Suche nach der Weltformel

Wie Physiker das Universum erklären wollen

Teilchenkanone wird bei CERN bei Genf installiert
Eine Teilchenkanone im Forschungszentrum CERN bei Genf © picture alliance / dpa / epa Keystone Salvatore Di Nolfi
Von Frank Grotelüschen |
Ein Teilchenbeschleuniger mit 27 Kilometer Umfang: Mit dem Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN in Genf begeben sich Tausende Physiker auf die Suche nach der Weltformel - und wollen so das Universum erklären.
Ein riesiger Teilchenbeschleuniger mit 27 Kilometer Umfang: mit dem Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN in Genf begeben sich Tausende Physiker auf die Suche nach der Weltformel - und wollen so das Universum erklären.
"In Wirklichkeit erkennen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in der Tiefe."
Griechenland, das Jahr 400 v. Chr.. Demokrit, einer der legendären Naturphilosophen der Antike, sinniert über die Grundfragen des Seins: Aus was ist die Welt gemacht? Wie sehen die Grundelemente des Universums aus?
"Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter. In Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum."
"Atomos" – das Unteilbare. Demokrit denkt sich die Welt aufgebaut aus kleinsten Bausteinen – elementar, also nicht weiter teilbar. Ein Gedanke, der die Marschroute vorgeben soll für Generationen von Gelehrten und Forschern. Im Jahr 2012 n. Chr., hat der Marsch einen wichtigen Meilenstein erreicht.
"Ich würde sagen: Wir haben es! Glauben Sie das auch?" (Jubel)
Das CERN, das Europäische Teilchenforschungszentrum in Genf. Es ist der 4. Juli, und im großen Hörsaal verkündet CERN-Direktor Rolf Heuer eine spektakuläre Entdeckung. Eine Entdeckung, auf die Physiker in aller Welt seit Jahrzehnten gewartet hatten:
"Es ist ein denkwürdiges, ein historisches Ereignis. Alle, die an diesem Projekt beteiligt sind, können stolz sein auf diesen Tag!" (Jubel)
Das Projekt, von dem Rolf Heuer so pathetisch spricht, ist der Large Hadron Collider, kurz LHC. Ein 27 Kilometer großer Ring, der stärkste Teilchenbeschleuniger aller Zeiten. Er schießt Wasserstoffkerne mit unvorstellbarer Wucht aufeinander und kann dadurch exotische Elementarteilchen erzeugen. Jetzt – und das ist die Sensation – hat der LHC ein neues Teilchen gefunden. Eines, das zuvor nur in den Köpfen der Physiker existierte – das Higgs. Schon in den 60er Jahren hatte der schottische Physiker Peter Higgs die Existenz dieses Teilchens postuliert. Es hat vereinfacht gesagt die Funktion, den Dingen Masse zu verleihen – also der Materie um uns herum und auch uns selber.
Schlussstein einer Theorie der Grundbausteine
Doch das eigentlich Aufregende: Das Higgs ist der Schlussstein einer Theorie, die die Grundbausteine der Materie beschreibt. Die erklärt, wie sich kurz nach dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren die Materie bildete – Materie, aus denen Sterne bestehen, Planeten und Lebewesen. Standardmodell, so heißt die Theorie. Eine Theorie ganz im Sinne von Demokrit, dem Erfinder von "Atomos", dem Unteilbaren.
"Falls Gott die Welt geschaffen hat, war seine Hauptsorge sicher nicht, sie so zu machen, dass wir sie verstehen können."
Albert Einstein, Schöpfer der Relativitätstheorie.
"Der unermesslich reichen, stets sich erneuernden Natur gegenüber wird der Mensch, soweit er auch in der wissenschaftlichen Erkenntnis fortgeschritten sein mag, immer das sich wundernde Kind bleiben und muss sich stets auf neue Überraschungen gefasst machen."
Max Planck, Pionier der Quantenphysik.
