Sudetendeutsche Geschichte

Wo sich Werwölfe gute Nacht sagen

Alois Nebel in einer undatierten Filmszene des Kinofilms "Alois Nebel", der Bahnwärter läuft über die leeren Bahngleise in einer Schneelandschaft.
Jaroslav Rudis' Großvater war Weichensteller in Nordböhmen, sein Onkel stolzer Fahrdienstleiter. © picture alliance / dpa / Neue Visionen Filmverleih
Moderation: Matthias Hanselmann |
Die Geschichte des Sudetenlandes, in Tschechien lange tabuisiert, erweckt Jaroslav Rudis in der verfilmten Graphic Novel "Alois Nebel" zum Leben. Sie ist angelehnt an das Leben seines eigenen Großvaters.
Matthias Hanselmann: "Alois Nebel" ist, wie gesagt, ein außergewöhnlicher Film. Er ist die Verfilmung einer dreiteiligen Graphic Novel mit dem Titel " Billý Potok“, die der tschechische Autor Jaroslav Rudis schon vor zehn Jahren veröffentlicht hat. Die Geschichte handelt von einem Bahnbeamten namens Alois Nebel und spielt an der Grenze von Tschechien zu Polen im früheren Sudetenland. Der Nebel spielt auch – also der reale Nebel – eine wichtige Rolle. Der Film wurde beim Europäischen Filmpreis am letzten Wochenende mit dem Preis in der Kategorie "Bester Animationsfilm" ausgezeichnet und zuvor lief "Alois Nebel" auf fast 50 Festivals. Allein über 100.000 Zuschauer haben den Film in Tschechien schon gesehen. Das Werk wurde in einem ganz bestimmten Verfahren hergestellt, über das wir gleich mehr hören. Im Fall von "Alois Nebel" ist dabei ein Film ganz in Schwarzweiß entstanden, mit großartigen Bildern, auch Landschaftsbildern, und mit starken Kontrasten.
Ich habe mich mit dem Drehbuchautor der Geschichte unterhalten, dem tschechischen Schriftsteller und Schauspieler Jaroslav Rudis. Von ihm und seinem Koautor Jaromír 99, über den wir auch gleich mehr hören werden, stammt auch die Graphic Novel, die hier verfilmt wurde. Meine erste Frage an Jaroslav Rudis: Ihr eigener Großvater war Bahnwärter und Weichensteller und hieß Alois. Wie viel hat der Film mit Ihrer eigenen Geschichte, mit der Geschichte Ihrer Familie zu tun?
Jaroslav Rudis: Ja, einiges und doch nicht so viel. Seine Geschichte ist auch so irgendwie ein bisschen vernebelt oder hat sich so ein bisschen im Nebel aufgelöst. Mein Großvater war wirklich Bahnwärter, Weichensteller in Nordböhmen auf einem ganz kleinen Bahnhof. Ich habe ihn nicht erlebt, weil er ist 1960 gestorben und ich bin Jahrgang 1972, aber ich kenne die Geschichten, und mein Vater hat mir einiges erzählt. Und mein Onkel, der war auch bei der Bahn, der war schon der Fahrdienstleiter und war richtig stolz darauf. Ich hatte diese Idee einfach, vor diesen zehn oder elf Jahren hatte ich eine Idee, einen Roman über meinen Großvater zu schreiben. Ich wollte so ein Buch schreiben über einen kleinen Bahnhof, über einen ganz einfachen Mann, der auf einem Bahnhof arbeitet, Weichen stellt für Züge und Signale, und plötzlich ist ihm klar, was alles in diesen Zügen unterwegs ist.
Hanselmann: Im Laufe der Geschichte …
Rudis: … von der Geschichte und so, dieser ganzen Züge der Geschichte – und Mitteleuropa, das sind die Eisenbahnen. Die Geschichte von Mitteleuropa kann man von der Eisenbahn überhaupt nicht trennen in den letzten 150 Jahren. Und das finde ich immer noch faszinierend. Und ich bin sehr viel auch mit der Bahn unterwegs, und fast auf jedem tschechischen oder mitteleuropäischen Bahnhof konnte man eine sehr dramatische Geschichte beobachten oder ansiedeln.

Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis posiert am Donnerstag (15.03.2012) in Leipzig auf der Leipziger Buchmesse mit seinem Buch "Alois Nebel" aus dem Luchterhand Literaturverlag.
Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis posiert am Donnerstag (15.03.2012) in Leipzig auf der Leipziger Buchmesse mit seinem Buch "Alois Nebel" aus dem Luchterhand Literaturverlag.© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Hanselmann: Aber eine Mordgeschichte hat ihr Großvater nicht erlebt?
Rudis: Nee, aber die haben schon erlebt, also wirklich 1938, als das Sudetenland vom Dritten Reich besetzt wurde, da war das schon so ein bisschen dramatisch, da mussten sie mit so einem Zug auch flüchten aus Nordböhmen nach Böhmen. Ich bin ja im Sozialismus aufgewachsen, und uns wurde natürlich immer noch erklärt, ja, die Deutschen, Sudetenland, das sind alles Nazis, das waren alles Nazis und so was. Und eigentlich erst nach der Wende konnte man zu diesem Thema etwas erzählen und konnte man sich auch damit beschäftigen und konnte man sich das auch ohne Vorurteile anschauen.
Hanselmann: Der Film spielt im Altvatergebirge, in Jesenike genau. Dort sagen sich nicht Fuchs und Hase gute Nacht, heißt es im Film, sondern die Werwölfe. Was ist das Besondere an diesem Gebiet?
Rudis: Ja, selbst sehr viele Tschechen kennen das nicht, weil das ist schon so ein bisschen am Rande von Mitteleuropa, aber auch am Rande von Tschechien, von meinem Land. Das Altvatergebirge ist eine Grenzregion, jetzt grenzt es an Polen in Nordmähren, Schlesien, da in diesem Teil der Welt. Da kommt der Jaromír 99 her, der ist in Jessing, Freiwaldau dann aufgewachsen und eigentlich schon mit seiner Band Priessnitz, die auch den Soundtrack zu "Alois Nebel" komponiert hat, der hat diese märchenhafte, abgelegene, sehr romantische, bisschen düstere Gegend thematisiert, und das ist eine Art Fortsetzung. Wir haben schon eine gewisse Art Chronik von diesem Teil von Mitteleuropa in "Alois Nebel" oder mit "Alois Nebel" geschrieben.
Hanselmann: Bei der Gelegenheit, weil Sie ihn erwähnen, erzählen Sie uns kurz, wer ist Jaromir 99?
Rudis: Jaromír 99 ist ein tschechischer Rockstar. Der ist wirklich sehr bekannt als Rockmusiker in Tschechien. Seine Band Priessnitz ist so was wie Tocotronic von Tschechien, und der ist aber auch ein sehr talentierter Maler, Zeichner, und "Alois Nebel" ist seine erste Graphic Novel. Die hat er mit mir gemacht. Jetzt hat er zum Beispiel Kafkas "Schloss" auch in eine Graphic Novel umgesetzt, jetzt ist das gerade auch auf Deutsch erschienen. Wir kennen uns sehr lange aus einer Prager Kneipe, "Zum ausgeschossenen Auge", da ist eigentlich diese Geschichte entstanden wirklich. Es gibt diese Klischees …
Überrascht, dass der pummelige Eisenbahner auch den deutschen Lesern zusagt
Hanselmann: "Zum ausgeschossenen Auge" heißt die Kneipe?
Rudis: Ja, so heißt die wirklich, ja, so eine alte Prager Bohème-Kneipe. Man trifft sich dort und erzählt Geschichten, wie das so in Böhmen und Prag ist. Und ich hab einmal Jaromír über meinen Großvater erzählt. Und er fand es irgendwie spannend, diese Züge, Geister der Vergangenheit, und es war eigentlich seine Entscheidung, das als eine Graphic Novel zu machen. Und es war für uns eine große Überraschung, dass das funktioniert, und der erste Band, "Billý Potok, Weißbach", so heißt der Ort, wo die Geschichte spielt, war dann zu unserer großen Überraschung ein Erfolg in Tschechien. Und dann haben wir zwei Bände dazu noch geschrieben, gezeichnet, gemacht, aber wir haben nie gehofft oder nie dran geglaubt, dass das irgendwie international wird, oder dass dieser pummelige Eisenbahner Alois Nebel auch den deutschen Leser oder Zuschauer was zu sagen hätte.
Hanselmann: Der total griesgrämig ist und eigentlich unsympathisch sein müsste, aber man hat ihn lieb im Laufe des Films.
Rudis: Hoffentlich. Ich meine, der ist schon ein netter Kerl eigentlich.
Hanselmann: Sie haben es gerade selber angesprochen. Wie ist das heute in Tschechien? Was wissen die jungen Leute in Ihrem Land über dieses Kapitel deutsch-tschechischer Geschichte, über die Sudetendeutschen und so weiter?
