Alkohol – der stille Freund
Bei einsamen älteren Menschen bleiben Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch oft lange unentdeckt. Manche wagen aber sich zu öffnen - und kämpfen gegen die Abhängigkeit. Zu Besuch in einer Suchtklinik.
20 Männer und Frauen sitzen an diesem Morgen im Kreis in einem Seminarraum. Erich Mühlbach ist mit 73 Jahren der mit Abstand Älteste in der Gruppe. Vater von zwei Kindern, Opa, wohlhabend, Rentner - und Alkoholiker. Seit acht Wochen lebt Erich deshalb nicht in seiner schönen Altbau-Wohnung in Pankow, sondern im Berliner Sankt Josef-Krankenhaus des Alexianer Ordens. Er will seinen richtigen Namen nicht öffentlich machen, so wie alle Patienten hier. Bis zum Abendbrot hat Erich einiges zu tun, muss einen Programmpunkt nach dem anderen auf seinem Therapieplan abarbeiten. Los geht es bereits um neun Uhr mit Ernährungsberatung.
"Ja, dann begrüße ich sie noch mal zum Gesundheitsseminar, heute kommt der zweite Teil Ernährung. Was ist gesunde Ernährung, wie kann das aussehen, was ist damit überhaupt gemeint."
Erich hört konzentriert zu, meldet sich, stellt Zwischenfragen. Der 73-jährige grauhaarige, leicht rundliche Mann sieht gepflegt aus, seine hellen Augen blicken freundlich, entspannt und zufrieden. Dass Erich Alkoholiker ist, kann er manchmal selbst nicht glauben.
"Exzessiv habe ich nicht getrunken, Vollrausch nicht, aber dass man gerade noch so nach Hause gekommen ist und sich hinlegen konnte. Ich trink keinen schlechten Schnaps, auch keinen schlechten Alkohol, hab ich nie getrunken - natürlich Cognac und dann ein Bier dazu. Viertelliter wird das schon immer sein und dann noch Bier dazu. Zuletzt war das schon schlimm."
Einen Viertelliter Cognac und dazu noch Bier hält nur aus, wer an viel Alkohol gewöhnt ist. Erich war daran gewöhnt. In seinem Beruf als Maschinentechniker hat er sein Leben lang reichlich Alkohol getrunken, wenn er quer durch die ganze Welt reiste, von Neuseeland bis Chile.
"Meiste Zeit in meinem Beruf bin ich alleine unterwegs gewesen. Wenn man abends irgendwo im Hotel sucht man natürlich die Bar auf, wo es Alkohol gibt und trifft sich mit Bekannten oder an der Bar, kommt man in Kontakt, weil man ja nicht alleine immer auf dem Zimmer hocken
Nach dem Tod der Frau fehlte was
Die Ernährungsberatung ist zu Ende. Erich und seine Mitpatienten gehen plaudernd über den sonnigen, mit viel Grün bepflanzten Hof, vorbei an großen Gebäuden aus rotem Backstein, zurück auf ihre Station. Einige verschwinden in der Raucherecke, stecken eine Zigarette an. Erich nutzt den Moment lieber, um noch ein wenig von sich zu erzählen.
"Der größte Knacks war natürlich meine Frau, die ist 2000 gestorben an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das hat mich nicht runtergezogen, aber es fehlte was. Jetzt suche ich natürlich auch eine Lebenspartnerin. Aber in Berlin habe ich noch keinen Anschluss gefunden. Ich hatte zweimal Kontakte, aber die sind dann wegen Alkohol wahrscheinlich - hat man mir nicht gesagt, aber ich nehme es an, wegen Alkohol - hat man das nach hinten geschoben."
Erich ist ein typischer Alkoholiker im Seniorenalter: jahrelang an reichlich Wein, Bier und Schnaps gewöhnt - dann ein Schicksalsschlag, Trauer, eine große, persönliche Veränderung, mit der man nicht umgehen kann und der Konsum gerät außer Kontrolle. Sein Sohn und seine Schwiegertochter haben zuerst gemerkt, dass er zu viel trinkt und häufig mit schwerer Zunge redet, erzählt Erich, während er in sein Zimmer geht, und Turnschuhe anzieht. Auch das ist eher die Regel, dass die Betroffenen selbst ihre Sucht nicht erkennen oder erkennen wollen. Denn wer gibt schon gerne zu, dass er im Alter nicht weise, sondern abhängig geworden ist? In einem Punkt allerdings bildet Erich eine Ausnahme: Er redet offen über seine Probleme.
