Von Normalität weit entfernt
Die Sudetendeutschen treffen sich in Augsburg zu ihrem Pfingsttreffen. Eines ihrer Themen dort ist, ob sie nun ihre Restitutionsforderungen für die Enteignungen nach dem Krieg streichen. Der Journalist Richard Szklorz meint, dies würde weitere Türen nach Böhmen öffnen.
Die Sudetendeutschen waren schon immer speziell. Bereits in Zeiten, als es den Begriff der "Sudetendeutschen" noch gar nicht gab. Damals waren sie einfach Böhmen, Mährer, Österreichisch-Schlesier, die aber Deutsch als Muttersprache hatten. Wie Hans Kudlich zum Beispiel, Gregor Mendel, Marie von Ebner-Eschenbach, wie Sigmund Freud, Franz Kafka oder Edmund Husserl.
Einst waren die Böhmischen Länder, die heute Tschechien heißen und nach dem Krieg gründlich gesäubert und ethnisch rein wurden, ein zweisprachiges Land. Beide Volksgruppen lebten überwiegend friedlich miteinander, gemischte Ehen waren gang und gäbe. So verhielt es sich seit Generationen. Deshalb tragen viele Tschechen Namen wie Klaus, Wagner oder Rádl, während manche Deutschböhmen Konwitschny, Dworschak oder Zischka heißen.
Der Phantomschmerz des Jahrzehnte zurückliegenden Eingriffs
Die Deutschen hätten alle Voraussetzungen gehabt, zusammen mit den Tschechen ein Staatsvolk zu bilden. Diese Chance ist längst verwirkt. Doch um sich dies offen einzugestehen, braucht es manchmal 70 Jahre. Nun treten die Letzten der Generation ab, die die Vertreibung noch selbst erlebten, nun bricht sich Realismus die Bahn und hält Einzug sogar in die Statuten. Die Sudetendeutschen fordern keine Erstattung mehr für die Enteignungen der Beneš-Dekrete bei Kriegsende.
Dennoch verursacht dieser irreversible Eingriff in das über Jahrhunderte gewachsene deutsch-tschechische Gemeinwesen Phantomschmerzen. Vielleicht mehr auf der tschechischen Seite als bei den Nachkommen der Vertriebenen. Denn die Spuren der Vergangenheit bilden heute für die neuen Bewohner die Kulisse ihres Alltags. Sie erinnern, manchmal unverhofft, an die verlorene Gemeinsamkeit. Und werfen Fragen auf: War die eigene tschechische Identität vielleicht immer schon eine binationale und keine slawisch-homogene?
Seit dem 19. Jahrhundert haben Nationalisten von Generation zu Generation den Tschechen das Bild vom deutschen Urfeind eingeflößt, bis es fast alle glaubten. Mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 wurden die Deutschen, mit über drei Millionen immerhin ein Drittel der Bewohner, zur Minderheit im eigenen Land erklärt. Diese Kränkung saß tief. Viele, zu viele warfen sich 20 Jahre später dem Diktator aus Berlin in die Arme. Sie taten es gerne, auftrumpfend, jubelnd. Mit schrecklichen Folgen für die Tschechen. Das war mehr als nur ein Riss.
Eine barbarische Reaktion auf die Barbarei der Nazibesatzung
Für tschechische Deutschenfresser gibt es bis heute keine individuelle, sondern nur die kollektive Schuld. Bis heute gilt für sie: "Sie wollten heim ins Reich, also wurden sie dahingeschickt". Am Ende legte man sogar den wenigen deutschsprachigen Juden, die die Nazizeit überlebt hatten, nahe, das Land zu verlassen. Keine Frage: Dies war eine barbarische Reaktion auf die Barbarei der Nazibesatzung, ein kultureller Genozid, zweifellos. Zugleich ein selbstzerstörerischer Akt auf der tschechischen Seite, dessen Ausmaß erst Jahrzehnte später reflektiert wird.
Die Statutenänderung der Sudetendeutschen wird weitere Türen nach Böhmen öffnen. Doch sie ist nicht unangefochten. Die Rechtsaußen in den Reihen der Landsmannschaft möchten sie rückgängig machen. Sie sagen den europazugewandten Reformern an der Verbandsspitze den Kampf an. Und auch in Tschechien verweigern sich manche Zeitgenossen der Gegenwart. Sie werden weiter Beneš-Denkmale errichten. Und sie werden weiterhin so tun, als hätte es die Deutschen nie gegeben oder als wären sie schlimmstenfalls eben nur eine "Minderheit" gewesen. Für Freude ist es noch zu früh.
Richard Szklorz, geboren und aufgewachsen in der Nachkriegs-Tschechoslowakei, studierte an der Universität Tübingen und an der Freien Universität Berlin. Lange lebte er in London, Jerusalem und New York, wovon die New Yorker Zeit beinahe seine zweite Auswanderung wurde. Nach der Wende bereiste Szklorz als Redakteur der Wochenzeitung "Freitag" zum ersten Mal wieder sein Geburtsland und andere ostmitteleuropäische Staaten. Inzwischen lebt er in Berlin. Seit Mitte der 1990er Jahre arbeitet Szklorz als freier Journalist für Zeitungen und Rundfunkanstalten. Er ist Autor zahlreicher Glossen über den deutschen Alltag sowie von Kommentaren, Rezensionen und Berichten aus der jüdischen und jüdisch-deutschen Welt.