In dieser Folge des Weltzeit-Podcasts hören Sie auch von unserer Johannesburg-Korrespondentin Jana Genth mehr über die zarte Umweltbewegung in Südafrika: In dem Industrieland gab es Fridays-for-Future-Proteste, aber gerade wurde auch das viertgrößte Kohlekraftwerk der Welt in Betrieb genommen – ohne großen Widerstand, eher mit der Hoffnung auf keine Stromausfälle mehr.
Anpacken ohne den Staat
23:08 Minuten
Im Juli gab es in Südafrika Plünderungen mit Hunderten Toten und Milliarden-Schäden. Jetzt läuft der Wiederaufbau, der von der Zivilgesellschaft vorangetrieben wird. Beschleunigt durch Corona wird damit auch das Versagen der ANC-Regierung deutlich.
Wiederaufbau in Briardene, einem Viertel in Durban: Kleine Häuschen drängen sich am Hang in unmittelbarer Nähe eines Gewerbegebiets. Während der schweren Unruhen im Juli war es Ziel von Massenplünderungen und Brandstiftung. Kurz darauf war auch in dem kleinen Wohnviertel ein Feuer ausgebrochen, dort wo die Ärmsten leben, dicht an dicht in Wellblechhütten.
Von dem Häuschen, in dem Thapelo Mohapi mit seiner Familie gewohnt hat, ist nur das Fundament geblieben. Ihr Hab und Gut ist verbrannt. So wie das ihrer Nachbarn. Wie alle hier baut Mohapi jetzt eine neue Bleibe, hämmert mit seinem Bruder Thuso Wellblech an einen dünnen Holzrahmen. Was oder wer den verheerenden Brand ausgelöst hätte, sei unklar, erzählt er.
"Die Polizei untersucht solche Fälle nie. In diesem Land ist es normal, dass arme Menschen verbrennen. Um mein Haus herum haben wir Spuren von Diesel entdeckt. Das wirft natürlich die Frage auf, ob es sich hier um eine Art Racheakt handelt. Nach den Plünderungen sind zunächst Geschäfte niedergebrannt worden. Seitdem kursieren teils rassistische Nachrichten in sozialen Medien, in denen es heißt, die Plünderer seien aus informellen Siedlungen wie dieser gekommen. Sie rufen dazu auf, sie niederzubrennen."
Seit Jahren setzt sich Thapelo Mohapi als Sprecher der zivilgesellschaftlichen Organisation Abahlali baseMjondolo für die Rechte dieser sogenannten shack dwellers ein. Die Ärmsten der Gesellschaft, die in allen Städten Südafrikas in derartigen Blechsiedlungen leben und dabei häufig in Konflikt mit Behörden und Anwohnern der Nachbarviertel geraten.
Corona wirkt wie eine Lupe für gesellschaftliche Probleme
Mohapi bestreitet nicht, dass sich auch einige Bewohner seines Viertels an den Plünderungen beteiligt haben, die auf Proteste gegen die Inhaftierung von Ex-Präsident Zuma gefolgt waren. Aber es sei unfair und gefährlich, sie nun pauschal als Sündenböcke darzustellen.
"Die Mehrheit unserer Mitglieder sagt: Selbst wenn wir Hunger haben, nehmen wir nicht, was uns nicht gehört. Wir wollen unsere Würde bewahren. Und das, obwohl die Versuchung groß war: Sie haben Leute gesehen, die teure Kühlschränke und Lebensmittel angeschleppt haben, die das Chaos als Chance genutzt haben. Überraschend ist das nicht, angesichts der Notlage vieler, die sich durch Corona-Pandemie und Lockdown noch verschärft hat. Ihre Armut und Wut waren diesmal auch für wohlhabendere Bürger unübersehbar, die sonst kaum etwas davon mitbekommen. Wir warnen schon lange davor, dass sich die Wut auf unterschiedliche Weise entladen kann."
Es war nicht die einzige Warnung. Seit Beginn der Corona-Pandemie schlagen viele zivilgesellschaftliche Organisationen in Südafrika Alarm: Die Pandemie wirke wie eine Lupe, die gesellschaftliche Probleme nicht nur deutlicher sichtbar mache, sondern auch verschärfe. Die Arbeitslosenquote liegt auf einem historischen Hoch von über 30 Prozent, junge Südafrikaner haben kaum Bildungschancen und Perspektiven.
