Südkoreanische Autorinnen

Gegen das Patriarchat anschreiben

29:51 Minuten
Rückansicht einer Frau, die in einem Bus sitzt - die farbige Beleuchtung der Straßen spiegelt sich in den Fenstern.
Südkoreanische Einsamkeit: Ob als Singles oder in der Familie fühlen sich die Protagonistinnen in der Literatur oftmals allein. © Getty Images / EyeEm / Wonsup Im
Von Margarete Blümel · 04.02.2022
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Frauen haben es in Südkorea oft besonders schwer: Männer dominieren die Arbeitswelt, zudem treiben kaum erfüllbare Schönheitsideale und patriarchalische Strukturen viele Südkoreanerinnen in Essstörungen, Depressionen oder gar in den Suizid.
„Wenn sie erst einmal wach ist, gehen ihr die Dinge leicht von der Hand. Nur das Schminken dauert fast so lange wie das Einschlafen. Zuerst trägt sie ein Reinigungswasser auf, das die Haut beruhigt und die Poren öffnet. Danach eine feuchtigkeitsspendende Lotion. Dann tupft sie ein Gesichtswasser auf, das die Poren wieder schließt. Um der Haut mehr Spannkraft zu verleihen, trägt sie noch eine Lage Feuchtigkeitscreme auf“, heißt es in „Der wahre Grund ihrer Schlaflosigkeit“ von Ae-Ran Kim.
In ihren Kurzgeschichten erzählt die in Seoul lebende Autorin Ae-Ran Kim davon, wie der Druck, gewissen Schönheitsidealen zu entsprechen, vielen Südkoreanerinnen zusetzt. Dazu gehört die morgendliche Schminkprozedur der meisten südkoreanischen Frauen. Die Autorin sagt: „Zu den Themen, mit denen ich mich beschäftige, kommen jetzt vermehrt neue Anliegen hinzu, die die junge Generation betreffen: die in den Städten grassierende Wohnungsnot oder die Suche nach einem guten Job. Dabei ist mir vor allem bei den jungen Frauen aufgefallen, dass sie sich jedes Versagen selbst zuschreiben. Und sie übernehmen dafür auch die Verantwortung.“

Selbstzweifel übertünchen

Ae-Ran Kims Protagonistin kann nicht schlafen. Sie ist essgestört und unglücklich. Die junge Frau, die sich wünscht, von allen gemocht zu werden, will intellektuell daherkommen, aber trotzdem bescheiden wirken. Eine Frage quält sie besonders: Wie viel Einsamkeit muss der Mensch ertragen können, um gegen sein Verlorensein in dieser Welt und gegen all die Missverständnisse immun zu werden? Ihre Selbstzweifel versucht sie, Tag für Tag durch das Vollführen ihres Schminkrituals buchstäblich zu übertünchen, wobei sie sich, wie es heißt, an die Grundregeln des Make-ups wie an die Verkehrsregeln hält.
„Lauf, Vater, lauf!“ heißt eine der Kurzgeschichten der 41-jährigen Autorin. Darin läuft der Vater einen Tag vor der Geburt seiner Tochter einfach davon.

Ich habe meinen Vater nie rennen sehen. Und doch war er für mich immer ein Läufer. Für Mutter allerdings soll mein Vater kein einziges Mal gerannt sein. Nicht als sie sich von ihm trennen wollte, nicht als sie ihm sagte, er fehle ihr, nicht als sie mich zur Welt brachte.“

Ae-Ran Kim: „Lauf, Vater, lauf!“

„In `Lauf, Vater, lauf!` wird die Skepsis junger Menschen deutlich, mit der sie sich selbst und ihr Umfeld betrachten“, sagt Ae-Ran Kim. „Sie sind neugierig auf das Leben und haben Zukunftsfantasien, zweifeln aber auch viel. Außerdem leiden praktisch alle meine Protagonistinnen und Protagonisten daran, ihre Bedürfnisse nicht erfüllen zu können und sie definieren sich sehr über ihr Geschlecht.“