"Das muss man der Allgemeinheit mitteilen, sonst versuchen die Leute immer wieder, einen dazu zu verleiten. Warum soll ich das verheimlichen? Lügen liegen mir nicht. Bin ein ehrlicher Mensch und deshalb sage ich, ich trinke keinen Alkohol, weil ich Alkoholiker bin oder Alkoholiker war. Warum sollte ich das nicht zugeben?"
Erich hat sein Turnschuhe an, hastet los über den Hof zum nächsten Termin: Sportgymnastik und Entspannungsübungen.
Turnlehrerin: "Okay, ja dann willkommen zur Körperbewegung, sie waren ja alle schon mal hier - ja, ich kann ja anfangen. Ich bin heute das letzte Mal hier. Mir geht es gut. Ich habe viel bei Ihnen meine Bewegungen verbessern können – woran merken Sie das, dass es besser wird? - Naja, dass ich flotter auf den Beinen bin, schneller aus dem Bett kommen kann. Hat mir gut getan."
Nach acht Wochen in der Klinik hat er einige gute Vorsätze
Acht Wochen hat Erich dafür hart an sich gearbeitet. Weil heute sein letzter Tag ist, darf er sich etwas wünschen. Er will schnelle Gymnastik mit Musik.
Der 73-Jährige hüpft hin und her, lässt die Arme von links nach rechts schwingen, Hüfte, Ellenbogen und Kopf kreisen. Bewegungen, die vor ein paar Wochen für ihn noch undenkbar waren. Er hatte sich eingeigelt, wie er sagt, keine Kraft und Energie mehr, blieb meistens alleine zuhause. Nach seiner Entlassung morgen will Erich in jedem Fall weiter Sport treiben, vielleicht ein Elektrofahrrad kaufen, mit dem Enkel schwimmen gehen. Ein paar Vorsätze hat er schon im Kopf. Wenn er das nächste Mal traurig oder einsam ist, will Erich auf keinen Fall wieder trinken, sondern sich lieber bewegen, Freunde und Verwandte treffen.
Einen Stock über der Turnhalle, in der Erich gerade schwitzt, sitzt Frank Godemann in seinem Büro, schreibt e-Mails. Godemann ist im Sankt Josef-Krankenhaus Chefarzt der Klinik für Seelische Gesundheit im Alter und Verhaltensmedizin. Er hat in den letzten Wochen viele Gespräche mit Erich geführt, weiß, dass Sucht bei einem alten Menschen wie ihm anders behandelt werden muss als bei jüngeren.
"Suchtbehandlung ist immer in der Klinik eine Behandlung im sozialen Umfeld und das ist bei älteren Menschen ein anderes. Das heißt, es kann sein, dass wir gucken, dass wir Kontakt zu einer Gruppe, wo es auch um Trauer und um den verlorenen Angehörigen geht, dass das etwas Bedeutsames ist."
Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen haben 26,9 Prozent der Männer über 60 einen riskanten Alkoholkonsum und je nach Schätzung sind 1,4 bis 1,9 Millionen Senioren medikamentensüchtig. Die Ursachen liegen auf der Hand: Zum einen ist Alkoholkonsum gesellschaftlich akzeptiert und Beruhigungs-, Schlaf- oder Schmerzmittel leicht zu beschaffen. Zum anderen müssen wir uns im Alter von vielem verabschieden: Von unserem Beruf, der persönlichen Körperkraft, Gesundheit, der geistigen Beweglichkeit, manchmal der eigenen Wohnung, in jedem Fall aber von geliebten Menschen. Nicht jedem gelingt dieses Loslassen gleichermaßen gut. Ein Likörchen zum Kaffee, das Verdauungsschnäpschen nach dem Mittagessen, die Schlaftablette am Abend helfen und erleichtern sofort. Weil soziale Kontakte im Alter abnehmen, fällt der Missbrauch weniger auf. Ab wann aus dieser Erleichterung eine problematische Abhängigkeit wird, ist manchmal nur schwer zu erkennen.