Die Regierung habe jedoch nur langsam und unter zunehmendem Druck reagiert, sagt Vuyiseka Dubula vom Centre for Civil Society an der Universität von KwaZulu-Natal.
"Die Zivilgesellschaft hatte einen großen Anteil daran, dass sich die Haltung des Staates in der Reaktion auf Covid-19 verändert hat. Der Staat hat sich in erster Linie auf die Pandemiebekämpfung konzentriert. Dabei hatten wir hier nicht nur ein medizinisches Problem, sondern auch ein soziales. Viele Menschen sind arm, die Kluft zwischen Arm und Reich in Südafrika ist riesig. Wie sollen Menschen einen Lockdown überstehen, wenn sie kein Essen und oft nicht einmal Wasser haben? Diese Frage musste erst die Zivilgesellschaft der Regierung ins Bewusstsein rufen. Ohne sie wären wir in einer noch viel schlimmeren Situation, die mehr Menschen das Leben gekostet hätte."
"Regierungspartei ANC hat die Armen im Stich gelassen"
Auch beim Wiederaufbau nach den Unruhen haben lokale und internationale Organisationen vor der Regierung Hilfe geleistet. Nach dem Feuer im Armenviertel von Briardene stellten sie ein Zelt als Notunterkunft auf, versorgten die obdachlosen Menschen mit Decken, Matratzen, dem Notwendigsten. Von der Regierung keine Spur, sagt Thapelo Mohapi. Das sei schon lange so:
"Sowohl die Ramaphosa Regierung als auch die unter Zuma – die Regierungspartei ANC hat die Armen im Stich gelassen. Und wir dürfen nicht vergessen, wer für das alles verantwortlich ist. Ohne die politischen Flügelkämpfe im ANC, ohne die Spaltung der Partei und die Korruption wäre es nicht zu diesen Ausschreitungen und Spannungen gekommen. Wenn die Armen versorgt würden und es gleiche Chancen auf Arbeit für alle gäbe, wären wir heute nicht hier."
Die Stadtverwaltung habe erst nach drei Wochen Baumaterialien für neue Wellblechhütten zur Verfügung gestellt, sagt Mohapi. Zunächst auch nur für Südafrikaner – nicht für Flüchtlinge und Einwanderer, die hier ebenfalls leben und denen regelmäßig Fremdenfeindlichkeit entgegenschlägt – auch vonseiten staatlicher Stellen.
"Wir sprechen uns schon lange gegen Fremdenfeindlichkeit aus und tun das auch jetzt. Leider reagiert die Regierung nicht darauf. Mit unseren 100.000 Mitgliedern rufen wir zur Ruhe auf. Auch in Vierteln, in denen Konflikte zwischen indisch-stämmigen und schwarzen Südafrikanern eskaliert sind. Wir versuchen, beide Seiten zu verstehen und zu vermitteln. Denn was bringt es uns, gegeneinander zu kämpfen? Damit tun wir nur Politikern einen Gefallen, die nach dem Prinzip teile und herrsche regieren, so wie zu Zeiten der Apartheid. Wir setzen unsere Erfahrung und Netzwerke als Aktivisten ein, um zu Frieden, Stabilität und Wiederaufbau aufzurufen."
Lebensmittel aus der Nachbarprovinz
Mohapi geht ein paar Schritte auf eine Gruppe Frauen zu, die auf offenem Feuer in einem großen Topf Essen für alle kocht, die hier beim Wiederaufbau helfen. Die Hütte nebenan dient ihnen als Speisekammer. Neben Öl in Plastikkanistern und Säcken mit Maismehl türmt sich ein Berg Süßkartoffeln auf. Gespendet von einer befreundeten Organisation, dem Amadiba Crisis Committee aus der Nachbarprovinz Eastern Cape, die von den Unruhen nicht betroffen war. Mohapi ist dankbar:
"Von der Regierung haben wir noch nie Lebensmittelhilfen erhalten. Umso dankbarer waren wir für die Amadiba-Initiative. Sie sind den ganzen Weg hierher mit einem Pick-up voll selbstangebautem Gemüse gefahren, um uns in dieser Krise zu helfen. Das bedeutet uns sehr viel. Auch weil momentan wieder Konflikte zwischen ethnischen und sozialen Gruppen aufflammen und Politiker teils Öl ins Feuer gießen. In diesem Zusammenhang ist die Hilfsaktion auch ein Symbol dafür, dass viele Bürger da nicht mitmachen, dass wir uns nicht spalten lassen, sondern gegenseitig unterstützen."
