Stuttgart 21, 22, 23 …

Von Michael Brandt |
Wie teuer wird der Bahnhof wirklich? Und wird er überhaupt gebaut? Nichts ist klar bei Stuttgart 21. Die Bundesregierung geht davon, dass das Bauprojekt erst 2024 fertig wird – wenn es nicht doch noch platzt.
Bürger: "Baden-Württemberg braucht Stuttgart 21."

Merkel: "Es ist vollkommen legitim, dass Menschen auch dagegen protestieren, aber es ist auch wichtig, dass das, was wir versprochen haben, durchsetzen."

Bürger: "Dieses Papier zeigt eindeutig, dass wir seit Wochen und seit Monaten recht gehabt haben. Die Leute gehen weiterhin auf die Straße. Deshalb gibt es für uns keinen Anlass, wegen der Kostensteigerung an der Sinnhaftigkeit des Verkehrsprojektes Projektes Stuttgart 21 zu zweifeln."

Kretschmann: "Es muss klar sein, dass das Projekt durchfinanziert ist. Ich bin nicht bereit, das Risiko eines Debakels und Desasters einzugehen, wie es in Berlin beim Flughafen der Fall ist."

Stuttgart 21 vor der Vollbremsung? Nachdem nun auch im Bund und im Bahn-Aufsichtsrat Zweifel an der Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs laut geworden sind, sind die Bahnhofsgegner noch lauter.

Es ist die 160. Montagsdemo vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Seit mehr als drei Jahren protestieren die Bahnhofsgegner. Und auch wenn es zwischenzeitlich nur einige Hundert waren, an diesem Abend sind es trotz eisiger Temperaturen wieder weit über 1000. Sie sind der festen Überzeugung, dass ihre Argumente gegen Stuttgart 21 die richtigen sind.

Bürger: "Also die Argumente haben sich bestätigt und ich frage mich, warum die Politik so langsam darauf reagiert. / Klar fühle ich mich bestätigt, weil wir erzählen das ja schon die ganze Zeit, es war ja schon vor der Volksabstimmung, dass wir gesagt haben, das wird teurer, es ist nur Verdummung von den Leuten hier. / Der Widerstand ist sehr stark, er hatte die Gefahr, dass er nachlässt, aber jede Woche wurde immer was Neues bekannt, was den Widerstand neu angeheizt hat, eins davon ist das Papier aus dem Ministerium.""

Das Papier aus dem Ministerium. Ein Vermerk aus dem Bundesverkehrsministerium, in dem erhebliche Zweifel an den Aussagen der Bahn zu Stuttgart 21 gesät werden. An den Aussagen über die voraussichtlichen Kosten des Projekts. Und an den Aussagen der Bahn zum Fertigstellungsdatum. Ursprünglich war von 2020 die Rede, nach den Verzögerungen durch Schlichtung und Stresstest ist von 2021 die Rede, aber laut Ministeriumspapier ist nicht damit zu rechnen, dass Stuttgart 21 vor 2024 fertig wird.
Durch das Papier sehen sich die Bahnhofsgegner bestätigt, ärgern tun sie sich über das, was sie im Schlossgarten gleich neben dem Bahnhofsgebäude sehen. Der Park wurde vor ziemlich genau einem Jahr geräumt und anschließend wurden über 150 Bäume gefällt.

Bürger: ""Die haben ja noch keinen Meter Tunnel gegraben, die haben bis jetzt eigentlich nur abgerissen und zerstört. Das war ja total unnötig, das war für mich nur eine Machtdemonstration der Oberen, das war völlig unnötig. Da ist ja bis heute nichts passiert."

Die Bahnhofsgegner sind sauer, denn aus heutiger Perspektive war die Räumung des Schlossgartens, das Fällen der Bäume und der Abriss des Bahnhofssüdflügels vor einem Jahr nicht nur verfrüht, sondern möglicherweise auch völlig unnötig – in dem Fall, dass der Bund aus der Finanzierung aussteigt und das Projekt beerdigt wird.

