Armut und Ausgrenzung in Südkorea
Die Serie "Squid Game" zeigt in weiten Teilen die Gesellschaft Südkoreas wie unter einem Brennglas. © AFP / Netflix
Squid Game in echt
25:21 Minuten
Bei Grün darf man gehen, bei Rot muss man stehen. So funktioniert ein traditionelles koreanisches Kinderspiel. Die Netflix-Serie Squid Game hat es auf der ganzen Welt berühmt gemacht. Auch als Spiegel der koreanischen Gesellschaft.
Erdrückende Schulden sind der Ausgangspunkt der Netflix-Serie Squid Game. Hauptprotagonist Gi-Hun ist ein hoffnungsloser Fall, die Serie zeigt, in welch‘ beengten und ärmlichen Verhältnissen er lebt. Menschen, die man nicht sieht und die doch da sind – sogar mitten in Seoul.
„Das ist hier wie Beverly Hills in Amerika. Das Zentrum einer Megacity. Und direkt dahinter ist eine Slumgegend so wie Harlem", sagt Kim Gab-Rok. Der hochgewachsene Mann in schickem Anzug leitet in Südkoreas Hauptstadt das Seoul Station Slum Beratungszentrum. Einmal die enge dunkle Gasse runter, steht man auf einer breiten Straße. Links glänzen Wolkenkratzer in der Sonne. Aus den Musikboxen tönt chillige Musik. Viele Botschaften, Unternehmen und Medien haben hier ihren Sitz.
Sichtbare Armut
Zur Mittagszeit drängen gut gekleidete junge Menschen in die zahlreichen Restaurants. Doch geht man ein Stück weiter und blickt eine Straße hoch, zeigt sich ein anderes Bild des Viertels Dongjadong. Weiße Müllsäcke stapeln sich am Straßenrand, Männer ohne oder mit jeder Menge Silberzähnen gucken einen an. Auf einem Hocker sitzt eine Frau mit zerzausten Haaren.
„Hier leben 1000 Menschen, und unsere Organisation berät sie bei ihren finanziellen Problemen, hilft ihnen, sich zu stabilisieren", sagt Kim Gab-Rok. "Sie leben auf sehr engem Raum. Wir versuchen, ihre Lebenssituation zu verbessern. Aber nicht nur das. Wir versorgen sie auch mit Nahrungsmitteln, Kleidung und kümmern uns um ihre Gesundheit.“
Im Beratungszentrum können die Menschen Wäsche waschen und eine Dusche nehmen. Warum, wird schnell klar, wenn man in eines der Wohnhäuser geht. Das viergeschossige Gebäude ist in einem jämmerlichen Zustand. Der Putz bröckelt von den Wänden, Feuchtigkeit hat sich an einigen Stellen ins Mauerwerk gefressen.
Sozialarbeiter Jeon Ikhyung vom Beratungszentrum macht eine Tür auf. Dusche und Toilette – mehr ein Verschlag mit einem Loch und schimmeligen Wänden. „Früher waren das mal kleine Hotels, aber die sind heute nicht mehr gefragt. Jetzt wohnen hier diese Menschen.“
Drei Quadratmeter zum Leben
Im Durchschnitt hat jeder drei Quadratmeter zum Leben, so wie Lee Sang-jun. Vor der Tür des 77-Jährigen stehen ein kleiner Plastikhocker und ein kleiner Feger. Bereitwillig zeigt er sein Zimmer, während er im Trainingsanzug vor seiner dünnen Decke sitzt, eine Zigarette in der Hand. Er wollte gerade rauchen gehen. "Da der Raum sehr klein ist, gibt es hier nur Platz für die lebenswichtigen Dinge. Das sind ein Fernseher, ein Kühlschrank und Lichter.“
Früher hat er als Maler und Anstreicher gearbeitet. Er lebt bereits seit 54 Jahren in dem Viertel. An der Rückwand seines kleinen, vollgestopften Zimmers hängt ein Kreuz. Er sei gläubiger Katholik. Doch hat Gott ihn vielleicht vergessen, weil er in so einer Absteige sein Leben verbringen muss? „Ganz bestimmt nicht", sagt Lee Sang-jun. "Ich lebe schon so lange hier, das gehört zu mir. Und ich habe ja auch kein gutes Leben geführt. Ich versuche, positiv zu denken. Das hilft mir. Deshalb geht es mir gut.“
Kaum Familienzusammenhalt
Vom Staat bekommt er ungefähr 600 Euro monatlich, davon muss er auch die 200 Euro Miete bezahlen. 90 Prozent der Slumbewohner sind Männer, die meisten zwischen 50 und 60 Jahre alt. Jung Myeong-seon lebt seit fünf Jahren im Viertel, sein Haus ist nicht ganz so baufällig, aber nicht minder beengt.