200 Kilometer südwestlich von Durban, im Pondoland, der Heimat des Amadiba Crisis Committee: Traditionelle Rundhäuser, Hirten mit ihren Herden, Kleinbauern auf ihren Feldern, von denen auch die Süßkartoffeln stammen, prägen die sanfte Hügellandschaft. Kein Vergleich zu den beengten Verhältnissen in Briardene.
Hier scheint die Welt noch friedlich und in Ordnung. Aber der Eindruck trügt: Seit über 15 Jahren verteidigen Aktivsten ihr Land gegen Bergbauvorhaben und den Bau einer Autobahn. Denn beide Projekte würden nicht nur den traditionellen, selbstbestimmten Lebensstil beenden, sondern auch die Einkommensquellen der Landbevölkerung vernichten: Landwirtschaft und Ökotourismus, sagt Nonhle Mbuthuma vom Amadiba Crisis Committee.
"Die Verbindung zwischen Amadiba und Abahlali ist die Landfrage. Abahlali kämpft für ein menschenwürdiges Leben, für Häuser und Land. Wir haben zwar Land und Häuser, aber uns droht Vertreibung und somit ein ähnliches Schicksal wie Abahlali. Deshalb üben wir Widerstand. Und dabei hat Abahlali in der Vergangenheit immer wieder Solidarität bewiesen. Jetzt brauchen sie uns und wir sind froh, dass wir uns revanchieren können. Wir sind zwar nicht reich, aber wir teilen unsere Ernte gerne. So haben die Leute wenigstens etwas zu essen."
Die Verbindung der beiden sozialen Bewegungen ist schon vor der Pandemie entstanden. Durch Corona sind weitere zivilgesellschaftliche Organisationen enger zusammengerückt. Nach dem Motto: In Zeiten physischer Distanz ist soziale Solidarität wichtiger als je zuvor. Sie haben ein Bündnis aus mehreren Hundert Nichtregierungsorganisationen, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Akademikern und Aktivisten gegründet – die C19-People’s Coalition. Es ist das weitreichendste Bündnis dieser Art in Südafrika seit Jahrzehnten.
Nonhle Mbuthuma hat die Hoffnung, dass es auch in post-pandemischen Zeiten Bestand hat: "Wir haben gelernt, dass es nicht ausreicht, seinen eigenen Kampf zu führen. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Denn der Feind ist groß und stark. Wer allein kämpft, wird leicht zur Zielscheibe. Wir versuchen also, die Solidarität unter den diversen sozialen Bewegungen auszubauen. Wir haben auch gelernt, dass wir allein zurechtkommen, wenn wir einander unterstützen. Wir müssen nicht darauf warten, dass die Regierung handelt."
Viele Gerichtsverfahren gegen die Regierung
Dem Staat wird nicht nur vorgeworfen, zu spät zu handeln, sondern in vielen Fällen erst, nachdem Druck ausgeübt wurde. Sprich: Gerichtsverfahren gegen die Regierung häufen sich seit Jahren. Dabei geht es oft um demokratische Grundsätze, wie etwa das Mitspracherecht der Bevölkerung bei Entscheidungen, die sie angehen. Oder um Grundrechte, wie das Recht von Schulkindern auf eine Mahlzeit – auch während des Lockdowns.
Und es sei nicht so, dass die südafrikanische Zivilgesellschaft besonders klagewütig sei, sagt Vuyiseka Dubula von Centre for Civil Societies, die sich selbst als Aktivistin für bezahlbare HIV-Medikamente und gegen Gewalt an Frauen engagiert hat: "Zuerst versucht man zu verhandeln, organisiert Treffen und Proteste.
Erst wenn das alles fehlschlägt, zieht man vor Gericht. Wir haben schon viele Prozesse gegen den Staat gewonnen. Oft sind es Konflikte, die man auch mit einem Gespräch lösen könnte, in dem die Regierung zugibt, dass sie falschliegt. Aber das passiert nicht. Stattdessen fließen Steuergelder, die für die Umsetzung staatlicher Programme gebraucht würden, an Anwälte, in Entschädigungen und Gerichtskosten."