Was Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen und Wortführer der Bahnhofsgegner in der Schlichtung, inzwischen für durchaus möglich hält. Er stellt fest:

"Das Projekt Stuttgart 21 ist technisch und finanziell nicht beherrschbar. Es kann gar nicht zu Ende gebaut werden, wie es vorgesehen ist. Das war unsere Kritik in der Schlichtung. Das ist damals abgetan worden als Schwarzseherei. Und jetzt bestätigen die Dokumente aus dem Bundesverkehrsministerium, dass unsere Kritik und unsere Einschätzungen nahe an der Wahrheit war."
Rückblick auf den Sommer 2012. Damals war aus Sicht der Bahn noch alles gut, zumindest stellte sie es öffentlich so dar. In der Volksabstimmung hatte sich ein halbes Jahr zuvor eine überzeugende Mehrheit der Baden-Württemberger für den Bahnhofsbau ausgesprochen. Und Bahn-Technikvorstand Volker Kefer erklärte, dass der Kostendeckel von 4,5 Millionen gehalten werden könne. Alle rechneten damit, dass es jetzt bald losgeht mit der großen Baugrube im Schlossgarten, von der aus dann die Tunnel gebohrt werden sollen.

Viele Stuttgarter protestieren gegen den Beginn der Abrisss-Arbeiten am Bahnhof
Viele Stuttgarter protestieren gegen den Beginn der Abrisssarbeiten am Bahnhof, Februar 2010.© AP
Die Krise
Aber es kam anders. Zuerst musste die Bahn einräumen, dass es vermutlich noch etwas dauern wird, denn für das Grundwassermanagement der Baustelle war, wie sich nun herausstellte, ein neues, mehrmonatiges Planfeststellungsverfahren nötig. Und hier räumt auch Wolfgang Dietrich, der Projektsprecher von Stuttgart 21, ein, dass aus dieser Perspektive das Fällen der Bäume im Schlossgarten vor einem Jahr nicht nötig gewesen wäre.

Dietrich: "Wissen Sie, hinterher ist man immer klüger. Wenn wir damals gewusst hätten, dass wir die Verzögerung bekommen durch die 7. Planänderung zum Grundwassermanagement, wenn man das gewusst hätte, hätte man es sicherlich auch später machen können."

Und am 12. Dezember 2012 kam es dann aus Sicht der Bahn noch dicker. Sie musste einräumen, dass der Kostendeckel nicht gehalten werden kann. Bahnvorstand Volker Kefer:

"Wenn man sich die Prognosen anschaut und die Abschätzungen auf die Zukunft, die wir gemacht haben, dann reden wir von Kosten- bzw. Kalkulationsabweichungen von 1,1, Milliarden und von Risiken von 1,2 Milliarden. Und diese 1,1 Milliarden würden, wenn sie denn so eintreten würden, den heutigen Finanzierungsrahmen reißen."

Statt 4,5 Milliarden soll Stuttgart 21 nun also 6,8 Milliarden kosten. Eine Steigerung um fast 50 Prozent. Und das innerhalb von 3 Jahren, denn letzte Kalkulation stammt aus dem Jahr 2009.

Das Eingeständnis hatte eine ganze Reihe von Folgen.

Erstens vor Ort, wo der neue Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn von einer Vertrauenskrise bei Stuttgart 21 sprach, die auch einige Wochen später bei einem Treffen von Kuhn mit Kefer noch nicht beendet war.

Kuhn: "Die Vertrauenskrise bleibt bestehen, weil man das nicht in zwei Stunden ausräumen kann, sondern weil das ein langwieriger Prozess ist."

Zweitens bahninterne Folgen, wo nun der Aufsichtsrat entscheiden muss, ob er die gewünschten zusätzlichen 1,1 Milliarden für den Bahnhof frei gibt. Eine Folge davon war wiederum das Papier aus dem Bundesverkehrsministerium. Mit ihm sollten die Aufsichtsratsmitglieder, die der Bundesregierung angehören, für einen sogenannten Workshop mit der Bahn munitioniert werden sollten.

Zwar hat Verkehrsminister Peter Ramsauer selbst das Papier abgewertet und als ein Machwerk der untersten Ebene seines Hauses bezeichnet, aber widersprochen hat er dem Inhalt nicht. Ein Grund, warum Ramsauers baden-württembergischer Amtskollege Winfried Hermann von den Grünen den Inhalt ziemlich ernst nimmt.

Hermann: "Wir wissen seit diesen Veröffentlichungen, dass es doch auch beim Bahnaufsichtsrat und der Bundesregierung jetzt inzwischen erheblichen Ärger und erhebliche Zweifel gibt an diesem Projekt, an den Berechnungen und der Wirtschaftlichkeit. Und es gibt auch einen Ärger darüber, dass man sich nicht ausreichend, nicht umfassend vom Bahnvorstand informiert sieht."