„Hier ist nichts, was zu einer normalen Wohnung dazugehört. Auf der Seite stehen einige Kleinigkeiten, hier stehen einige Dinge zum Kochen", sagt Jung Myeong-seon. "Wenn ich mich in die Mitte des Raumes lege und meine Arme nach hinten ausstrecke, dann kann ich die Wände und die Seiten berühren. Jetzt haben sie eine Vorstellung von meinem Raum.“
Sein Zimmer ist 1A aufgeräumt. Hosen und Hemden hängen ordentlich an einer Kleiderstange. Er habe früher auf dem Bau gearbeitet, unter anderem durch die Finanzkrise alles verloren. Seine Frau und die Kinder hat er verlassen. Warum die Familie nicht zusammengehalten hat, sagt viel über die koreanische Gesellschaft aus. „Ich kann meinen Kindern nichts bieten, mir fehlt das Selbstbewusstsein. Ich will sie auch nicht um Hilfe bitten, dafür würde ich mich schämen. Ich würde mich nie trauen zurückzugehen. Ich bin zufrieden hier, bekomme Hilfe vom Staat und von der Organisation. Das ist besser, als etwas von den eigenen Kindern anzunehmen.“
Altersarmut ist ein verbreitetes Phänomen
Die Scham sei einfach zu groß – und so gehe es den meisten, die in Dongjadong leben, heißt es im Beratungszentrum. Das Leben in der Hauptstadt ist teuer, vor allem die Mieten sind in den vergangenen Jahren enorm gestiegen, sagt Ain Jin Geol.
Der Wirtschaftsprofessor an der Sangji Universität in Wonju, rund anderthalb Autostunden östlich von Seoul, ist ein Mann der Zahlen. „Die jüngsten OECD-Zahlen zeigen, dass ein Sechstel der koreanischen Bevölkerung weniger als das Durchschnittseinkommen zum Leben hat. Das heißt, das sind 8,5 Millionen Menschen.“
Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt in Korea bei etwa 25.000 Euro. Besonders betroffen sind die über 65-Jährigen. Von ihnen lebt fast jeder Zweite in Armut oder ist arbeitslos, obwohl die Regierung unter dem liberalen Präsidenten Moon Jae-in mehrfach den Mindestlohn angehoben hat.
„Das Mindesteinkommen ist zwar 2018 und 2019 um mehr als zehn Prozent gestiegen", sagt Jin Geol. "Das war zwar viel mehr als in anderen Ländern, und dennoch hat sich die Armut verschärft. Das klingt paradox, ist aber so, weil Südkorea immer schneller altert. Die alten Leute waren die ersten, die durch diese Gesetze ihre Jobs verloren haben oder dann für weniger als den Mindestlohn arbeiten müssen.“
Verschuldet für die Bildung der Kinder
Dazu komme eine immer höhere Privatverschuldung. Ain Jin Geol tippt schnell in sein Smartphone und rechnet: Jeder Koreaner steht im Durchschnitt mit 30.000 Euro bei der Bank oder einem privaten Geldverleiher in der Kreide. Und die Schraube drehe sich immer weiter: „Viel Geld fließt in Südkorea auch in die Bildung. Koreanische Eltern wollen ihre Kinder um jeden Preis auf eine Universität bringen, koste es, was es wolle. Die meisten Bildungseinrichtungen kosten eben Gebühren. Da kommt also viel zusammen." Der Schuldenberg wachse.
Für Ain ist der Slum in der Innenstadt von Seoul der Inbegriff für die Einkommensunterschiede in Südkorea und Serien wie Squid Game würden das deutlich machen.
Ganz weit hinten im Gleichberechtigungsranking
Die Hauptrollen in Squid Game spielen Männer, auch dies ein Sinnbild der koreanischen Gesellschaft. Korea belegt im weltweiten Gleichberechtigungsranking des Weltwirtschaftsforums Platz 102 von 156 Ländern. Seit 2006 ist es sogar um zehn Punkte abgerutscht.