Von den Elementen zu den Atomen
Der Weg zum Standardmodell, zum modernen Weltbild der Physik, war lang und voller Überraschungen. Zwar hatte Demokrit schon vor zweieinhalbtausend Jahren angenommen, dass sich das Universum aus kleinsten Teichchen zusammensetzt. Doch dann gerieten seine Ideen in Vergessenheit. Viele Zeitalter lang war man davon überzeugt, der Kosmos bestehe aus vier Elementen – Feuer, Wasser, Luft und Erde. Bis Naturforscher Ende des 18. Jahrhunderts entdeckten, dass sich in chemischen Reaktionen Stoffe stets in festen Mengenverhältnissen zusammentun: Wasser besteht aus einem Teil Sauerstoff und zwei Teilen Wasserstoff. Demnach müssen, so folgerten die Gelehrten, Sauerstoff und Wasserstoff aus kleinsten Einheiten bestehen – aus Atomen. Nach und nach identifizierte man immer mehr Atomsorten, chemische Elemente genannt. Nach dem damaligen Wissen die Grundbausteine der Welt.
"Diese Elemente kann man erklären."
Johannes Haller, Physikprofessor an der Universität Hamburg.
"Ihre Eigenschaften – Gewichte, chemischen Bindungen usw. – konnte man mit diesem Periodensystem erklären, was ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung war."
Das Periodensystem der Elemente brachte Ordnung ins Chaos der Atomsorten. Heute hängt es im Chemiesaal einer jeden Schule. Doch wie man sich diese Atome vorzustellen hat, ahnte man im 19. Jahrhundert nur schemenhaft: mikroskopische Billardkugeln vielleicht, die mit anderen Atomen zusammenkleben können und dadurch Moleküle bilden.
Dann, 1910, machte der Physiker Ernest Rutherford eine verblüffende Entdeckung, als er sog. Alpha-Strahlen auf eine hauchdünne Goldfolie schoss. Die meisten Strahlen drangen unbeeindruckt durch die Folie hindurch, wie erwartet. Manche aber wurden völlig überraschend zurückgeschleudert. As würde man, so Rutherford, eine Artilleriegranate auf ein Stück Papier feuern, und die Granate kommt wieder zurück.
Johannes Haller: "Rutherford konnte es damals erklären, indem er angenommen hat, dass es einen Atomkern gibt, der sehr, sehr klein ist, wo die gesamte positive Ladung vereint ist. Und drum herum eine Atomhülle, die negativ geladen ist. Das war damals die Revolution."
Rutherford hatte entdeckt: Atome sind gar nicht unteilbar. Nein, sie bestehen aus einem winzigen Kern, umgeben von einer Hülle. Später fand man heraus: Die Hülle baut sich aus Elektronen auf – winzigen, elektrisch negativen Teilchen, die den Kern umschwirren ähnlich wie Planeten die Sonne. In den dreißiger Jahren dann bemerkten die Physiker, dass selbst der Atomkern nicht unteilbar ist. Er setzt sich aus kleineren Bausteinen zusammen – Protonen und Neutronen.
Johannes Haller: "Die Grundbausteine damals waren das Proton, das Neutron und das Elektron. Und tatsächlich ist das auch noch das, was wir hier in unserem täglichen Leben um uns herum haben. Die Materie, die wir um uns herum haben, ist tatsächlich aus Neutronen, Protonen und Elektronen aufgebaut."
Immer raffiniertere Messmethoden
Ein Weltbild, übersichtlich und einfach. Das Problem: Leider war es nur halbe Wahrheit. Denn mit immer raffinierteren Messmethoden entdeckten die Physiker in den 40er und 50er Jahren: Neben der vertrauten Materie gibt es noch andere, seltsame Teilchen.
Johannes Haller: "Man hat neue Teilchen gefunden, die man nicht erklären konnte mit nur Neutron, Proton und Elektron. Aus diesen Entdeckungen ist die Idee hervorgegangen, dass es etwas Neues geben muss."
Diese neuen Teilchen waren instabil und zerplatzen rasch nach ihrer Geburt wieder. Irgendwann hatten die Physiker Hunderte solcher seltsamen Teilchen gefunden – einen regelrechten Teilchenzoo. Erst in den 60er und 70er Jahren erkannte man allmählich, was dahintersteckte.
Johannes Haller: "Da war es ganz ähnlich wie damals beim Periodensystem der Elemente, dass Leute hingegangen sind und versucht haben, diesen ganzen Teilchenzoo – Hunderte von Teilchen – zu kategorisieren. Da hatte man dann gesehen, dass es in den Eigenschaften dieser Teilchen gewisse Gesetzmäßigkeiten gibt, die man erklären konnte, wenn man annimmt, dass diese Teilchen aufgebaut sind aus noch kleineren Konstituenten. Das sind die berühmten Quarks."
