Aktuell sollen etwa 300 Menschen bei den Protesten im Iran ums Leben gekommen sein, darunter 46 Minderjährige, sagt Karin Senz unter Bezug auf Menschenrechtsorganisationen im „Weltzeit“-Interview. Etwa 15.000 Menschen seien festgenommen worden. Unter den Protestierenden und vor allem unter den Festgenommenen seien extrem viele unter 18-Jährige. Die Ersten am Protest Beteiligten stünden jetzt vor Gericht. Eine Verurteilung zum Tod sei durchaus möglich, so die Korrespondentin, die derzeit mangels Visum nur aus Istanbul über den Iran berichten kann.
Irans Zukunft
Herrscht im Iran seit über 30 Jahren: Ayatollah Ali Khamenei, oberster Führer auf Lebenszeit - oder doch nicht? © Getty Images / Majid Saeedi
Werden die Mullahs stürzen?
22:47 Minuten
Bei den Protesten im Iran ging es zunächst um den Kopftuchzwang für Frauen und deren Unterdrückung. Daraus ist eine landesweite Protestbewegung geworden. Ist ihr Ziel Reform oder Revolution? Als sicher gilt, dass es nicht so weiter geht wie bisher.
Ein Regierungssprecher wendet sich in einer iranischen Universität an Studentinnen, doch sie schreien ihn nieder. Sie wollen nichts hören von einem System, das ihnen eine Mitstudierende genommen hat - eine junge Frau, zu Tode geprügelt, mutmaßen viele.
Die Behörden haben immer andere Erklärungen, reden von Alkoholvergiftung, Suizid oder Unfall. Die jungen Frauen glauben ihnen kein Wort.
Immer zorniger und entschlossener werden sie seit dem Tod Mahsa Aminis im September. Musste sie wirklich sterben, weil ihr Kopftuch nicht richtig saß? Es sind die Frauen, die eine Protestbewegung im ganzen Land lostreten - ihre Kopftücher ausziehen.
Beim Kopftuch kann der Staat nicht nachgeben
Das Tuch wird zum Symbol der Proteste - gegen Unterdrückung, für Freiheit. Irans Präsident Ebrahim Raisi deutet später an, man könne ja mal über Gesetze reden, die vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit seien. Doch beim Kopftuch kann der Staat nicht nachgeben, ist sich der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze von der Universität Bern sicher.
„Da hat sich ja das ganze System verrannt, weil es sich so stark auf das Kopftuch konzentriert hat und die Kopfbedeckung der Frau zu einer Art von politischem Signal des Systems erkoren hat, dass es kaum noch mehr davon zurückweichen kann", meint er.
"Es kann zwar sagen, dass also die Ahndung, das Kopftuch nicht zu tragen, nicht mehr so stark wird, das heißt, es kann so pseudoreformatorische Schritte unternehmen, aber es hat sich so in eine Situation hineinmanövriert, dass wenn es jetzt auf die Pflicht, das Kopftuch zu tragen, verzichten würde, es gleichzeitig signalisieren würde: ,Die Islamische Republik ist am Ende'.“
Das sagen die Vertreter des Regimes natürlich nicht. Doch offenbar lässt sie die Furcht davor, unterzugehen, unerbittlich sein. Mindestens 150 Menschen sind bei den Demonstrationen im Iran getötet worden, bisher, die Menschenrechtsorganisation Amnesty International geht sogar von weit mehr aus.
Die Forderung von Frauenrechten, der Abschaffung von Bekleidungsvorschriften und anderen diskriminierenden Gesetzen sind das Herz des Aufstands gegen das islamische System.
Dennoch gewinnt die Protestbewegung über Wochen weiter an Stärke, auch, weil sie anders ist als frühere, glaubt Raha Bahreini von Amnesty.
"Dieses Mal geht es bei den Protesten sehr stark um Bürgerrechte, weil sie sich entzündet haben am Fall Mahsa Aminis. Und die Forderung von Frauenrechten, der Abschaffung von Bekleidungsvorschriften und anderen diskriminierenden Gesetzen sind das Herz des Aufstands gegen das islamische System."
Dem Mullah den Turban vom Kopf stoßen
Also geht es gar nicht mehr um Reformen, sondern um das große Ganze, einen neuen Staat, ein anderes System, um die Überwindung des Alten? Ja, sagt der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad schon vor Wochen in den "Tagesthemen".