In der Netflix-Serie werden Frauen an vielen Stellen so dargestellt: „Ach herrje, er ist so ein lieber Sohn, immer, wenn er aus dem Ausland kommt, dann bringt er mir etwas mit." – "Da scheinen Sie ja einen tollen Sohn zu haben." – "Er ist Absolvent der Seoul National University. BWL.“ – „Wow, er war an der Seoul National? Und sieht dazu auch noch sehr gut aus. Ist er verheiratet?" – "Nein noch nicht." – "Wie alt ist Ihr Sohn denn, soll ich ihm mal jemandem vorstellen?“
Als liebende, ein bisschen naive Mutter, die sich in einfachen Jobs totschuftet, nur damit der Sohn es einmal besser hat.
„Süßer, was soll das?! Es tut mir leid, ich bemühe mich noch mal, egal, ich bin doch gut in jeder Hinsicht. Ich mache was du willst, Süßer. Wir werden uns nur dieses eine Mal trennen und dann kommen wir wieder zusammen. Süßer, kommst du denn ohne mich klar? Ich kann nicht ohne dich sein.“
„Lass mich, was musst du so klammern. Und höre auf, mich Süßer zu nennen. Sage noch einmal Süßer zu mir, und ich zerreiße dir die Fresse, verstanden?“
Und als hysterisches, ein bisschen durchtriebenes Weib, das sich für nichts zu schade ist. Das schwache Geschlecht eben.
Traditionelle Frauenbilder
Lee yeeun bezeichnet sich selbst als Feministin und gehört zur Organisation Haeil, was zu Deutsch Tsunami bedeutet. Sie hat sich über die Serie geärgert. „Meine größte Sorge ist, dass eine patriarchale Kultur in unserer Gesellschaft als selbstverständlich angesehen wird, und dass Frauen und Mütter ihr Leben für die Söhne opfern. Als koreanische Frauen versuchen wir, dieses Vorurteil hinter uns zu lassen. Vielleicht denkt man außerhalb Koreas, dass das Land wirklich so ist, es hier Menschen gibt, die Männer unterstützen oder sich gar für sie opfern wollen. Aber ich finde es bedenklich, wenn ein solches Bild vermittelt wird.“
Dabei belegen auch andere Zahlen, wie weit Korea von der Gleichberechtigung entfernt ist. Der Einkommensunterschied zwischen den Geschlechtern lag 2020 laut OECD bei 31,5 Prozent. Südkorea belegt damit mit Abstand den letzten Platz.
2020 wurden fast 20.000 Fälle häuslicher Gewalt gemeldet, 10.000 mehr als ein Jahr zuvor. Gegen all das haben die Feministinnen im Sommer demonstriert. Dass sich viele Frauen dem Protest angeschlossen haben und die Ungleichheit nicht länger hinnehmen wollen, hat auch mit ihr zu tun: An San. Die südkoreanische Bogenschützin holt bei den Olympischen Spielen in Tokio dreimal Gold. Doch statt Anerkennung erfährt sie in ihrer Heimat von einigen Männern Widerstand, denn: Sie hat einen Kurzhaarschnitt.
Ein Kurzhaarschnitt ist schon ein Affront
„In dem Zusammenhang habe ich gehört, dass viele Schülerinnen ebenfalls diskriminiert werden, weil sie ihre Haare kurz tragen. Und diese Mädchen und jungen Frauen wollte ich unterstützen", sagt eine fröhlich lachende Han Jijoung. Die Psychologin startet deshalb eine Kurzhaarkampagne und fing bei sich selbst an.
In einem Video nimmt sie eine kleine blaue Schere und schneidet sich Stück für Stück ihren Pferdeschwanz ab. Mehrere 10.000 Menschen haben sich ihr Video angeschaut, und Frauen weltweit haben sich daraufhin die Haare kurz geschnitten.