Rudis: Es wird auf jeden Fall jetzt seit einiger Zeit schon zu einem Thema. Es entstehen viele Filme dazu und viele Bücher wurden dazu geschrieben, weil das Thema so lange tabuisiert war. Da liegen einfach unglaublich viele Geschichten begraben. Sehr spannende Geschichten, die konnte man dann plötzlich entdecken. Und das ist für uns alle zu einer großen Entdeckungsreise geworden.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton. Ich spreche mit Jaroslav Rudis, er ist Drehbuchautor, schreibt Hörspiele, ist Schauspieler und Musiker. Von ihm und dem Künstler Jaromír 99 stammt die Geschichte des Films "Alois Nebel", die heute als Film in unsere Kinos kommt und ursprünglich als Graphic Novel erschienen ist. An dieser Stelle, Herr Rudis, müssen wir über die Machart des Films sprechen. Es ist ja kein normaler Animationsfilm, bei dem Bilder gemalt oder am Computer entworfen werden und dann animiert werden. Der Film ist mit Hilfe der Rotoskopie entstanden. Erzählen Sie uns, wie das funktioniert.
Zwei Filme in einem: Animation und Spielfilm
Rudis: Ja, das war nicht leicht alles. Wir haben lange überlegt, wie wir die Graphic Novel umsetzen können in den Film, und da kam der Tomás Lunák, der junge tschechische Regisseur, mit der Idee der Rotoskopie, und er dachte, ja, uns war klar, wir wollten irgendwie mit der Graphic Novel, mit der Vorlage, dass das irgendwie zusammenhängt. Und wir wollen das nicht verlassen, wir wollen keinen Spielfilm machen. Und der Tomás kam mit der Idee, dass wir einen Spielfilm machen, der aber dann animiert wird. Also sind das so zwei Filme in einem. Wir haben eine gespielte Fassung mit den realen Schauspielern, gedreht an den realen Orten, auch im Altvatergebirge. Und dann haben wir das über zweieinhalb Jahre animiert, also überzeichnet.
Hanselmann: Das heißt, die real gedrehten Bilder werden dann nachgezeichnet – einzeln?
Rudis: Genau. Genau, ja. Eigentlich gibt es natürlich – da waren so an die 50 Animatoren an der Arbeit. Also zwischen Tschechien und Deutschland war …, ein Teil der Animationsarbeiten ist bei Balance Film in Dresden entstanden, also es ist eine deutsch-tschechoslowakische Koproduktion. Aber das war natürlich sehr viel Arbeit, und es ist eine bewegte Graphic Novel, das war unser Ziel. Aber das war natürlich sehr lang. Wir haben über viereinhalb Jahre damit verbracht, und ich kann mich von "Alois Nebel", von dieser Geschichte eigentlich immer noch nicht irgendwie befreien. Der ist immer noch mit uns, mit Jaromír, bei uns. Wir würden sehr gerne eine neue Graphic Novel dazu machen, aber dieser Kerl, dieser Alois, der ist uns hinterher.
Hanselmann: Ich frage mich die ganze Zeit – Sie sprechen perfekt Deutsch – fühlen Sie sich eigentlich eher als Tscheche, oder als was fühlen Sie sich? Als Europäer?
Rudis: Als Bahnfahrer vielleicht …
Hanselmann: Als Bahnfahrer!
Rudis: Nee, nee, aber ich bin sehr viel unterwegs hier in Mitteleuropa und zwischen Tschechien und Deutschland, aber auch Polen oder Österreich. Viel auch mit dem Zug. Ich bin auch in der Nähe von der deutschen Grenze aufgewachsen, deshalb spreche ich auch Deutsch. Und ich finde das Zusammenleben hier einfach sehr spannend, also diese gemeinsamen Geschichten, die wir haben, weil ich denke, es gibt keine so nur tschechische Geschichte oder eine polnische oder österreichische, ungarische oder deutsche Geschichte von Mitteleuropa. Letztendlich finde ich auch, es ist ganz egal, wer wem was angetan hat in der Vergangenheit, weil wir haben das selber uns angetan. Ich bin eher so dafür, es gibt eine einzige mitteleuropäische Seele, und wir sind ein Teil davon, und auch der Alois Nebel.
Hanselmann: Jaroslav Rudis, mitteleuropäischer Bahnfahrer. Ganz herzlichen Dank und viel Erfolg für den Film!
Rudis: Danke auch, schönen Tag noch. Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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