Die Geburtsstunde des Standardmodells, sagt Johannes Haller. Seitdem scheint klar: Materie besteht in ihrem Innersten aus Quarks und Elektronen. Dazu kommen weitere Elementarteilchen, etwa die Neutrinos, oder die Myonen, das sind die schweren Brüder der Elektronen. Zusammengehalten werden diese Teilchen durch drei Naturkräfte: die elektromagnetische Kraft sowie die schwache und die starke Kraft. Ein gutes Dutzend an Elementarbausteinen, dazu drei Naturkräfte – das genügt den Physikern, um dem Aufbau von Materie zu erklären.
Johannes Haller: "Wenn man sich überlegt, wie einfach die Grundlagen sind, ist es erstaunlich, was das Standardmodell leistet. Von den Elementarteilchen über die Kristalle, über die Atome liefert es eine Erklärung. Das ist schon faszinierend, dass das möglich ist."
Die Sonderrolle des Higgs
Nur: Ein Baustein des Standardmodells fehlte noch. Ein Teilchen, das es eigentlich geben musste und das die Physiker jahrzehntelang vergeblich gesucht hatten – das Higgs.
Johannes Haller: "Das Higgs spielt eine besondere Rolle. Es ist einzig und allein dafür zuständig, den Teilchen Masse zu verleihen."
Die Idee dahinter: Dem Universum liegt ein allgegenwärtiges Feld zugrunde, das Higgs-Feld. Durch dieses Feld bewegen sich Teilchen wie Quarks und Elektronen wie durch einen zähen Sirup. Dabei verspüren sie einen Widerstand, als würde man Sirup mit einem Kochlöffel umrühren. Genau dieser Widerstand ist es, der den Teilchen Masse verleiht. Das Higgs-Teilchen ist dabei eine Art Klumpen im Sirup. Findet man das Higgs, ist klar: Es muss auch das Higgs-Feld geben. Das Rätsel, warum Elementarteilchen Masse besitzen, wäre gelöst. Die letzte Lücke im Standardmodell – sie wäre geschlossen. Um das Higgs aufzuspüren, scheuten die Physiker keinen Aufwand – und bauten den stärksten Beschleuniger der Welt, den LHC in Genf.
Blick in den Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum  Cern.
Blick in den Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum Cern.© AFP
"Kein elementares Phänomen ist ein reales Phänomen, bis es ein beobachtetes Phänomen geworden ist."
John Wheeler, Physiker und Kosmologe.
"Ich möchte wissen, wie Gott diese Welt erschaffen hat. Ich bin nicht an dem einen oder anderen Phänomen interessiert, an dem Spektrum des einen oder anderen Elementes. Ich möchte Seine Gedanken kennen, alles Übrige sind nur Einzelheiten."
Albert Einstein.
"Der Tunnel ist 27 Kilometer lang, und es gibt acht Zugangsstellen."
Am CERN in Genf steht Michael Eppard in einem U-bahn-ähnlichen Tunnel, 100 Meter tief unter der Erde. Der Physiker zeigt auf ein paar Fahrräder, die an der Wand lehnen:
"Unter Umständen müssen Sie viele Kilometer zurücklegen, um zu Ihrem Arbeitsplatz zu kommen. Da ist die einfachste Möglichkeit, ein Fahrrad zu nehmen."
Kollidierende Protonen im LHC
Der LHC, der größte Teilchenbeschleuniger der Welt. Er bringt Protonen fast auf Lichtgeschwindigkeit und lässt sie frontal aufeinander prallen. Riesige Detektoren beobachten die Kollisionen und schauen nach, ob neue, unbekannte Elementarteilchen entstehen – insbesondere das Higgs. 15 Jahre hat der Bau gedauert, vier Milliarden Euro hat er verschlungen. 10.000 Physiker aus aller Welt machen bei dem Megaprojekt mit – das aufwendigste Experiment aller Zeiten. Michael Eppard zeigt auf unzählige, aneinandergereihte Stahlröhren – meterdick und blau lackiert.
"Das sind die blauen, 15 Meter langen Magnete. Davon gibt es 1232 Stück. Die sind supraleitend. Wir müssen auf 27 Kilometern diese Magneten auf die Temperatur von Flüssighelium runterkühlen – auf 1,9 Kelvin."