"Sucht ist immer ganz stark mit Scham verbunden und so gesehen ist es auch für ältere Menschen nicht einfach, das für sich selber zu sagen, sich selber das einzugestehen, das offen anzugehen. Im Alter gibt es noch eine weitere Schwierigkeit, die es so in jungen Jahren nicht gibt: Die Übergänge zwischen sinnvollem Gebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit sind bei einzelnen Substanzen deutlich fließender."
Seine Verwandten denken, er mache Urlaub an der Ostsee
Ein wichtiges Merkmal für Sucht in jeder Altersklasse erkennt man allerdings relativ leicht: Kontrollverlust. Wer zum Beispiel regelmäßig mehr trinkt, als er sich eigentlich vorgenommen hat, ständig die Medikamentendosis erhöht, ohne mit seinem Arzt darüber zu reden, sich nicht mehr an die Trinkmenge von gestern Abend erinnert, der hat die Kontrolle verloren. Bei Reinhard war die Diagnose eindeutig.
Der 64-Jährige hat gerade keinen Therapie-Termin, holt sich deshalb in der Stationsküche einen Kaffee. Er ist seit drei Wochen in der Alexianer-Klinik. Seine Verwandten wissen nichts davon, denken, er mache Urlaub an der Ostsee. Er gehört zur Gruppe der abhängigen Senioren, die mit ihrer Sucht still und leise alt geworden sind.
"In der Schule fing es schon ein bisschen an. Eine kleine Clique waren wir so, fünf, sechs, sieben Mann. Da kam einer mit einem Kümmelchen an. Ja und dann isses mal so angefangen. Ich hab ja auch gesehen, dass unsere Lehrer selber getrunken haben, der Direktor auch. Die haben alle getrunken. In den Gaststätten saßen sie auch. Mein Vater hat getrunken. Also, ich wusste keinen, der nicht getrunken hat."
In den letzten 50 Jahren trinkt Reinhard immer zu viel Alkohol, geht aber noch arbeiten als Klempner, Hausmeister oder Pflegehelfer. Mittlerweile schafft er das nicht mehr, lebt von Sozialhilfe.
"Sechs Mal war ich schon zur Entgiftung in einer Klinik und habe danach immer wieder mit dem Trinken angefangen", erzählt Reinhard, während er an seinem heißen Kaffee nippt. Zuletzt sind es 20 Bier am Tag.
"Die letzten drei Jahre, da bin ich morgens schon, um zwei, drei konnte ich nicht mehr schlafen und da bin ich dann schon losgegangen zum Früh und Spät da hinten. Der hat dann schon aufgehabt und da habe ich mir erst mal nur zwei Bier geholt - ich will ja nicht trinken - nur zwei Bier. Dann bin ich zu Kaisers hin gegangen, der hat um sieben schon aufgemacht, dann hab ich mir auch nur! zwei Bier geholt. Dann waren es dann schon vier. Zum Nachmittag waren es dann auch noch mal drei Bier nach dem Essen – ich hab immer gegessen."
Seine Beine sind taub - eine Folge des Alkohols
Die letzte Entgiftung, sagt Reinhard, hat er vor einem Jahr gemacht, dabei fing sein Magen an zu bluten. Jetzt ist er in der Klinik, weil seine Beine taub geworden sind, eine Folge des Alkohols. So wie Erich sieht man auch Reinhard die Sucht nicht an. Auch er wirkt wie ein gepflegter, freundlicher älterer Herr. Nur seine Bewegungen sind etwas steif, als er die Kaffeeküche verlässt und Richtung Klinikkantine zum Mittagessen läuft.
An den Kantinentischen sitzen an diesem Tag ältere Männer, die gegen ihre Alkoholsucht kämpfen wie Reinhard und Erich, junge, spindeldürre Mädchen mit Essstörungen, Patienten mit allerhand körperlichen Befunden und Friedrich. Friedrich ist 83, hat schlohweiße Haare, ein schmales Gesicht, wache Augen hinter einer Brille. Ein Schriftstellergesicht. Seit über 20 Jahren ist Friedrich medikamentenabhängig.
"Ich habe ein Schlafmittel genommen, was im Normalfalle mit einer halben oder einer Tablette zu bewältigen ist, auch mit anderthalb noch mit zweien gerade so und ich habe dann zum Schluss drei genommen. Und das hat zu Beziehungsstörungen zwischen meiner Frau und mir geführt, die leider nicht ohne ein paar Handgreiflichkeiten abgingen."
