Südamerika - der vergessene Kontinent

Von Robert B. Goldmann |
Lateinamerika ist die vergessene Region dieser Welt. Condoleezza Rice oder Außenminister Steinmeier gehen hin, um ihr Interesse zu bekunden und sich über die Lage in den größeren Ländern zu informieren, und dann sinkt der riesige südamerikanische Kontinent wieder in internationale Vergessenheit. In der Karibik findet sich Fidel Castro ab und zu in den Medien, aber auch sein Neuigkeitswert ist stark zurückgegangen.
Und doch verdient diese spanisch und portugiesisch sprechende Welt – von Mexiko bis Feuerland mit mehr als 600 Millionen Menschen, davon Brasilien das größte und bevölkerungsreichste Land mit mehr als 180 Millionen, mehr Aufmerksamkeit als ihr der Rest der Welt zollt.

Es geht hier in erster Linie um den südamerikanischen Kontinent, wo eine besorgniserregende Welle von Populismus und Demagogie droht, die die dringend notwendige politische und wirtschaftliche Entwicklung verhindern könnte, während sich andere Regionen der Dritten Welt – insbesondere Indien – mit unerwarteter Geschwindigkeit zu Wirtschaftswundern und politischer Macht aufschwingen.

Die Gründe für Südamerikas Probleme sind weitgehend in den einzelnen Ländern zu finden. Aber auch der Koloss im Norden trägt zur Problematik bei. Das vergangene halbe Jahrhundert weist eine nur selten unterbrochene Reihe von Militärdiktaturen und "starken Männern" oder Caudillos auf, die wiederholte Ansätze demokratischer Entwicklung nach kurzer Zeit erstickten.

Ein gutes Beispiel ist Venezuela, wo sich in den fünfziger Jahren nach Jahrzehnten von Caudillos eine Demokratie entwickelte, nur um nach einem halben Jahrhundert vom Populisten und dem selbsternannten USA-Feind Hugo Chavez wieder ins alte Fahrwasser zurückzufallen.

Mit seinem unerschöpflichen Erdölreichtum sieht Chavez die Gelegenheit, sowohl politischen wie auch wirtschaftlichen Einfluss auszuüben, was seinen Vorbildern Fidel Castro und Che Guevara nicht gelang, weil sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügten. Chavez kann es.

So beeilte er sich, den in diesem Jahr gewählten bolivianischen Präsidenten Evo Morales, dem ersten der indianischen Urbevölkerung entstammenden Staatschef Boliviens, für seine Pläne zu gewinnen, worauf Morales nichts besseres zu tun hatte, als die nicht allzu ergiebigen Erdöl- und Gasvorkommen dieses armen Landes zu verstaatlichen. Es gefiel Chavez, aber dürfte dem Land schaden.

Weiter südlich findet es das große und potentiell reiche Argentinien schwer, das Erbe des charismatischen und populistischen Juan Peron abzuschütteln. Er regierte zweimal – von 1946 bis 1955 - als er vielen Nazis Zuflucht gewährte, und dann wieder von 1973 bis 1974, als er von seiner Frau Evita abgelöst wurde. Mit kurzen Unterbrechungen – meist Militärdiktaturen - hält sich der "Peronismo" bis zum heutigen Tag. Carlos Menem, Eduardo Duhalde und der gegenwärtige heutige Präsident Nestor Kirchner nannten und nennen sich stolz "Peronistas”.

Wenn Kirchner auch nicht die Ausstrahlung des Gründers hat und vorsichtiger mit den Finanzen umgeht, hat er sich für die antiamerikanische Politik von Chavez empfänglich gezeigt. Somit übt Chavez seinen Einfluss auf Argentinien und Bolivien aus und hat gute Aussichten, dem aus einer bevorstehenden Stichwahl in Peru hervorgehenden Sieger - entweder dem Populisten Alan Garcia oder dem indianisch-abstammenden Ollanta Humala – behilflich zu sein.

Die große Ausnahme ist Chile, wo Michelle Bachelet - eine im Auftrag von Ex-Diktator Pinochet gefolterte Sozialdemokratin - die demokratischen Wurzeln dieses Landes ehrt und pflegt. Hier herrschen Toleranz und persönliche Freiheit. Frau Bachelets Vorgänger Ricardo Lagos hat ihr eine florierende Wirtschaft hinterlassen.

In Brasilien, befürchteten viele, dass der Gewerkschaftler und zur Demagogie neigende Luis Inacio de Silva – Lula im Volksmund –das Land ins linke und antiamerikanische Lager führen könnte. Seit seiner Amtsübernahme entpuppte er sich als gemäßigter Pragmatiker, der es vermeidet, sich mit Chavez zu streiten, aber seinen eigenen Weg geht. Trotzdem muss man die nationalistische und populistische Strömung Ernst nehmen. Sie kann den Ländern, wo sie vorherrscht, nichts nützen.

Und was tut Washington? Allzu wenig. Die USA haben viel von ihrem einst beträchtlichen Einfluß eingebüsst. Seit Jahrzehnten haben die Vereinigten Staaten keine des Namens werte Lateinamerika –Politik. John F. Kennedy machte mit seiner "Allianz für den Fortschritt” den Versuch, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in der südlichen Hälfte der Hemisphäre zu fördern - und dies in Partnerschaft mit den USA. Sein Tod erstickte diesen im Außenministerium als unrealistisch gesehenen Ansatz im Keim.
Seither hat Washington keine Lateinamerika-Politik mehr. Man hatte mit Vietnam, dem Kalten Krieg und jetzt mit dem Irak und dem Kampf gegen den Terror die Hände voll. Aber das ist kein Grund für die Vernachlässigung des geografisch am nächsten liegenden Kontinent, wo antiamerikanische Strömungen steten Einfluss gewinnen und extremistische Bewegungen ein Echo finden könnten.


Robert B. Goldmann wurde 1921 als einziger Sohn eines jüdischen Landarztes in einem Odenwalddörfchen geboren. Er machte in Frankfurt am Main Abitur. Kurz darauf verließ die Familie Deutschland und kam 1940 über Großbritannien nach New York. Goldmann schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, um sein Studium zu finanzieren. Er war viele Jahre lang Journalist, bevor er sich sozial- und entwicklungspolitischen Aufgaben in der Dritten Welt widmete und schließlich ein Wegbereiter für die deutsch-jüdische Verständigung wurde. 1996 veröffentlichte er sein viel beachtetes Buch "Flucht in die Welt", eine Lebens- und Familiengeschichte. Goldmann arbeitete lange für die Anti-Defamation-League in New York und publiziert noch immer in amerikanischen und deutschen Medien.