Koreanische Frauen sollten selbstbewusst auftreten, findet die Mittvierzigerin, die ihre Haare jetzt raspelkurz trägt und sich nicht von Männern einschüchtern lassen will. „Südkorea ist eine sehr wettbewerbsorientierte Gesellschaft. Das bedeutet viel Stress. Psychologisch betrachtet wollen Männer immer siegen und sich behaupten, deshalb suchen sie sich Schwächere aus. Das können Katzen auf der Straße sein, Kinder oder eben Frauen. Wenn sie sich so verhalten, fühlen sie sich überlegen, und sie müssen nicht fürchten, dass zurückgeschlagen wird. Deshalb gibt es auch so viele Vergewaltigungen. Dabei geht es nicht nur um Sex, sondern auch darum, sich überlegen zu fühlen, jemanden besiegt zu haben.“
Im Stich gelassen von der Politik
Von der Politik fühlt sich Han weitgehend im Stich gelassen. Soziologin Hong Chan-Sook, Direktorin am Koreanischen Institut für Frauenstudien kann den Frust verstehen. „Junge Frauen wollen heutzutage, dass ihre Stimmen viel mehr gehört werden, erheben ihre Stimmen und richten Forderungen an die Politik. Aber sie sind immer davon abhängig, was die Männer dazu sagen, weil es eben ein Patriarchat ist. Es gibt eine große kulturelle Differenz zwischen Männern und Frauen, und die Stimmen der Frauen werden oft ignoriert.“
Wenngleich sie eine langsame Verbesserung feststellt, würden Frauen gerade durch das Internet immer noch zur Zielscheibe – und nicht nur das: „Zweitens ist da die Enttäuschung über die aktuelle, demokratische Regierung. Die Partei ist durch die Kerzenrevolution an die Macht gekommen und stand für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit." Doch einige Politiker hätten sich als Heuchler entpuppt und ihre Position ausgenutzt. "Das hat nicht nur die Frauen enttäuscht, sondern auch junge Männer, die dann ihre Enttäuschung auf die Feministinnen projiziert haben.“
Blanker Hass gegenüber Frauen
Die Folge: Frauen schlägt inzwischen zum Teil blanker Hass entgegen. Allen voran von Bae Ingyu, ein erklärter Antifeminist. Er empfängt im zweiten Stock eines Geschäftskomplexes in Incheon unweit von Seoul. Das Einraumbüro ist großzügig geschnitten, an der Wand hängen alte Pistolen, in einer Ecke steht ein Grammofon, davor ein überdimensionierter Ledersessel mit hoher Lehne. Davor prangt ein riesiger Schreibtisch mit mehreren Bildschirmen und einer Kamera. Ein Büro wie eine Filmkulisse und das ist auch genauso gewollt. „Das ist dem Film Dark Night nachempfunden", sagt Bae Ingyu. "Es soll aussehen wie Batmans Zimmer, sehr luxuriös. Aber das ist natürlich nur Spaß.“
Sein Spitzname sei Bruce Wayne, also der schnöselige Milliardär hinter der Batmanfigur. Äußerlich könnte das passen. Besser bekannt als Bruce Wayne ist er seinen Fans hingegen als Wanja, zu Deutsch Prinz. „Man braucht für Youtube einen Spitznamen und weil ich mich selbst so toll finde, habe ich mir den Namen Prinz gegeben", sagt er breit grinsend. Ein Scherz nach dem anderen, der erklärte Antifeminist gibt sich sichtlich Mühe, locker rüberzukommen und sich ins rechte Licht zu setzen.
Penibel achtete er darauf, am rechten Platz zu sitzen, damit sein Manager einen Teil des Interviews bequem mit dem Handy mitzeichnen kann. Er sei durchaus für Gleichberechtigung, sagt der 31-Jährige. „Männer meiner Generation, also die zwischen 20 und 30, haben in der Schule gelernt, dass wir Frauen verstehen sollen, Kompromisse machen müssen.“
Doch jetzt habe der Einfluss der Hardcorefeministinnen auf die Politik so zugenommen, dass dies nicht mehr hinnehmbar sei. „Die südkoreanische Regierung hat veranlasst, dass Kinder jetzt in der Grundschule lernen, Männer seien potenzielle Kriminelle und Täter.“
Die Soziologin Hong Chan-Sook muss darüber laut lachen. „Das ist nicht wahr. Aber so gewinnt er Unterstützer, denn einige glauben ihm, dass das in der Schule unterrichtet wird. Aber das stimmt nicht.“ Statistiken würden zeigen, dass etwa jeder vierte Mann in Südkorea Antifeminist ist.