Friedrich ist eine Ausnahme. In der Regel sind eher Frauen medikamentenabhängig, Männer dagegen trinken zu viel. Friedrich war zu DDR-Zeiten im Ministerium für Literatur zuständig. Nicht immer hielt er sich an die politisch erwünschten Vorgaben. Die darauf folgenden Konflikte nahm er innerlich mit nach Hause, konnte abends immer schlechter abschalten. Schlaftabletten schafften schnelle Erleichterung.
"Es ging, ich möchte fast sagen, über Jahrzehnte. Es war einfach an die Gewöhnung gebunden, mit Hilfe einer Tablette, dann mit Hilfe von anderthalb Tabletten oder auch mit zweien, einschlafen zu können. Aber es war dann ein Irrtum, den ich zu spät bemerkte, dass bei einer Steigerung auf drei Tabletten dann doch die Wirkung auf ja wahrscheinlich auf das Gehirn zu groß war in dem Sinne, dass ich eine reale Haltung zu meiner Umgebung verlor."
Drei Schlaftabletten am Tag – diese Menge verschreibt in Deutschland kein einzelner Arzt. Das weiß auch Friedrich und trickst.
"Nee nee, die gab es nicht frei zu kaufen. Ich habe, ich hab sie auf regulärem Wege bekommen und es gab eine Zeit, da hat mich auch meine Frau darin unterstützt, ohne dass sie die Folgen ahnen konnte."
Die Unterstützung seiner Frau besteht darin, dass auch sie sich vom Hausarzt ein Rezept für Schlaftabletten verschreiben lässt, die dann Friedrich einnimmt. Eine Schummelei mit schweren Folgen. Durch die jahrelange Überdosis wird Friedrich immer verwirrter, nimmt seine Umgebung irgendwann nur noch schemenhaft war, greift schließlich im Streit sogar seine Frau an. Die zieht die Notbremse und organisiert für ihren Mann einen Entzug in der Klinik.
"Hier wird ausgeschlichen, also ich kriege heute noch eine halbe Schlaftablette von der gleichen Art und wenn ich meinen Aufenthalt hier beende wird es Aufgabe des verabschiedenden Arztes sein mir zu sagen, wie es in Zukunft weiter geht."
Die Medikamentenabhängigkeit beginnt oft mit körperlichen Problemen
Friedrich ist mit dem Essen fertig. Bis seine nächste Therapie anfängt, setzt er sich in den sonnigen Hof, plaudert mit einigen Mitpatienten. Er ist glücklich, dass er nach 20 Jahren endlich seine Abhängigkeit von den Schlaftabletten losgeworden ist. Neulich war er ein Wochenende Zuhause und konnte schon richtig gut schlafen, erzählt er strahlend und ein bisschen stolz. Auch sein Kopf funktioniert wieder normal.
"Ich kann meinen Gehirnkasten wieder ordnen. Neu mit ein paar zusätzlichen Fächern und hoffe, dass dieser Zustand erhalten bleibt. Ich habe ganz starke Unterstützung auch von meiner Frau. Das ist ganz wichtig, dass ein Partner oder eine Partnerin an der Seite des Betreffenden steht, die ohne Kompromisse zu machen, denjenigen, der willig ist, von einer Abhängigkeit befreit zu werden, zu helfen."
Chefarzt Frank Godemann nutzt die Mittagspause ebenfalls, um einen Moment frische Luft zu schnappen. Geschichten wie die von Friedrich hört der Mediziner häufig. In der Regel haben alle medikamentenabhängigen Patienten am Anfang ein ganz konkretes körperliches Problem.
"Sie kommen mit deutlichen Schlafstörungen zu dem Hausarzt und derjenige weiß, dass es Methoden gibt, Ansätze, um Schlafstörungen zu behandeln. Psychotherapeutische Behandlungsmethoden. Aber das Problem ist heute. Es gibt ja keine Notfallbehandlung für Schlafstörungen. Aber das Medikament kann er jetzt geben und am Abend wirkt's. Das ist eines der Dilemma an der Stelle."