„Wir haben es zweifelsohne mit einem revolutionären Prozess im Iran zu tun.“
Der Charakter der Proteste wird immer mehr zu einer Art Kulturrevolution, nicht im Sinne der alten chinesischen Kulturrevolution, sondern zu einer Revolution gegen die Staatskultur, die das ganze System bislang getragen hat.
Es habe sich eine alltägliche Protestkultur entwickelt, meint Islamwissenschaftler Schulze. Sie äußere sich nicht nur in den Demonstrationen auf den Straßen, sondern auch in kleinen Aktionen. Zum Beispiel, wenn Vorbeigehende einem Mullah den Turban vom Kopf stoßen.
„Das zeigt, dass der Charakter der Proteste immer mehr zu einer Art Kulturrevolution wird, nicht im Sinne der alten chinesischen Kulturrevolution, sondern zu einer Revolution gegen die Staatskultur, die das ganze System bislang getragen hat.“
Aufstand gegen das islamische System, revolutionärer Prozess, Kulturrevolution oder einfach nur "Revolution"?
Der amerikanisch-iranische Journalist und Irankenner Borzou Daragahi will sich nicht festlegen. Er warnt vielmehr vor zu großen Erwartungen.
"Wir werden sehen, ob es eine Revolution ist oder nicht. Bei dem, was im Iran passiert, gibt es definitiv einige revolutionäre Strömungen und Unterströmungen. Wir sollten aber Revolutionen nicht romantisieren. In den vergangenen 12, 13 Jahren gab es im Nahen Osten keine Revolution mit gutem Ausgang."
Angst vor weiterem Blutvergießen
Auch jetzt im Iran ist längst nicht ausgemacht, ob es einen Umbruch geben wird. Immer neue Berichte von massiver Polizeigewalt, Schüssen und Toten lassen daran zweifeln. Das Regime hat schon einmal gezeigt, wozu es fähig ist, erinnert Raha Bahreini von Amnesty International an die Niederschlagung der Proteste im Iran Ende 2019.
Damals kam es wegen stark gestiegener Spritpreise landesweit zu Ausschreitungen. Mehr als 1000 Menschen sollen getötet worden sein. Es sei nicht ausgeschlossen, dass so etwas wieder passiert.
„Das Ausmaß des Blutvergießens ist schon jetzt entsetzlich. Innerhalb weniger Wochen sind mehr als 150 Menschen getötet worden, darunter auch Kinder. Unter den Sicherheitskräften waren Bereitschaftspolizisten, aber auch paramilitärische Basidsch-Milizen und Kräfte der Revolutionsgarde dabei", sagt sie.
"2019 haben sie innerhalb von etwa 48 Stunden Hunderte Menschen getötet. Daher sorgen wir uns, dass sie auch jetzt noch mehr Sicherheitskräfte mobilisieren und es zu noch größerem Blutvergießen kommt.“
"Revolutionsverhalten mit viel Verzweiflung"
Zugleich geben sich die Protestierenden entschlossener denn je. Immer mehr seien bereit, alles zu geben, bis hin zu ihrem eigenen Leben. So berichtet es ein Europäer, der seit Jahrzehnten im Iran lebt. Aus Sicherheitsgründen will er anonym bleiben.
„Da stellen sich Leute hin und sagen: ,Du kannst mich ja totschlagen, aber ich geh nicht zur Seite'. Das ist schon ein - sagen wir mal - ,Revolutionsverhalten', was sehr viel Verzweiflung zeigt.“
Verzweiflung, die offenbar mutig macht. Die Menschen wollten nun endlich etwas ändern. Sie hätten Hoffnung, dass es gelingt. Diese Hoffnung sei trotz der Widerstände des Systems nicht gestorben. Menschen, bei denen das so ist, begegneten ihm immer wieder im Iran.
„Ich kenne jemanden, der bei früheren Unruhen verhaftet wurde und zwei Jahre im Gefängnis war. Dann wurde er aus medizinischen Gründen vorzeitig entlassen. Ich war erstaunt, ihn zu sehen: Man hatte ihm zwar die Beine gebrochen, aber nicht seinen Willen.“
Verzweiflung, Mut, Hoffnung und Willen verbindet auch Menschen in Luristan im kurdischen Nordwesten des Iran. An ihrem 40. Todestag gedenken sie Nika Schakaramis.