Einfluss der Kirchen
„Du verlorenes Lamm. Hörst Du von den Menschen, die heute ans Kreuz genagelt wurden, nicht die Klageschreie. Ihr Opfer und Blut hat uns einen weiteren Lebenstag beschert. Im Namen aller Sünder, die wir sind, Danke ihren Opfern von Herzen und ebenso der Wahl Gottes. Und bete dafür.“
„Die Serie zeigt gut, wofür die koreanischen Kirchen stehen", sagt Choi Joo Kwang. "Viele Kirchen brauchen die Menschen, weil sie ihnen ihre Existenz sichern, egal ob sie gläubig sind oder nicht. Und es gibt sicher auch eine Menge Leute, die nach außen sehr gläubig tun, sich aber hinter verschlossenen Türen ganz anders verhalten. So wie diese Person in Squid Game. Der Mann betet, weil er um sein Leben fürchtet, aber wenn er nicht in Not wäre, würde er sich sicher ganz anders verhalten.“ Der 48-Jährige muss es wissen, denn er ist selbst Pastor und hat lange in einer der größten christlichen Kirchen gepredigt. Doch dann ist er bitter enttäuscht ausgestiegen und betreibt jetzt ein Café.
Auslöser für seine Entscheidung ist der Umgang der Kirche mit dem Untergang der Sewol Fähre 2014. Bei der Fährkatastrophe sterben mehr als 300 Menschen, unter ihnen sehr viele Schülerinnen und Schüler. Pastor Choi setzt damals große Hoffnungen in seine Kirche, rechnet mit Hilfe, so wie er es in der Bibel gelesen hat. „Die Reaktionen der koreanischen Kirchen waren sehr enttäuschend. Sie haben das Unglück als Entscheidung Gottes bewertet. Einige gingen sogar so weit, zu sagen, dies sei die Zeit, Reue zu empfinden.“
In Erinnerung an das Unglück hat er sich, wie viele andere Koreaner, eine gelbe Schleife auf den Unterarm tätowieren lassen. Ein weiterer Grund für Choi, die Kirche hinter sich zu lassen: Ihre mangelnde Fähigkeit, mit der Zeit zu gehen. Homosexualität sei für viele Kirchen in Korea eine Sünde. Auch er habe früher dagegen gepredigt, sagt Choi.
Doch dann lernt er Schwule und Lesben kennen und stellt fest: Das sind ja nette Menschen, die ebenfalls ihren Teil zur Gesellschaft leisten. „Das war ein Erweckungsmoment für mich, weil ich da auf einmal merkte: Bevor ich etwas verurteile, sollte ich wissen, worüber ich rede. Also habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen.“
Pastoren ohne Kirche
In der Bibel gebe es einige Stellen über Homosexualität, aber es komme eben immer auf die Lesart an, sagt er. Dennoch fällt ihm der Ausstieg nicht leicht, auch weil er drei Kinder hat, die er versorgen muss. Er bespricht sich mit seiner Frau, besucht viele andere Gemeinden.
Er fragt sich: Immer weniger Menschen gehen überhaupt in eine Kirche, warum braucht es überhaupt noch Gotteshäuser. „So entstand die Idee für Pastoren ohne Kirche, für Menschen, die die Kirche verlassen haben, um ihren Glauben zurückzufinden. Dafür mussten wir natürlich auf die Gelder der Kirchen und von deren Mitgliedern verzichten.“
Seine Frau nimmt einen Job an, er hilft seinem Bruder als Zimmermann, das Geld ist knapp, es reicht damals nicht mal, um der Tochter neue Schuhe zu kaufen, erinnert er sich. Dennoch bleibt er bei seiner Entscheidung und eröffnet im August 2020 im Fleischland Südkorea ein kleines, veganes Café.
Kirchen-Mitgliederzahlen gehen zurück
November 2021: Ein alter Mann trommelt auf einem der zentralen Plätze Seouls, ein beflaggter Wagen rast die Straße rauf und runter. Demonstrationen sind wegen der Pandemie seit Monaten verboten. Doch sobald sich die Chance bietet, werden sie wieder zu Tausenden auf die Straßen gehen. Die Gegner des liberalen Präsidentin Moon Jae-in, zu denen auch viele christliche Kirchengemeinden gehören.