Für zivilgesellschaftliche Organisationen bedeutet das, immer wieder aufs Neue Klagekosten auftreiben zu müssen oder Anwälte, die ohne Honorar arbeiten. Außerdem verstreicht wertvolle Zeit, die für betroffene Bürger im Zweifelsfall längeres Leid und Unsicherheit bedeutet.
Und das obwohl Südafrikas demokratische Verfassung als eine der progressivsten der Welt gelte, sagt Nonhle Mbuthuma vom Amadiba Crisis Committee: "Wir fragen uns, warum wir ständig gegen unsere eigene Regierung vor Gericht ziehen müssen – trotz einer Verfassung, die die Bürger schützen soll. Offensichtlich wird sie nicht angewendet oder nicht verstanden. Es hapert jedenfalls an der Umsetzung. Für jeden Schritt nach vorn macht unsere Regierung zehn Schritte zurück. Und das bedeutet, dass unsere Demokratie, für die unsere Eltern gekämpft haben, in der Krise steckt. Unsere politische Führung sollte sich fragen, was Demokratie überhaupt bedeutet. Für wen ist sie da?"
Zivilgesellschaft ist Rückgrat der Demokratie
Es ist eine Frage, die in Südafrika oft gestellt wird: Danach, was die Demokratie einfachen Bürgern eigentlich gebracht hat, was sich seit der Apartheid spürbar verbessert hat und wo das Land heute, 27 Jahre nach der demokratischen Wende steht.
Eines steht für Vuyiseka Dubula als Aktivistin und Wissenschaftlerin fest: Die historisch starke Zivilgesellschaft, die ihre Wurzeln im Anti-Apartheid-Kampf hat, sei das Rückgrat der südafrikanischen Demokratie.
"Die meisten progressiven Gesetze der Post-Apartheid-Ära sind von unserer Zivilgesellschaft vorangetrieben worden. Der ANC kann sich nicht mehr darauf ausruhen, das Land befreit zu haben. Denn Aktivisten heute fragen, was Freiheit bedeutet, wenn es keine Bildungsgerechtigkeit gibt, keine gute Gesundheitsversorgung, keine Gleichheit. Und sie verteidigen die errungenen Rechte, beispielsweise die Unabhängigkeit der Justiz oder Medien, die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit. Sie weisen darauf hin, dass unser demokratisches Projekt noch immer fragil und unvollendet ist. Sprich: Ohne die Zivilgesellschaft gäbe es in Südafrika ein großes demokratisches Defizit."
Traum von großer sozialer Bewegung
Im Armenviertel Briardene hofft Thapelo Mohapi die Verbindung zu den befreundeten Aktivisten auf dem Land weiter auszubauen. Zum Beispiel mit einem Projekt für Gemüseanbau in den informellen Siedlungen. Hier könnten die Städter viel Praktisches lernen, sagt er. Und er träumt von einer großen sozialen Bewegung in Südafrika.
"Wir wollen eine Bewegung aufbauen, die für die Würde und den Respekt für die Armen steht. Wir wollen mit progressiven Kräften zusammenarbeiten, die Land besetzen und Widerstand leisten, aber gleichzeitig zu Wachstum und Entwicklung beitragen. Ich glaube, dass es jetzt auch in Teilen des ANC einen Sinneswandel gibt. Einige Politiker wollen mit uns zusammenarbeiten, um für Frieden in unserem Land zu sorgen. Ein ehemaliger Ministerpräsident hat mich angerufen und gesagt: ‚Ich schäme mich dafür, dass ihr für das steht, was eigentlich der ANC repräsentieren sollte. Und ihr das sagt, was wir eigentlich sagen sollten.‘"
Ob Pandemie und Umsturzversuch Weckrufe für die Regierungspartei waren, die nun zu grundlegenden Veränderungen, vielleicht sogar einem Kurswechsel führen, daran bestehen Zweifel. Der ANC kämpft mit Korruption, Misswirtschaft und Flügelkämpfen in eigenen Reihen. Das lähmt nicht nur die Partei, sondern das ganze Land. Die Hoffnung liegt nicht in der alten Befreiungsbewegung, sondern in der Zivilgesellschaft, die in der Krise näher zusammenrückt und dort handelt, wo der Staat versagt.