Godemann sieht das Problem, mit dem die Hausärzte zu kämpfen haben, und weiß aus Erfahrung, dass manchmal der Patient selbst schuld an der Abhängigkeit ist. Friedrichs behandelnder Arzt zum Beispiel hatte keine Chance, die Trickserei von ihm und seiner Frau zu durchschauen. Umso wichtiger findet Godemann die Aufklärungsarbeit, die zum Beispiel die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen DHS leistet. Deren Broschüren, Informationsveranstaltungen, Schulungen auch in Pflegeheimen haben in den letzten Jahren bewirkt, dass betroffene Senioren, Pfleger, Angehörige und Helfer das Problem erkennen. Doch laut DHS werden noch immer mehr als die Hälfte aller verordneten Medikamente in Deutschland Männern und Frauen über 60 verschrieben. 40 Prozent der über 65-Jährigen erhalten acht und mehr Wirkstoffe, manche davon haben Suchtpotential.
"Es gibt natürlich auch richtige Fehlbehandlungen. Das ist deutlich weniger geworden, deutlich, deutlich weniger. Es gibt Menschen, die mit Depressionen sich in Behandlung befinden und dann geben manche ärztliche Kolleginnen und Kollegen - wie gesagt, deutlich seltener geworden deutlich besser, da haben Schulungen gefruchtet – aber geben dann Beruhigungsmittel und eben nicht die spezifischen Medikamente. Kein Antidepressivum, sondern ein Beruhigungsmittel und wie gesagt, die wirken schneller."
Das größte Problem ist die Einsamkeit
Die einstündige Mittagspause ist vorbei. Für Personal und Patienten gehen die Gesprächs- und Gruppentherapien, Sportangebote, Entspannungs- und Ernährungskurse weiter. Für den 73-jährigen Erich ist nach seiner Sportgymnastik Ergotherapie dran.
Gemeinsam mit acht Mitpatienten und Ergotherapeutin Katrin Siebert sitzt Erich in der Klinikwerkstatt um einen großen Tisch, schleift Holzklötze, um sie anschließend zu lackieren. Die Holzklötze gehören zu einer Art Boccia-Spiel, mit dem die Patienten später einmal im Hof gegeneinander antreten können. So richtig begeistert wirkt der 73-Jährige mit seinem Schleifpapier in der Hand nicht. Vielleicht liegt es daran, dass Basteln nicht zu Erichs bevorzugten Hobbies gehört. Für Ergotherapeutin Katrin Siebert ist genau das die größte Herausforderung: Sie hat nur ein paar Wochen Zeit, um gemeinsam mit den Patienten herauszufinden, was ihnen von den vielen Klinik-Angeboten wirklich Spaß macht. Denn nur in diesem Fall, weiß Siebert, werden die Männer und Frauen das nächste Mal, wenn ihnen die Decke auf den Kopf fällt, nicht zur Flasche, sondern lieber zum Pinsel, zur Sporttasche oder eben zum Schleifpapier greifen.
"Bei älteren Menschen ist ja ganz oft das Problem der Einsamkeit ein viel größeres. Durch den Wegfall der Struktur durch die Arbeitstätigkeit, also viel mehr Zeit Zuhause zu verbringen. Also oftmals dann auch allein lebend, weil der Partner schon verstorben ist, und dann kommt es auch immer darauf an, wie der einzelne gestrickt ist."
Zudem hat Siebert bei den älteren Menschen, die sie in der Klinik in den letzten Jahren kennengelernt hat, ein weiteres Problem ausgemacht. Die klassischen Senioren-Angebote wie Tanztee und Spielenachmittag sind den meisten schlicht zu langweilig.
"Das ist ja so das Schwierige bei der Sucht. Im Gegensatz zu anderen Krankheiten ist ja hier Heilung oder Gesundung verbunden mit einer Wegnahme von etwas, was bis hierhin ganz positiv besetzt war. Und das ist das Zentrale ein Äquivalent zu schaffen. Ich nehme was weg, was einen großen Raum hatte bislang im Leben und ich muss Dinge finden, um die Lücke zu schließen oder zu füllen. Sonst bleibt die Lücke und dann ist der Schritt nicht mehr weit, dass wieder auf das Bewährte zurückgegriffen wird."
"Hat schon jemand eine Idee fürs Nächste? Theaterspielen - Ein Gedicht – also ich spiel dann den Vorhang – Du machst dann Gretchen oder wat – ne, ich mach den Vorhang."