Gestörtes Verhältnis zwischen den Geschlechtern

Nicht nur die Frauen haben ihre Schwierigkeiten mit den Männern, auch die Männer tun sich in Südkorea schwer mit den Frauen. Das gestörte Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist in den sozialen Medien sowie in Erzählungen und Romanen vor allem von Autorinnen immer wieder Thema. Ihre Protagonistinnen sprechen vielen Leserinnen aus der Seele, wenn sie zum Beispiel darüber klagen, dass zu viele koreanische Männer der Sorte „Hanguk-Man“ oder auch „Hanam“ angehören.
Kyong-Hae Flügel, die als Übersetzerin südkoreanischer Literatur tätig ist, erzählt, was damit gemeint ist: „Hanam ist so abfälliger Ausdruck von koreanischen Männern. Koreanischer Kerl, der einfach Frauen ausbeutet, sich nicht um die Erziehung kümmert oder Windeln nicht wechselt. So was ist gemeint. Nicht abwäscht und sich bedienen lässt, so paschamäßig.“ 

Disziplin und Gleichmut

Obwohl die Bedeutung des Konfuzianismus in Südkorea abgenommen hat, scheinen etliche Männer ihre privilegierte Position in der Gesellschaft nicht aufgeben zu wollen. Das führt inzwischen vermehrt zu Misstönen, mit denen sich einige Autorinnen immer wieder befassen.
Anderseits schmiedet das konfuzianische Regelwerk die Bevölkerung immer noch zusammen, was bei der Übersetzung literarischer Texte berücksichtigt werden muss, wie Kyong-Hae Flügel erläutert: „In Korea spielt das Alter eine große Rolle. Das zeigt sich in verschiedenen Sprachformen, Anrede, Verhaltensmustern gegenüber älteren Menschen. Diese Form des Respekts vor dem Alter ist in Deutschland nicht so ausgeprägt. Man muss dann die Sprache anpassen und Handlungen von Figuren erklären.“
Mit den Eltern zu diskutieren oder ihnen gar zu widersprechen, sei bis heute tabuisiert, betont Kyong-Hae Flügel. Sie lebt seit 1996 in Deutschland, hält sich aber regelmäßig in Südkorea auf.
Was die südkoreanische Bevölkerung eint, ist nicht nur eine stoische Disziplin, sondern auch die im Konfuzianismus gepriesenen Tugenden wie Sorgfalt, Fleiß und Gleichmut. Damit hat man es binnen weniger Jahrzehnte zumindest nach außen hin weit gebracht.
Die Schriftstellerin Han Kang meint dazu: „Unsere Gesellschaft hat in der Tat in viel zu kurzer Zeit einen enormen Wandel vollzogen. Deshalb gibt es hier viele Dinge, die zueinander in Widerspruch stehen oder manchmal auch nur zu stehen scheinen. All das existiert zusammen wie ein Hybrid.“

Lieber als Pflanze leben

Han Kang ist 51 Jahre alt und hat einen Großteil der Veränderungen selbst erlebt. Sie kennt die bis heute vorherrschenden patriarchalischen Strukturen zur Genüge. Sie weiß, dass Frauen bei der Jobsuche trotz gleicher Qualifikation gegenüber Männern benachteiligt werden und dass viele Südkoreanerinnen vor einer Bindung zurückschrecken.
Mit „Die Vegetarierin“ hat Han Kang einen internationalen Bestseller geschrieben. Das Buch wurde verfilmt und in viele Sprachen übersetzt. Es erzählt die Geschichte von Yeong-Hye, einer Frau, die in den Augen ihres Ehemanns durchschnittlicher nicht sein könnte. Wegen seines ausgeprägten Hangs zur Nabelschau bemerkt ihr Gatte viel zu spät, dass Yeong-Hye die ihr innewohnende Energie dazu verwendet, sich in eine Pflanze zu verwandeln.
„Die Menschen in meinen Romanen wollen sich häufig einfach nicht mit der Oberflächlichkeit abfinden“, sagt Han Kang. „Sie versuchen, sich der Belanglosigkeiten zu entledigen, die sie in ihrem Leben wahrnehmen, und herauszufinden, was wirklich für sie zählt. Sie sind keine Outlaws, die sich allen Regeln verweigern. Aber in ihrem Universum ist dies der einzige Weg, den sie einschlagen können.“

