganzes Bedürfnis rauslassen. Darum geht es jetzt.
Müller: Ich habe manchmal den Eindruck, dass diese Filme entsetzlich brav sind, also das, was Sie damals auch in sehr, sehr jungen Jahren bereits gemacht haben, ist ja etwas ganz anderes gewesen. Und wenn wir heute von einem jüngeren Regisseur zum Beispiel sprechen, dann meinen wir Hans-Christian Schmid, aber der ist auch schon 40, über 40. Also wo sind denn die 17-Jährigen? Sie haben mit 17 angefangen, Sie haben Ihren ersten Film mit 17 gemacht. Wo sind die, sehen Sie die irgendwo?
Schlingensief: Ja, es gibt ja eine wirkliche Überraschung, also ich kenne sie auch schon länger, das ist die Helene Hegemann, die jetzt den Film "Torpedo" gemacht hat. Der lief auf den Hofer Filmtagen, die für mich auch ganz wichtig waren. Das ist ein Festival, das war zwar familiär, aber in einer Familie gibt es auch böse Nachbarn oder böse Onkels. Die Helene ist jetzt dahin gekommen, hat ihren Film vorgeführt und gerät gerade wirklich zur Entdeckung, weil sie hat mit wenig Geld, mit sehr guten Freunden, mit sehr guten Schauspielern und sehr intelligent als 16-Jährige einen Film auf die Beine gestellt – eigentlich als 15-Jährige, jetzt ist sie 16 –, einen Film auf die Beine gestellt, der gerade auch den Blick der Jungen auf uns wieder – also ich bin jetzt auch schon älter. Jetzt kommen wir drin vor, jetzt werden wir auch mal angeguckt von der Seite usw. Ich halte sehr viel von ihr, ich hoffe, dass sie jetzt nicht versaut wird durch große Financiers, die sagen, jetzt soll sie doch mal einen richtigen Film machen. Das ist nämlich eigentlich ein richtigerer Film als die anderen richtigen Filme. Helene Hegemann wäre so eine Figur, die, hoffe ich, wird jetzt ein bisschen zu der Figur - es geht auch so. Und solche Filme brauchen wir, ja.
Müller: Sie haben eben gesagt, Sie sind jetzt wieder so ein bisschen zum Film zurückgekehrt, auch dadurch, dass Sie natürlich hier in der Jury sitzen bei der Berlinale. Andererseits haben Sie erst mal wieder einen Weg nach Afrika genommen, also das Afrika-Projekt ist etwas, was Sie offensichtlich natürlich sehr beschäftigt. Und da ist dann aber auch wieder von Oper die Rede, von einem Festspielhaus in Kamerun, ein unglaubliches Projekt. Wird denn da auch in irgendwelchen Zusammenhängen Film wieder stattfinden, oder ist das wieder ganz weit weg von Film?
Schlingensief: Nein, gar nicht. Also das ist sogar eher die Idee, so wie der Gaston Kaboré, der jetzt mit mir in der Jury sitzt, der hat eine Filmhochschule in Burkina Faso gegründet. Der unterrichtet, der sucht sich alte Schneidetische, was weiß ich zusammen, und es gibt da eine gepflegte Filmlandschaft und das größte pan-afrikanische Filmfestival, das alle zwei Jahre stattfindet. Also da gibt es ja tatsächlich Beweggründe, und sich vielleicht sogar gerade da hinbewegen, also da, wo dann auch mit einfacheren Kameras gearbeitet wird, wo wirklich vielleicht so eine Art Cinema Verité wiederkommt, also eine Kamera, die auf der Schulter durchrennt und keine zehn Regeln braucht wie Dogma-Filme, um dann frei zu sein, daran glaube ich auch nicht. Ich will – das Opernhaus – ist jetzt so ein großes Wort, ich sehe das mehr als Probebühne, als Ministudio an, ich sehe das als ein Krankenhaus mit einer Pension, mit Hoteleinrichtung, wo man also übernachten kann. Und da kommen sowohl Theaterleute hin als auch junge Leute, die ein Stipendium haben, nach der Malerei oder nach der Filmhochschule, die dann dort unten nicht eine Woche sind, zwei Wochen, um nur zu sagen, wer sie sind, sondern auch mal zu erfahren, wer andere sind. Und dann in Afrika Filme drehen, ist hoch spannend, ich habe das selber schon zweimal gemacht. Einmal dann nachher wirklich mit Super-Abenteuern, mit Geheimdienst und Festnahmen. Udo Kier war im Gefängnis, ich war draußen. Er war da im Gefängnis, dann war ich wieder draußen. Ein Botschafter, der die Lufthansa-Maschine aufgehalten hat, indem er sich vor den Reifen gelegt hat. Also wir waren da sehr abenteuerlich zugange. Der Film war nicht so gut wie die Abenteuer drumherum. Das habe ich mittlerweile gelernt. Jetzt kommt es auch auf das Drumherum an. Und ich glaube, das wird auch wieder im Zentrum mit dem Filmtheater Kunst alles zusammenfließen.