So richtig glücklich wirkt Erich an diesem Morgen nicht
Erich beteiligt sich nicht an der Zukunftsplanung, schaut stattdessen lieber ein bisschen aus dem Fenster, freut sich auf Zuhause. Ihm reicht es nach acht Wochen Klinik.
"Ja, ich muss hier raus, sonst krieg ich einen Lagerkoller. Die Leute wechseln dann immer und dann fühlt man sich dann auch nicht so mehr aufnahmebereit. Das wiederholt sich dann immer. Ne, also ich... Acht Wochen reichen mir!"
Drei Tage später. Erich ist Zuhause in seiner schönen Pankower Altbauwohnung. An diesem Morgen hat er sich bereits ein Frühstück mit Grapefruit, Paprika und geräuchertem Fisch gemacht, strikt nach den neu gelernten Ernährungs-Regeln. Jetzt sitzt er in einem gemütlichen Sessel im Wohnzimmer, hört Musik über einen großen Flachbildschirm. Der helle Raum mit den hohen Decken erzählt viel über den 73-Jährigen. An den Wänden hängen Bilder von Erichs Kindern, seiner Frau, den Enkeln, überall sitzen Puppen, die seine verstorbene Frau gesammelt hat, liegen Münzen und Souvenirs - Andenken an seine vielen Reisen. So richtig glücklich wirkt Erich an diesem Morgen noch nicht, eher abgeklärt.
"Naja, Gott, das ist eben jetzt so. Das Leben geht weiter. Muss ja sein. Weiß nicht wie fühlt sich das an, normal wieder, man muss nicht mehr zum Essen gehen, zum Frühstück gehen. Man hat seine Liste, die man da abarbeiten muss den ganzen Tag. Das muss man jetzt selber erledigen."
Heute hat Erich auch wieder eine Menge vor: Zuerst muss er sich neue Hosen kaufen, in der Klinik hat er acht Kilo abgenommen. Außerdem wird er das Auto aus der Werkstatt holen, einkaufen gehen und bei seinem Hausarzt vorbei schauen. Wenn noch Zeit bleibt, trifft er eine Bekannte, die eben angerufen hat. Einigeln und mit Alkohol benebeln wie vor seinem Klinikaufenthalt will sich Erich nie wieder. Er denkt stattdessen ernsthaft darüber nach, ob er vielleicht einen Kassierer-Job an der nahen Tankstelle annehmen soll, auch wenn er das Geld überhaupt nicht braucht. Von der Klinik hat Erich außerdem eine Liste bekommen, auf der Selbsthilfegruppen und Therapieeinrichtungen für Alkoholiker in seiner Nähe stehen.
Erich will viel in seinem Leben ändern
"Mal sehen, was ich da mache. Die haben ja von der Klinik hingeschrieben und die werden sich bestimmt melden und ich weiß auch, wo das hier ist, das ist gar nicht weit weg. Mal sehen, was sich da ergibt. Ich will das nicht übers Knie brechen und unbedingt was suchen, nachher gefällt mir das nicht. Ich will das nicht behaupten, dass das nie wieder passieren kann, aber ich versuche an mir zu arbeiten."
Ändern will Erich so einiges in seinem Leben: vor allem mit der Einsamkeit soll bald Schluss sein. Erich will sich aktiv um eine Partnerin bemühen. Bis er jemanden gefunden hat, muss das Radio reichen.
"Ja, da hab ich das Radio an, unterhalte ich mich mit dem Radio. Lachen. Irgendwie was muss man ja hören, dass nicht die Welt so einsam ist. Ich arbeite daran, dass man irgendwo eine Zweisamkeit aufbauen kann. So ist das eben im Leben. Alleine ist nicht der Idealzustand."
Vielleicht klappt es mit der neuen Partnerin, vielleicht auch nicht. Vielleicht fängt Erich wieder an zu trinken, vielleicht hält er durch.
Dass die Rückfallquoten hoch sind, weiß Erich, aber seine Chancen stehen gut. Weil er die Scham überwunden hat, weil er offen über seine Sucht redet und weil er sich helfen lässt.
Dass die Rückfallquoten hoch sind, weiß Erich, aber seine Chancen stehen gut. Weil er die Scham überwunden hat, weil er offen über seine Sucht redet und weil er sich helfen lässt.