Der Weg zur Freiheit ist noch lang
Die Trauer um Nelson Mandela geht einher mit Stolz, Dankbarkeit und dem Willen, dessen Ziele weiterzuverfolgen. Der Abschied könnte eine weitere Etappe in eine lebendige Zivilgesellschaft einläuten, meint Leonie March.
Die Zeit stand still. Eine Woche lang hat Südafrika innegehalten. In Trauer, in wehmütiger Erinnerung, in nationaler Selbstreflektion. In den Medien gab es kein anderes Thema als das Lebenswerk Nelson Mandelas und das Erbe, das er seinem Land hinterlassen hat.
Es ist großartig und erdrückend zugleich, eine enorme Verantwortung. Viele hegen Zweifel, ob die junge Demokratie ihr gewachsen ist. Das Potenzial ist vorhanden. Die Tage der Trauer waren auch eine Zeit des überwältigenden Gemeinschaftsgefühls. Fast könnte man meinen, eine Woche lang habe es keine gewaltsamen Überfälle, keinen Hunger und keine Korruption gegeben. Fast. Hinter den Kulissen setzt sich der Alltag natürlich fort. Südafrika ist zwar nicht mehr schwarz-weiß, aber auch noch weit entfernt von schillernden Regenbogenfarben. Die Kluft zwischen arm und reich prägt das Land heutzutage ebenso drastisch wie früher die Apartheid. So gingen viele nach der verregneten Trauerfeier in ihre ärmlichen Blechhütten, andere verschanzten sich wieder hinter hohen Mauern und Elektrozäunen.
Vollmundige Würdigungen und Worthülsen
Es blieb ein schaler Geschmack nach all den vollmundigen Würdigungen, von denen viele offensichtlich nur aus Worthülsen bestanden. Simbabwes autokratisch regierender Präsident Robert Mugabe lobte seinen - so wörtlich - guten Freund Nelson Mandela als bescheidenen, prinzipientreuen und mitfühlenden Anführer. Aus seinem Mund klingt das fast wie eine Beleidigung. Vergeblich suchte man unter den Ehrengästen nach jemandem, der dem politischen und menschlichen Format Mandelas auch nur annähernd nahe kommt.
US-Präsident Barack Obama hielt zwar die wohl beste Rede; beseelt vom versöhnlichen Geist des Verstorbenen kam es sogar zu dem symbolischen Handschlag mit Kubas Präsident Raúl Castro. Doch kaum jemand glaubt, dass dieser Geste nun tatsächlich Taten folgen. Echte Versöhnung sieht anders aus.
Die Lücke, die Nelson Mandela hinterlässt, wurde an diesem Tag schmerzlich bewusst. Südafrikas Präsident Jacob Zuma wurde auch deshalb vom Publikum ausgebuht, weil er stellvertretend für den Verrat an den Idealen des Freiheitskampfes steht, für eine korrupte Elite, die den Bezug zur Bevölkerung verloren hat. Im Rahmen einer Trauerfeier waren diese Buh-Rufe vielleicht unangemessen, aber sie waren auch Ausdruck einer lebendigen Demokratie.
Die Regierungspartei ANC kann sich nicht mehr nur auf ihren Lorbeeren als Befreiungsbewegung oder Partei Mandelas ausruhen. Fast 20 Jahre nach den ersten freien Wahlen am Kap beginnen viele Bürger eine kritische Bilanz zu ziehen. Was bedeutet es, in Freiheit in einem Land mit einer der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt zu leben, wenn Armut und Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Korruption, Aids und Aussichtslosigkeit den Alltag prägen? Die Antwort auf diese Frage treibt einen Teil der jungen, schwarzen Südafrikaner in die Arme von Populisten, die nach einer Enteignung weißer Farmen ohne Entschädigung und der Verstaatlichung des Bergbaus rufen. Auf der anderen Seite formiert sich eine kleine Gruppe weißer Extremisten, die sich auf einen bewaffneten Kampf vorbereitet, um ihren Besitz zu verteidigen. Beide spielen mit alten Ressentiments und rassistischen Stereotypen. Beide sind glücklicherweise noch in der Minderheit.
In der Trauer gestärkt
Die Mehrheit der Südafrikaner ist nicht bereit, ihre mühsam errungene Freiheit leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Auch das wurde in den vergangenen Tagen deutlich. Das kollektive Innehalten angesichts des Todes Nelson Mandelas hat die Nation gestärkt. Junge Südafrikaner haben erfahren, welchen Weg ihr Land bereits zurückgelegt hat und welche Hürden es dabei genommen hat. Auch jene, die unüberwindbar schienen. In das Gefühl der Trauer mischen sich Stolz, Dankbarkeit und die Motivation, die Ziele Mandelas weiterzuverfolgen. Nicht aufzugeben. Sich zu engagieren. Wenn diese Stimmung auch im Alltag anhält, dann könnte Südafrika eine weitere Etappe auf seinem langen Weg erreichen. Das Potenzial dazu ist vorhanden: Eine lebendige Zivilgesellschaft, kritische Medien, unabhängige Gerichte und eine wachsende Zahl an Oppositionsparteien. Ein solides Fundament, auf dem die Bürger in der neuen Ära nach Nelson Mandela aufbauen können.