Müller: Nun ist ja Afrika, da sind wir uns inzwischen alle einig, die Wege der Zivilisation, wenn man so will, nämlich dort kommen wir alle her. Gehen wir alle wieder dorthin?
Schlingensief: Wir können ganz sicher ganz viel davon lernen. Da bin ich so von überzeugt, weil als wir länger da waren, da habe ich plötzlich auch nach meiner Partei 1998 ja keine Angst mehr gehabt, also ich konnte in jedes Mikrofon reden, über jedes Thema, das, was also jeder Politiker wirklich als Fluch über sich hat. Er kann labern, was er will, er ist immer irgendwie in der Kamera. Er kann Gerechtigkeit brüllen, man glaubt ihm oder glaubt ihm nicht, ist auch wurscht. Das ist eben nachher angstfreie Zone. Man hat vielleicht Angst, dass man nicht mehr gewählt wird, aber vier Jahre hat man wieder gemütliches Zusammensitzen. Und ich habe damals die Angst gesucht, und ich habe sie in Afrika in mir selber wiedergefunden, weil man kommt da an, man fühlt sich geborgen, man weiß auch um die Gefahren, und man weiß auch, dass man da eigentlich gar nicht so richtig hingehört. Also man hat vieles verschüttet. Und wenn man dann hier in diesem Land meckert und immer stöhnt, was alles nicht geht und so weiter und dann mal da unten war, dann merkt man, was wir uns hier für einen Luxus leisten auf Kosten wieder dieser Leute.
Müller: Es gibt aber auch nicht wenige, die gerade dort Erlösung suchen, also dass uns diese Menschen dort uns Reichen im Norden verzeihen mögen und uns, ja, segnen mögen, gibt es ja auch.
Schlingensief: Also ich würde nicht ausschließen, dass man da Leute findet, die plötzlich den "Ich helfe"-Wahn jetzt bekommen. Aber ich möchte einen Austausch. Also ich denke, es ist eben wichtig, dass das hier zu einer – wir haben jetzt gesagt – Infektion kommt, aber im positivsten Sinne. Junge Leute, die also plötzlich einfach gierig werden nach Entdeckungsreisen, wieder so'n jungen Humboldt, der kam auch mit Regenwürmern nach Deutschland zurück, und da haben alle gesagt: Ach ja, haben wir auch hier. Aber als er den Koffer aufmachte, war man sehr erstaunt, wie hässlich und wie eklig die waren, aber wie toll die aussahen. Also gibt es auch noch woanders Regenwürmer. Bayreuth, auch der Wagner selber, hat bei Afrika eigentlich geklaut. Die Kundry, die wird als dunkelbraune Körper-, Gesichtsfarbe beschrieben, die einen Fuß langen, darüber hinausragenden Schlangenrock getragen hat. Die europäische Schlange geht also meist nur bis zum Knie, die afrikanische darüber hinaus. Das habe ich Wolfgang Wagner beibringen können damals in Bayreuth, worauf er dann sagte: Machen Sie doch, was Sie wollen! Und ich hatte die Genehmigung, dass also die Kundry jetzt auch eine Afrikanerin werden wird. Man kann da viel lernen, wenn man nur um dieses eigene Gefühl von "Ich will helfen, ich will helfen", also sagen wir mal, die ganzen Stars, die unten ihre Kinderheime eröffnen oder drei Häuschen bauen, sich viel für die Zeitungen dann fotografieren lassen und wieder abreisen, darum geht es nicht. Es geht auch darum, die Afrikaner dann hierhin zu holen und hier im Theater Sachen machen zu lassen, ihre Art des Denkens hier einzubringen, gleichzeitig sich selber unten zu überprüfen. Und dieser Austausch, der wird Rhizom-Qualität haben, das heißt, es wird wachsen. Und das bedarf dann auch nicht einer einzelnen Person, die sich in der Zeitung wohlfühlt nachher als Retter der Nation oder Afrikas, sondern das ist ein System, das jetzt langsam als Rhizom wie ein Pils überall wächst. Und darauf setze ich und darauf hoffe ich und ich glaube, das wird klappen.