Die Magnete sind das Herz des LHC. Damit sie funktionieren, müssen sie auf minus 271 Grad Celsius gekühlt werden – 1,9 Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Ihre starken Magnetfelder halten die schnellen Protonen auf ihrer Kreisbahn.
Michael Eppard geht weiter durch den Tunnel und in eine unterirdische Halle, groß wie eine Kathedrale:
"An vier Stellen werden die Protonen zur Kollision gebracht. Das hier ist eine Stelle. Das ist ein Wechselwirkungspunkt, und um diesen Wechselwirkungspunkt herum bauen wir das Experiment CMS."
CMS ist ein haushoher Klotz aus bunt lackierten Metallteilen, 15 Meter hoch, 14.000 Tonnen schwer – doppelt soviel wie der Eiffelturm in Paris. Ein Koloss, vollgestopft mit Elektronik und Sensoren. Eine gigantische Kamera für Elementarteilchen.
"Weltweit das komplizierteste Objekt, das ich kenne. Und ich schließe sämtliche Programme der NASA dabei mit ein."
2500 Physiker arbeiten an einer Riesenkamera
Auch Frank Hartmann gehört zu CMS – einer von 2500 Physikern, die an der Riesenkamera mitarbeiten. Die Mission: CMS soll neue Teilchen aufspüren – vor allem das Higgs.
"3,2,1 – Yes!"
Rolf Heuer: "Es ist ein historischer Moment. Um 10 Uhr 25 ist der Strahl zum ersten Mal umgelaufen. Mein Glückwunsch an alle Beteiligten!"
10. September 2008, endlich geht es los. Die Leute um CERN-Direktor Rolf Heuer fahren den LHC zum ersten Mal hoch. Zunächst läuft die Maschine wie geschmiert. Doch dann, neun Tage später, kommt es im Tunnel zu einer Explosion. Zwei Tonnen Flüssighelium verdampfen. Die Druckwelle reißt Dutzende der Magneten aus ihrer Verankerung. Die Ursache: ein defektes Spezialkabel. Mehr als ein Jahr dauern die Reparaturen. Die ersten Messdaten liefert die Maschine viel später als geplant – am 30. März 2010 um punkt 13:06 Uhr.
Oliver Buchmüller: "Wir haben unsere ersten Kollisionen gesehen! Wir sind alle sehr, sehr erleichtert. Das waren lange Jahre der Vorbereitung. Und jetzt zum ersten Mal diese Kollisionen zu sehen, ist schon überragend!"
Ultraschnelle Protonen sind aufeinander geprallt und haben einen winzigen, aber ungeheuer dichten Energieblitz erzeugt – eine Art Urknall im Miniformat. Das Higgs jedoch lässt sich bei diesen ersten Experimenten noch nicht blicken – dazu entsteht es viel zu selten. Mehr als zwei Jahre lang müssen die Physiker Berge von Daten nehmen und analysieren. Endlich kann Rolf Heuer die langersehnte Erfolgsmeldung verkünden.
"Wir haben eine Entdeckung! Wir haben ein neues Teilchen gefunden. So wie es aussieht, ist es das Higgs-Teilchen!"
Peter Higgs ist am Ziel seiner Träume:
"Ich möchte mich bei jedem hier bedanken, der an diesem großartigen Projekt beteiligt ist. Es ist unglaublich, dass ich das noch miterleben darf!"
Vorläufiger Schlusspunkt einer langen Suche
Die Entdeckung des Higgs – sie bildet einen vorläufigen Schlusspunkt auf der Suche nach den kleinsten Bausteinen des Universums.
"Damit ist das Standardmodell abgeschlossen," sagt Johannes Haller von der Universität Hamburg:
"Das Higgs-Teilchen ist tatsächlich das letzte Teilchen, was noch experimentell gefehlt hat."
Ist die Teilchenforschung damit an ihrem Ende gelangt? Ist das physikalische Weltbild komplett? Ganz und gar nicht, meint Kerstin Borras, Physikerin am Forschungszentrum DESY in Hamburg. Denn auf viele Fragen hat das Standardmodell keine Antwort. Wesentliche Rätsel bleiben ungelöst.