Auch wenn es den Kirchen noch immer gelingt, die Massen zu mobilisieren, geht es mit ihnen stetig bergab, sagt Bae Dawkmahn, Professor am Nehemiah Institut für christliche Studien. Und es gebe immer mehr Pastoren, die sich deshalb mit anderen Jobs über Wasser halten müssen oder auch einfach aussteigen. In den 1990er-Jahren seien noch rund 20 Prozent der Südkoreaner Anhänger der christlichen Kirchen gewesen. Jetzt seien es nur noch 15 Prozent, sagt Bae Dawkmahn.
Von diesen 15 Prozent, so schätzt der Professor, gehöre jeder fünfte zum radikalen rechten Flügel, ist also erzkonservativ. „Sie sind sehr gut vernetzt, vor allem die Pastoren der großen Kirchen haben sehr gute Beziehungen auch untereinander. Ihr sozialer Status ist sehr hoch. Sie sind sehr gut ausgebildet, sehr wohlhabend und sehr einflussreich.“
Kirche im Internet
Noch seien 20 von den weltweit 50 größten Kirchengemeinden in Seoul zu finden, doch die Mitgliederzahlen gehen nicht nur wegen der geringen Geburtenrate zurück. Es gibt auch viele Skandale um Vetternwirtschaft und Korruption. Die Coronapandemie hat die Situation noch verschärft, sagt der Wissenschaftler Bae Dawkmahn: „Statt zur Kirche zu gehen, gucken sich mehr und mehr Christen Predigten im Internet an. Das ist kostenlos, und sie können es nutzen, wo und wann sie wollen. Ein besonders beliebter Ort sind Cafés.“
Sagt einem eine Predigt nicht zu, wechselt man einfach zur nächsten. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde löst sich auf. Pastoren wie Choi Joo Kwang liegen also ganz im Trend. Unter der Woche verkauft er Café und Kuchen, am Sonntag wird gebetet. Allerdings anders als üblich. „Anders als viele andere Kirchen, wo der Pastor vorn steht und seine Messe hält, steht bei uns der Austausch im Vordergrund. Jedes Mitglied liest eine Stelle aus der Bibel vor und erzählt, wie es diese Stelle versteht. Und da zeigen sich dann die Unterschiede, denn wir sind alle verschiedene Menschen.“
Damit stellt er auch sich selbst auf eine Stufe mit den Gläubigen, ein eklatanter Unterschied zu den etablierten Kirchen, wo der Prediger als der Überbringer von Gottes Wort gilt. Dafür müsse auch niemand zahlen, Spenden seien freiwillig, würden gesammelt und am Jahresende an jene verteilt, die Hilfe brauchen. Denn das sei das wahre Christentum, sagt der Teilzeitpastor.
Squid Game zeigt die Fronten der Gesellschaft
Die Serie Squid Game zeigt in weiten Teilen Südkorea wie unter einem Brennglas. Auch wenn der Autor sein Skript schon vor zehn Jahren geschrieben hat, hat es nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil, unter der Regierung des liberalen Präsidenten Moon Jae-in, der übrigens ein erklärter Feminist ist, haben sich die Fronten an vielen Stellen der Gesellschaft verhärtet.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie liegen zum einen daran an, dass viele Menschen 2017 für einen Politikwechsel monatelang in den sogenannten Kerzendemonstrationen für mehr soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen waren. Moon stand dafür. Doch geblieben ist bei vielen Enttäuschung oder zumindest Ernüchterung.
Immer deutlicher zeigt sich, wie sehr sich vor allem die demografische Entwicklung auf allen Ebenen auswirkt. Dabei kommt in Südkorea eine Besonderheit hinzu. Wirtschaftlich hat es zwar seit Ende der 1990er-Jahre beachtliches geleistet und ist zu einer Wirtschaftsmacht geworden. Es steht für eine moderne Infrastruktur, Digitalisierung, es hat eine sehr gut ausgebildete Jugend und exportiert erfolgreich seine Kultur wie Popmusik und Filme.
Doch gesellschaftlich hat sich Südkorea wesentlich langsamer entwickelt. Das mag auch daran liegen, dass es sich erst Ende der 1980er-Jahre aus der Militärdiktatur befreit hat. Die noch junge Demokratie kämpft um den richtigen Weg. Konservative Kräfte stehen liberalen unversöhnlich gegenüber, und das an vielen Fronten.
Im nächsten Frühjahr sind Präsidentschaftswahlen. Sicher ist schon jetzt: Es wird ein Mann. Dem muss vor allem eines gelingen: Das Volk zu einen.