Gegner des Bahnhofprojekts "Stuttgart 21" mit blutig geschminkten Augen stehen im Schlosspark in Stuttgart während der 46. Montagsdemonstration gegen das Bahnhofprojekt "Stuttgart 21".
Gegnerinnen des Bahnhofprojekts "Stuttgart 21" bei einer Demonstration© AP
Die grün-rote Landesregierung
Die grün-rote Landesregierung von Baden-.Württemberg ist beim Thema Stuttgart 21 jetzt erneut in einer schwierigen Situation. Zum einen treten die Spannungen zwischen den Bahnhofsgegnern und den Befürwortern in der Koalition wieder deutlicher zutage. SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel, der wortgewaltigste Befürworter des Tiefbahnhofs, etwa sagt:

"Wir nehmen zur Kenntnis, dass der Vorstand dem Aufsichtsrat vorschlägt, diese 1,1 Milliarden bei der Bahn zu verbuchen. Deshalb gibt es für uns keinen Anlass, an der Sinnhaftigkeit des Verkehrsprojekts zu zweifeln. Stuttgart 21 ist nach wie vor zukunftsorientiert für Stuttgart und Baden-Württemberg."

Der grüne Verkehrsminister und frühere Bahnhofsgegner Winfried Hermann hingegen erklärt, dass auch das Land seinen Finanzierungsanteil nicht in ein Loch ohne Boden werfen kann:

"Also klar ist, dass ich im Lenkungskreis und nach außen hin die Interessen des Landes wahren muss. Und dazu gehört, dass ich nicht die Gelder des Landes gebe für ein Projekt, das nicht durchfinanziert ist, nicht realisierbar ist."

Ministerpräsident Winfried Kretschmann schließlich verweist auf zwei Punkte, die nach seiner Überzeugung entscheidend für die Beteiligung des Landes Baden-Württemberg sind.

Kretschmann: "Für uns gilt das Ergebnis der Volksabstimmung. Wir eröffnen keine Ausstiegsdebatte."

Und zweitens: Das Land Baden-Württemberg zahlt für Stuttgart 21 die in den Finanzierungsverträgen vereinbarten 930 Millionen für den Bahnhof. Und mehr nicht.

Kretschmann: "Die Entscheidung, ob die Bahn die prognostizierten Mehrkosten trägt, liegt beim Aufsichtsrat. Bei dem liegt jetzt der Ball und nicht bei uns. Klar muss allerdings auch sein, dass das Projekt durchfinanziert ist. Ich bin nicht bereit, das Risiko eines Debakels und Desasters einzugehen, wie es in Berlin beim Flughafen der Fall ist."

Die Sprechklausel
Das ist die Sichtweise der Landesregierung, die auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Es gibt allerdings auch noch eine andere Sichtweise. Denn im Finanzierungsvertrag für Stuttgart 21 aus dem Jahr 2009 steht zwar, dass das Land Baden-Württemberg 930 Millionen der Kosten übernimmt. Aber es gibt auch eine sogenannte Sprechklausel. Und die besagt, dass die Vertragspartner, also Bahn, Land, Stadt Stuttgart, Region Stuttgart und Flughafen Stuttgart miteinander sprechen, wenn der verabredete Kostendeckel von 4,5 Millionen nicht hält.

Die Frage ist nun, was sprechen bedeutet. Für die Landesregierung sagt Verkehrsminister Hermann:

Hermann: "Aus unserer Sicht ist es so: Wir sind verpflichtet mit den anderen Projektpartnern zu sprechen, aber wir sind nicht verpflichtet, zu zahlen."

Die Bahn sieht das anders: Sprechen kann zumindest auch bedeuten, dass sich die Projektpartner einschließlich des Landes an Mehrkosten beteiligen müssen. Allerdings ist sich Bahnvorstand Kefer im Klaren darüber, dass über die Rechtsfolgen der Sprechklausel am Ende wohl Gerichte entscheiden müssen. Daher hat die Bahn bislang darauf verzichtet, die Klausel zu ziehen. Obwohl der Kostendeckel gesprengt ist.