Kerstin Borras: "Das Higgs ist ein Puzzleteilchen, das zum Standardmodell gehört. Dieses Standardmodell erklärt das, was wir hier sehen, was uns umgibt. Aber das, was wir sehen, ist auf das Universum bezogen nur vier Prozent! 25 Prozent ist dunkle Materie, und 70 Prozent dunkle Energie."
Irgendetwas Geheimnisvolles hält die Galaxien zusammen wie ein unsichtbarer Klebstoff. Ratlos bezeichnen es die Physiker als dunkle Materie. Etwas noch Rätselhafteres treibt das Universum auseinander, wie ein ewig quellender Hefeteig. Achselzuckend sprechen die Physiker von dunkler Energie. Woraus beides besteht – ein völliges Rätsel. Der LHC hat das Potenzial, Licht in die dunklen Effekte zu bringen. 2013 wird er für zwei Jahre abgeschaltet und umgebaut.
Kerstin Borras: "Da sind die Erwartungen natürlich sehr hoch, dass wir vielleicht wieder was entdecken!"
Die Gravitation passt nicht ins Bild
Doch das wohl größte Geheimnis wird auch der LHC nicht lüften können: Wie passt jene Naturkraft ins Bild, die uns am meisten vertraut ist – die Gravitation? Johannes Haller:
"Wir wissen heute schon, dass das Standardmodell nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Denn die Gravitation wird ja im Standardmodell überhaupt nicht berücksichtigt. Das ist ein offensichtliches Problem."
Die Gravitation. Sie sorgt dafür, dass uns die Erde anzieht und dass sich die Planeten um die Sonne drehen. In der Welt der kleinsten Teilchen aber ist sie so schwach, dass man sie gegenüber den anderen Naturkräften getrost vernachlässigen kann. Genau das macht das Standardmodell – es kennt schlichtweg keine Gravitation. Ein Dorn im Auge der Physiker. Denn eigentlich wünschen sie sich eine Theorie, die wirklich alles beschreibt – die Welt der Elementarteilchen und die Gravitation. Am besten eine einzige Formel, die das gesamte Universum erklärt – eine Weltformel. Und manche Physiker glauben, sie seien dieser Weltformel schon auf der Spur.
"Ein String ist quasi eine eindimensionale, vibrierende Saite. Und die einzelnen Vibrationszustände charakterisieren dann die Teilchen unseres Universums."
In den Augen von Thomas Grimm, Forscher am Max-Planck-Institut für Physik in München, bilden sie die Grundbausteine der Welt: unmessbar kleine Fäden oder Saiten, sog. Strings. Ähnlich wie eine Geigensaite können sie schwingen – wodurch sie die bekannten Teilchen aufbauen: Elektronen etwa, aber auch die Quarks. Diese wären also gar nicht elementar wie bislang angenommen. In Wirklichkeit wären sie aus noch kleineren Bausteinen zusammengesetzt – den Strings. Der Zweck der Idee ist höchst ehrgeizig:
Thomas Grimm: "Die Hauptmotivation, die String-Theorie zu studieren, ist die Vereinheitlichung von der Quantenphysik mit der Gravitationstheorie in eine große vereinheitlichende Theorie, die wirklich alle Gesetze im Universum beschreibt."
Nichts weniger also als der ganz große Wurf. Die Stringtheorie könnte – so die Hoffnung – in die legendäre Weltformel münden: jene allumfassende Theorie, von der bereits Albert Einstein und Werner Heisenberg träumten – und auch Stephen Hawking, der populärste Physiker der Gegenwart:
"Wir wissen nicht, wie das Universum begann und warum es uns überhaupt gibt. Diese Fragen haben die Menschheit schon immer bewegt. Eine Weltformel wird all diese jahrhundertealten Fragen beantworten."
Taugt die Stringtheorie zur Weltformel?
Zwar zählt Hawking zu den erklärten Sympathisanten der Stringtheorie. Eines aber muss auch er zugeben: Bislang taugen die Strings nicht für die ersehnte allumfassende Physik-Theorie, die Weltformel. Das Problem: Bislang hat die Stringtheorie nicht ein einziges Ergebnis geliefert, das man durch Experimente überprüfen könnte.