Der Schmerz und die Kraft der Frauen

Han Kang kann nach dem großen Erfolg ihres Romans als Schriftstellerin leben. Vorher hatte sie zehn Jahre lang kreatives Schreiben an der Universität unterrichtet. Sie erzählt: „Während meiner Lehrtätigkeit bin ich einer ganzen Reihe von Autorinnen begegnet, die sich als Feministinnen begreifen. Bei ihnen geht es nicht nur um den Schmerz, den Frauen in ihrem Alltag erleiden. Es geht auch um die Kraft der Frauen, um ihr ausgeprägtes Temperament und um Solidarität.“
Südkorea ist ein „Leseland“ und der südkoreanische Markt für Belletristik ist breit gefächert. Thriller stoßen auf großes Interesse. Ähnlich verhält es sich mit Erzählungen, die die patriarchalischen Strukturen, die Fallstricke des südkoreanischen Familienlebens und die Beziehungen der Geschlechter zueinander behandeln.
Bedient wird das Interesse von einigen im ganzen Land bekannten Autoren und Autorinnen, deren Neuerscheinungen in den sozialen Medien geteilt und diskutiert werden. Bis kurz vor Beginn der Coronapandemie traten einige von ihnen sogar in Fussballstadien oder bei anderen Großevents auf. Die Autorin Jeong-Yu Jeong vermisst diesen intensiven Kontakt zum Publikum in Pandemiezeiten sehr.

„In meiner Welt darf keine Fliege ziellos fliegen“

Auch in ihren Büchern fühlen sich die Protagonistinnen als Single genauso einsam wie im Familienverbund, sie suchen nach Lösungen oder beißen sich mithilfe täglicher Rituale und ihrer unermüdlichen Disziplin irgendwie durch. Vier Thriller und drei Romane hat die 55-jährige Jeong-Yu Jeong bisher publiziert. Sie bereitet sich akribisch auf jedes ihrer Werke vor, wie sie sagt.

In meiner Welt darf keine einzige Fliege ziellos fliegen. Damit das möglich ist, muss ich meine jeweilige Bühne und die dazugehörigen Menschen genauso gut kennen wie Gott. Ich versuche, meine Romanwelt sehr genau zu ergründen, aber dabei niemals zu vergessen, dass das, was immer ich beschreibe, natürlich wirken soll.

Jeong-Yu Jeong, Schriftstellerin

In Jeong Yu-Jeongs Krimi „Der gute Sohn“ geht es um einen Mann, der noch mit 25 Jahren bei seiner Mutter und Tante lebt und von diesen seit seinem 9. Lebensjahr mit Medikamenten vollgestopft und damit kontrolliert wird – bis er sich ihrer entledigt.  
Die 1966 geborene Jeong Yu-Jeong schreibt Romane und Krimis, in denen die verschlungenen Pfade, auf denen ihre Figuren wandeln, straucheln oder stürzen, ein komplexes Bild der südkoreanischen Gesellschaft abgeben. In ihre Beschreibungen lässt sie auch Elemente aus dem Schamanismus einfließen, einem Glauben, in dem viele farbenprächtige Rituale und die Verehrung von Natur und Geistern eine Rolle spielen.
Ebenso beharrlich und unnachgiebig wie die Autorin ihren Protagonisten in die Abgründe ihres Lebens folgt, hat sie auch ihre Karriere vorangebracht, wie sie erzählt: „In Südkorea gibt es eine Tradition: Um als Autor oder als Autorin etwas zu gelten, muss man erst einmal einen Literaturpreis gewinnen. Erst dann kann man als Schriftstellerin etwas gelten. Ich bin elfmal gescheitert. Elfmal, bis ich endlich meinen ersten Literaturpreis gewonnen habe. Ich hatte es wirklich nicht leicht.“
(DW)

Sprecher: Frauke Poolman, Julia Brabandt und Max Urlacher
Regie: Klaus Michael Klingsporn
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Dorothea Westphal

Erwähnte Bücher:
Ae-Ran Kim: „Der wahre Grund ihrer Schlaflosigkeit“ und „ Lauf, Vater. lauf!“ Aus „Lauf, Vater, lauf!“ Neun Erzählungen, Cass-Verlag
Han Kang: „Die Vegetarierin“, Aufbau Taschenbuch
Jeong Yu-Jeong: „Perfect Happiness“, EunHaeng NaMu Publishing CO. / Seoul
Jeong Yu-Jeong: „Der gute Sohn“, Unionsverlag

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