Kefer: "Weil wir genau nicht die Sprechklausel als solche vor Gericht verhandeln wollten. Und dafür hat es zwei Gründe gegeben. Der eine Grund war, dass wir gesagt haben, eine solche gerichtliche Klärung würde Zeit erfordern und in dieser Zeit hätten wir dann tatsächlich – ich sage mal - eine Finanzierungsunsicherheit in dem Projekt. Und der zweite Grund ist, es würde auch nicht unbedingt zur Vertrauensbildung unter den Projektpartnern beitragen, wenn wir gleichzeitig versuchen würden, ein solches Projekt abzuwickeln und uns gegenseitig beklagen."

Diese Aussage bezieht sich auf die zusätzlichen 1,1 Milliarden, die die Bahn selbst übernehmen will. Sie bezieht sich aber nicht auf die darüber hinausgehenden 1,2 Milliarden Risiken, von den Volker Kefer ebenfalls gesprochen hat. Und sie bezieht sich auch nicht auf künftige Mehrkosten. Denn derzeit will niemand ausschließen, dass Stuttgart 21 im Laufe der über zahnjährigen Bauzeit nicht noch teurer wird.

Die Opposition
Die Position der Landesregierung zur Übernahme von Mehrkosten ist also eindeutig: Nein. Etwas anders sieht das bei der Opposition aus. In der Bundes-FDP etwa gibt es erste Stimme gegen Stuttgart 21 - wegen der Mehrkosten. Die Landespartei hingegen steht fest hinter dem Tiefbahnhof.

In der CDU sind zwar alle für den Bahnhofsbau, hier gibt es aber unterschiedliche Positionen zur Aufteilung der Mehrkosten. Die Landtagsfraktion lehnt die Beteiligung an Mehrkosten ab. Der Ludwigsburger Bundestagsabgeordnete Steffen Bilger hingegen plädiert dafür, dass sich auch das Land an daran beteiligt

Bilger: "Die Bahn ist jetzt vorangegangen, sie hat gesagt, sie ist bereit, hohe Kosten zu übernehmen, es gibt für den Flughafenbahnhof ein Angebot der Region Stuttgart, dafür zusätzliche Kosten zu übernehmen und jetzt sind eben auch die anderen Projektpartner gefragt."

Sein Bundestagskollege Thomas Bareiß aus Sigmaringen wirft der Landesregierung sogar vor, für die Verzögerungen beim Bahnhofsbau und die Kostensteigerung verantwortlich zu sein.

Bareiß: "Also man muss mal schauen, dass man diejenigen auch zur Rechenschaft zieht, die die Mehrkosten tragen müssten, diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass die Mehrkosten entstehen. Ich stelle fest, dass die Landesregierung alles daran setzt, das Projekt teurer zu machen. Es werden Fristen nicht eingehalten, es werden Termine verschoben."

Eine Aussage, die so nicht richtig ist. Selbst Projektsprecher Wolfgang Dietrich wirft der Landesregierung nicht vor, das Projekt einseitig zu verzögern, verantwortlich sind vielmehr, wie er sagt:

Dietrich: "Alle gemeinsam. Wir müssen uns nur mal zurückerinnern, was passiert ist ab Mitte 2010, Wir hatten die Vorfälle am 30. 9., die bestimmt nicht die Bahn zu verantworten hat. Wir hatten die Folgerungen daraus, Schlichtung, Stresstest, wir hatten eine Volksabstimmung, das sind die Verzögerungen, die zunächst mal alle gemeinsam zu vertreten haben."

Auch wenn die einzelnen Parteien unterschiedliche Auffassungen zu Stuttgart 21 habe, so gibt es in der Politik seit einigen Wochen doch auch eine gemeinsame Haltung zu dem Bahnhof.

Der Blick zum Berliner Flughafen
Es gibt eine neue politische Sensibilität bei Kostensteigerungen für Großprojekte und der Grund ist sicher der Berliner Großflughafen BER. Hier sind die Kosten unter anderem wegen Planungsfehlern von ursprünglich geplanten 1,7 Milliarden auf bislang 4,3 Milliarden gestiegen. Und hier sorgt die immer wieder verschobene Eröffnung für immer neue Schlagzeilen.

Ein solches Desaster auch beim Stuttgarter Tiefbahnhof wäre für alle Befürworter des Projektes eine schwere politische Schlappe. Allen voran für Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich wiederholt für Stuttgart 21 ausgesprochen hat:

"… und deshalb glaube ich, dass Stuttgart 21 notwendig ist. Es ist lange geplant, es ist vollkommen legitim, dass Menschen dagegen protestieren, aber es auch wichtig, dass wir das, was wir versprochen haben, auch durchsetzen."