Die Jugendliche soll von einem Gebäude in den Tod gestürzt sein, behauptet die Polizei. Ihre Mutter ist sich sicher, dass sie an Schlägen auf den Kopf gestorben ist.
Was sind die Pläne für eine "Zeit danach"?
Sie singen "Mama, es ist Zeit für den Krieg". Doch was passiert, wenn das Regime sich geschlagen geben sollte? Welchen Plan haben die Protestierenden von heute für eine "Zeit danach"? Zumindest sind sie sich noch nicht einig, beobachtet Islamwissenschaftler Schulze.
Wie auch immer es im Iran weitergeht: Sollten die Protestierenden das Regime stürzen, irgendjemand müsste den Übergang organisieren. Eine solche Figur könnte der Aktivist Hamed Esmaeilion sein. Er lebt in Kanada. Kürzlich hielt er auf einer Demonstration in Berlin zur Unterstützung der Proteste im Iran eine Rede.
„Wir alle haben einen Traum. In diesem Traum werden Gefangene nicht in drei Minuten zum Tode verurteilt. In diesem Traum legen Henker Schriftstellern und Dichtern keine Schlingen um den Hals. In diesem Traum wagt es niemand, Minderheiten zu unterdrücken. Niemand wagt es, einen Arbeiter zu bestrafen, zu inhaftieren oder zu foltern und zu töten, weil er bloggt oder seine Meinung sagt.“
Minutenlang redet Esmaeilion, immer wieder unterbrochen von Applaus. Er ist einer, der es vielleicht könnte, der zumindest im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehe, sagt Schulze.
Aber es gebe etliche andere Iraner, vor allem in den USA und Kanada, die sagten, die Zukunft des Iran sei nicht an nur eine Person zu knüpfen.
Noch keine Erfolgsgarantie für die Protestierenden
Oder wenn schon, dann an eine andere, sagen Monarchisten, Anhänger des 1979 gestürzten Schahs. Dessen Sohn Rezah II. zum Beispiel. Die Monarchisten sind nur eine Gruppe, die eine Idee von einem anderen Iran hat. Es gebe weitere, die konkrete Ideen hätten, wie „die starke Fraktion von republikanischen Gruppen und Gemeinschaften, die die islamische Ordnung ersetzen wollen durch eine rechtsstaatliche, bürgerliche Ordnung, die sehr stark integrativ ist und nicht mehr auf einer Nationalität mehr aufbaut", so Schulze.
"Und dann gibt es natürlich noch sehr viele nationalistische Kreise, die eine starke zentralistische Republik haben wollen, die die Islamische Republik ersetzt sehen wollen durch eine fast schon zentralistische Machtordnung iranischer Nationalisten.“
Für den Moment bleibt das aber nur Zukunftsmusik. Ein Erfolg der Protestierenden, Demonstrierenden oder tatsächlich Revolutionäre ist nicht ausgemacht.
Nach meiner Einschätzung überwiegt die Hoffnung.
Millionen Menschen müssten auf die Straße gehen, meint der amerikanisch-iranische Journalist Daragahi. Und es müssten sich Risse zeigen in der politischen Elite - und Abweichler im Militär. Das sei aber nicht erkennbar. Gerade das Militär schätzt Islamwissenschaftler Schulze jedoch anders ein.
„Es zeigt sich auch schon, dass innerhalb des regulären Militärs, also nicht der Militärordnung der Revolutionsgarde, schon so etwas wie ein Widerstand gegen die Islamische Republik entsteht, dass also auch dort so etwas wie eine Protesthaltung sich einzunisten beginnt, weil das Militär nicht unbedingt als Lückenbüßer für das ganze Problem dastehen möchte.“
"Die Hoffnung überwiegt"
Tatsächlich rechneten einige mit einem Militärputsch, meint auch der Europäer, der seit Jahrzehnten im Iran lebt und anonym bleiben möchte. Er höre das von vielen in seinem Umfeld. Und von nahezu allen höre er, dass, fast schon egal wie, sich auf jeden Fall etwas ändern müsse, denn: „Sie befürchten, dass das alles umsonst sein könnte. Opfer, eine große Zahl von Opfern, am Ende für nichts. Aber, nach meiner Einschätzung, überwiegt die Hoffnung.“