Kritiker wie der britische Nobelpreisträger Brian Josephson halten sie deshalb für nutzlos – eine mathematische Spielerei ohne jeden Erkenntniswert:
"Die Teilchenphysik hat das Ende der Straße erreicht. Sie gerät in immer größere Schwierigkeiten. Um sie zu retten, müssen die Forscher immer mehr mathematische Tricks hinzunehmen, und dadurch werden ihre Theorien – zum Beispiel die Stringtheorie – mathematisch immer komplexer. Es sieht so aus, als würden sich die Wege von Physik und Mathematik trennen. Beides scheint nicht mehr so richtig zueinander zu passen."
Nicht alle Fragen müssen gelöst werden
"Bei der Suche nach Wahrheit gibt es gewisse Fragen, die nicht wichtig sind. Aus welchem Stoff ist das Weltall gemacht? Ist die Welt ewig? Hat das Weltall Grenzen?
Wenn ein Mensch seine Suche und Übung der Erleuchtung aufschieben müsste, bis solche Fragen gelöst sind, würde er sterben, bevor er den rechten Weg gefunden hätte."
Buddha, Religionsstifter.
"Deshalb werden wir uns nicht mit der Frage beschäftigen, warum sich die Natur so verhält, wie sie es tut. Es gibt keine brauchbaren Theorien, die das Warum erklären könnten."
Richard Feynman, Physiknobelpreisträger.
Jürgen Renn ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Er fragt sich: Was bedeuten die Erkenntnisse der Teilchenforschung für die Philosophie und für die Gesellschaft – also für uns alle?
Jürgen Renn: "Der Zusammenhang unserer Kenntnis ist das, worum es letztlich in der Teilchenphysik geht. Paradoxerweise, im Gegensatz zum Anschein, der nahelegt, dass es da um winzige Teilchen geht, die nur in so einer komischen Maschine im CERN auftreten, geht es doch um den Zusammenhang unseres Weltwissens."
Vielen mag das CERN vor allem als Geburtsstätte des Word Wide Web ein Begriff sein. Worum es in Genf eigentlich geht, davon dürften die meisten nur eine verschwommene Vorstellung haben. Und das ist durchaus bedauerlich, meint Jürgen Renn:
"Man redet vom Standardmodell der Teilchenphysik. Aber man muss sich klarmachen, dass die Theorie nicht nur etwas zu tun hat mit diesen seltsamen Teilchen, wie sie künstlich am CERN oder an anderen Beschleunigern erzeugt werden. Sondern diese Theorie ist eine fundamentale Theorie unserer Welt, der Materie, wie wir sie kennen. Die Stabilität des Atomkerns wird durch diese Theorie erklärt, die Radioaktivität wird erklärt. Viele Phänomene, die sich nicht nur in der Teilchenwelt aufhalten, sondern auch in unserer wirklichen Welt. Und was diese Theorie tut: Sie fasst alle diese Phänomene in einem großen Gebäude einheitlich zusammen. Das ist ein hochspezialisierter Teil, aber das aus meiner Sicht in seiner Gesamtheit zu den größten Schätzen gehört, über die die Menschheit verfügt."
Teilchenforschung ist nicht alles
Dennoch: Ist die Teilchenforschung wirklich so grundlegend, wie es die Physiker gerne und oft behaupten? Zugegeben, sagt Jürgen Renn: Tatsächlich sind Teilchen wie Quarks und Elektronen die kleinsten Bausteine der Materie – zumindest nach heutiger Kenntnis. Doch damit ist noch lange nicht gesagt, dass man – nur weil man diese kleinsten Bausteine kennt – auch den Rest der Welt versteht.
Jürgen Renn: "Es gibt andere Schulen, und denen neige ich auch zu, die eher von einer gewissen Selbstständigkeit der verschiedenen Erkenntnisbereiche innerhalb der Wissenschaften ausgehen. Also nicht der Meinung sind, dass sich die Biologie auf die Chemie, die Chemie auf die Physik, und die Physik auf die Teilchenphysik zurückführen lassen. Das wirft natürlich interessante Fragen auf nach dem Zusammenhang der Naturwissenschaft, wenn die nicht einfach so nach einem hierarchischen Modell, die Physik ist die Grundlage und alles weitere sind komplexe Anwendungen, aufgebaut werden kann. Wie ist diese Einheit dann zu verstehen? Wie passen die Dinge dann eigentlich zusammen?"