Stuttgart-21-Sprecher Wolfgang Dietrich sucht daher Argumente, warum die Lage in Berlin und in Stuttgart völlig unterschiedlich ist:

"Wir hatten in Berlin eine völlig andere Gemengelage. Da gab es keinen Widerstand, da gab es keine Diskussionen, die sich über Jahre hingegen haben. Das war ein Projekt, das alle gewollt haben, ganz egal, was es kostet."

Allerdings würde das ja bedeuten, dass die Risiken für eine Verzögerung in Stuttgart noch größer sind, wenn in Berlin schon alles schief ging, obwohl es keine Gegner gibt.
Stuttgart 21-Gegner Boris Palmer bewertet den Vergleich mit Berlin daher völlig anders:

"Es ist ziemlich offensichtlich, dass es technisch einfacher sein sollte einen Flughafen auf freiem Feld zu errichten, als quer durch eine Stadt einen Tunnelbahnhof zu treiben. Also ist natürlich das technische und das planerische Risiko bei Stuttgart 21 ungleich größer als bei einem Flughafen wie in Berlin."

Folglich ist Palmer der Überzeugung, dass eine Entscheidung über die Zukunft des Bahnhofs am Ende in Berlin getroffen wird, und zwar im Kanzleramt. Die Frage heißt für ihn: Geht Angela Merkel mit dem Risiko Stuttgart 21 in den Bundestagswahlkampf?

Palmer. "Sie hat sich sehr eng verknüpft damit noch zu Zeiten des Ministerpräsident Mappus. Und jetzt muss sie entscheiden: Was ist für sie das größere Problem im Bundestagswahlkampf? Ein weiteres Milliardendesaster, für das sie persönlich geradestehen muss? Oder aber das Eingeständnis, dass sie sich damals getäuscht hat und das der Fortschritt doch nicht am Stuttgarter Tunnelbahnhof hängt."

Und die Zeit drängt, denn eine Entscheidung könnte bereits in der nächsten Sitzung des Bahn-Aufsichtsrates voraussichtlich am 5. März fallen. Und hier gibt es bereits erhebliche Zweifel, ob das Gremium den Mehrkosten von zunächst 1,1 Milliarden zustimmen wird. Über die Chance, dass die Bahn aus dem Projekt aussteigt, sagte der stellvertretende Aufsichtsratschef Alexander Kirchner in diesem Programm:

"Also ich schätze es heute mal 50 zu 50, weil letztendlich einerseits die Kosten, die uns bisher vorgelegt worden sind, nicht ausreichen, um das Projekt zu vollenden. Auf der anderen Seite kostet ein Anbruch aus heutiger Sicht mindestens 2 Milliarden, ohne dass man nachher einen funktionsfähigen Bahnhof und Bahnknoten hat. Und auch das muss alternativ auf den Tisch."

Und das bedeutet für das Projekt: Es gibt eine Diskussion darüber, was passiert, wenn Stuttgart 21 doch nicht gebaut wird.

Ein Gegner des Bahnhofprojekts "Stuttgart 21" hält im Schlosspark in Stuttgart ein Schild, auf dem "Polizei Stadt Stuttgart" steht.
Ein Gegner des Bahnhofprojekts "Stuttgart 21" hält ein Schild, auf dem "Polizei Stadt Stuttgart" steht.© AP
Gibt es eine Ausstiegsdiskussion?
Projektsprecher Wolfgang Dietrich zunächst sagt über einen möglichen Ausstieg aus Stuttgart 21:

"Das wäre eine Katastrophe für das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart."

Er verweist darauf, dass die Planung für Stuttgart 21 weit gediehen ist und der Bau unmittelbar bevorsteht. Während Alternativen erst neu geplant werden müssten. Zudem würde – wie Dietrich gleichlautend mit Aufsichtsratsvize Kirchner sagt - ein Ausstieg aus dem Projekt mindestens 2 Milliarden kosten. Und danach sei der Bahnknoten Stuttgart noch immer nicht modernisiert.

Bahnhofsgegner Boris Palmer hingegen spricht von Katastrophenszenarien der Bahn,

"die auch nur der Abschreckung dienen und nicht der Wahrheit entsprechen. Natürlich ist es möglich, einen vorhandenen Bahnhof zu verbessern. Es wäre ganz merkwürdig, wenn man alle Bahnhöfe, die man verändern möchte, erst mal abreißen müsste, um ihn zu verbessern. Das macht man ja auch nicht im Rest der Welt."

Landesverkehrsminister Winfried Hermann fügt hinzu, höchstens die Hälfte der Ausstiegskosten, die die Bahn angibt, sei nachvollziehbar und seriös.

Hermann: "Wir machen keine eigenen Rechnungen auf, aber wenn man sich die Rechnungen, die jetzt publiziert worden sind, anschaut, dann braucht man nicht viel Sachverstand, da braucht man nicht mal eine Expertise von Fachleuten, da sieht man, dass das ziemliche Mondzahlen sind, vieles ist nicht belegt."

Laut Unterlagen, die dem Deutschlandradio vorliegen, berechnet die Bahn allein für die Rückabwicklung der Grundstücksgeschäfte mit der Stadt Stuttgart 795 Millionen Euro, sagt aber nicht dazu, dass sie dafür ja die Grundstücke im Gleisvorfeld behält. Für Schadenersatzforderungen der Bauunternehmen, mit denen es bereits Verträge gibt, sind 406 Millionen eingestellt. Das entspräche einer Quote von rund 25 Prozent der Bausumme. Gemeinhin gelten aber Rückabwicklungsquoten von 5 bis 10 Prozent als realistisch. Zudem entfielen 330 Millionen Baukostenzuschüsse; allerdings kann man darüber streiten, ob das Wegfallen von Zuschüssen als Ausstiegskosten eingestellt werden kann.

Auch die Bahnhofsgegner auf der 160. Montagsdemo bei klirrender Kälte sind daher überzeugt, dass ein tatsächlicher Projektausstieg deutlich billiger zu haben ist

Bürger: "Man kann zum Beispiel nicht Geld, das sie von der Stadt bekommen hat, das sie der Stadt wieder zurückzahle muss, als Ausstiegskosten bezeichnen. / Wenn Stuttgart 21 beendet wird, dann brauchen wir hier einfach ein neues Dach für den Bahnhof, das Gleisvorfeld muss wieder zurückgebaut werden und dann haben wir hier wieder einen leistungsfähigen Bahnhof. Der Stuttgarter Hauptbahnbahnhof war bisher der zweitpünklichste Bahnhof in Deutschland und dahin müssen wir wieder zurück."

Heute aber stellt Verkehrsminister Winfried Hermann fest, dass die aktuelle Situation höchst unbefriedigend ist:

"… weil natürlich eine Hängepartie mit einem Bahnhof, der halb abgerissen ist und einem Gleisvorfeld, das lange nicht mehr saniert ist, wo es in den letzten Monaten immer wieder Unfälle gab, mit einer offenen Baustelle, das ist alles hoch unbefriedigend. Wenn das noch lange so liegen bleibt, ist das mehr als ärgerlich. Und deshalb kann ich nur sagen: Wir wollen, dass schnell entschieden wird, fundiert und qualifiziert."

Der Termin dafür könnte – wie gesagt - die Aufsichtsratssitzung der Bahn am 5. März sein. Und klar ist, dass es für das 20-köpfige Gremium eine schwierige Entscheidung wird. Für den Weiterbau spricht, dass Stuttgart 21 zumindest im Augenblick als die nächstliegende Lösung erschein, um das Schienenverkehrsproblem rund um Stuttgart zu lösen. Dagegen sprechen die vielen berechtigten Zweifel, ob das Projekt tatsächlich so naheliegend ist und ob der Kosten- und der Zeitplan für den Bahnhofsneubau zu Stuttgart auch nur annähernd einzuhalten ist.

Klar ist jedenfalls, dass ein mögliches Ende von Stuttgart 21 seit der Schlichtung im Dezember 2010 nie so nah war, wie es am 5. März bei der Aufsichtsratssitzung der Bahn sein wird.
Heiner Geißler sitzt am Freitag in Stuttgart im Rathaus zwischen Befürwortern und Gegnern von Stuttgart 21, gegenüber u.a. die Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU, v.l.) und Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU)
Heiner Geißler als Schlichter zwischen Befürwortern und Gegnern von Stuttgart 21, gegenüber u.a. die Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU, v.l.) und Ex-Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU).© AP