Ein Beispiel: Als Peter Higgs in den 60er Jahren das Higgs-Teilchen quasi erfand, ließ er sich durch Mechanismus inspirieren, der gar nicht aus der Teilchenforschung kam, sondern aus einem völlig anderen Bereich – der Festkörperphysik. Für Jürgen Renn ein Indiz, dass es grundlegende Naturprinzipien gibt, die übergreifend für alle Bereiche der Wissenschaft gelten:
"Dass sie auf interessante Weise zusammengehören, erkennt man daran, dass Modelle, die in anderen Bereichen entstanden sind, übertragen werden auf fundamentale Bereiche wie die Teilchenphysik. Und dass es einen Wissenschaftsaustausch zwischen verschiedenen Bereichen der Physik, aber möglicherweise auch zwischen anderen Bereichen der Naturwissenschaft gibt, so dass Erkenntnisse hin- und hergeschoben werden können. Es ist nicht einfach eine Richtung, die es von den fundamentalen Theorien in die komplexeren gibt. Sondern es kann auch mal umgekehrt sein, dass eine Idee in der Biologie, in der Chemie oder in der Festkörperphysik entsteht, die dann in die Teilchenphysik hineinwandert. Daran sieht man schon, dass unser Wissen nicht hierarchisch aufgebaut ist, wie man sich das gemeinhin vorstellt. In der Tat gibt es naturphilosophisch einiges nachzudenken. Weil wir uns nicht verführen lassen dürfen durch diesen Anspruch der Teilchenphysik, die Grundlage abzugeben und das ganze Gebäude der Erkenntnis darauf zurückzuführen."
Bleibt die Weltformel ein Traum?
Eine Ansicht, die wenn sie sich allgemein durchsetzt, drastische Folgen haben dürfte für den weiteren Weg der Physik. Denn damit könnte der heilige Gral der Teilchenforscher entweiht werden: der Traum von der Weltformel, einer allumfassenden Theorie der Teilchenphysik, aus der sich alles andere herleiten lässt – die Atomphysik, die Chemie, die Biologie.
Jürgen Renn: "Ich bin sehr skeptisch, dass es so etwas wie eine Weltformel geben kann. Ich glaube, dass neue Entdeckungen, neue Erkenntnisse aus einem Bereich immer wieder auch an einen anderen Bereich einfließen können. Selbst wenn wir meinten, eine fundamentale Theorie der Teilchenphysik abgeschlossen zu haben, gibt es immer wieder die Möglichkeit, dass aus einem ganz anderen Bereich der Physik – etwa der Physik komplexer Systeme – Erkenntnisse kommen, die dann Rückwirkungen haben auf genau diese fundamentalen Ebenen. Ich glaube, dass das ein ständiges Hin und Her ist."
Die Teilchenphysik bildet zwar einen wichtigen und auch durchaus grundlegenden Zweig der Wissenschaft, meint Jürgen Renn. Aber ganz so fundamental wie es die Teilchenphysiker gern sehen, ist sie wohl doch nicht. Erkenntnisse, auf die Philosophen stoßen, wenn sie über die Physik nachdenken.
Jürgen Renn: "Ich glaube, die philosophische Begleitung solcher hochspezialisierten Unternehmungen ist wichtig, damit man die Zusammenhänge erkennt, in denen diese Theorien mit anderen Bereichen menschlicher Erkenntnis stehen. Und die gehen, wenn man sich ausschließlich als Physiker mit hochspezialisierten Theorien beschäftigt, manchmal verloren."
Doch trotz mancher Kritik am Anspruch der Teilchenphysik, die Basis aller Wissenschaften zu sein – eines möchte Jürgen Renn auf keinen Fall: die Grundlagenforschung aufgeben, um stattdessen nur noch angewandte Forschungsprojekte zu verfolgen. Das, meint der Wissenschaftshistoriker, wäre ein fataler Fehler:
"Einstein hat mal gesagt: Wenn man das Problem der Beleuchtung nur den Ingenieuren überlassen hätte, wären nur bessere Petroleumlampen herausgekommen. Niemand hätte so etwas Fundamentales wie die Elektrizität und alle ihre Anwendungen entdeckt. Ich glaube, wenn es nicht einen großen Anteil von Grundlagenerkenntnis, der aus dem Antrieb der Neugier betrieben wird, gibt, werden wir auch keine fundamentalen Erkenntnisdurchbrüche erreichen. Auch gerade die nicht, die dann später zu den weitreichenden Anwendungen führen."
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