"Ein Glücksfall in der deutschen Kolonialgeschichte"
Trauminsel mit grünen Palmen, türkisfarbenem Wasser und endlosen Stränden. Die Samoaner sind stolz auf ihre polynesischen Wurzeln und ihre Kultur. Von 1900 bis 1914 war Samoa deutsche Kolonie. Das prägt den Inselstaat bis heute.
Sie sind die einzigen, die in Samoa immer pünktlich sind. Jeden Wochentag marschiert die Polizeikapelle im Gleichschritt, mit Helm auf dem Kopf und in dunkelblauen Wickelröcken durch die Hauptstadt Apia. Ihr Ziel ist das Parlamentsgebäude unten am Hafen. Vor dem mehrstöckigen Betonklotz angekommen tritt einer der Beamten vor und hisst die Nationalflagge – auf die Sekunde um acht Uhr morgens. Im übrigen Samoa aber gehen die Uhren anders.
"Hier ist alles entspannt und sehr, sehr langsam – nicht wie in Sydney oder New York, wo alles zack, zack geht. Niemand achtet auf Termine. Und wer sich nicht daran gewöhnt, der hat Probleme."
Fred Grey gehört die große, alte Dame der Südsee: Das "Aggie Grey’s", Samoas berühmtestes Hotel an der Uferpromenade von Apia. Errol Flynn und Marlon Brando waren hier zu Gast, der Legende nach wurde in der Hotelbar zum ersten Mal eine Bloody Mary gemixt – und dort wurde im Jahr 1900 Samoa offiziell deutsche Kolonie. Für 14 Jahre. Eine Zeit, die das Land verändert hat.
Sogar die Trinkgewohnheiten. Freds Schwester, Tanya Grey, hat alles schwarz auf weiß. Kein Fruchtcocktail oder Kokoslikör ist der klare Heimsieger an der Promille-Front, sondern "Vailima", das einzige in Samoa gebraute Bier. Der Edelstoff, aus dem die Inselkater sind, gebraut streng nach dem deutschen Reinheitsgebot. So wie es sich die Kolonialverwaltung um 1900 fässerweise nach Samoa bringen ließ.
"Es gibt kein besseres Bier, jeder in Samoa trinkt es. Selbst die Touristen. Wären wir keine deutsche Kolonie gewesen, dann hätten wir heute dünnes Importbier aus China oder den USA. Weil es aber genau wie deutsches Bier gebraut wird, erinnert uns Vailima an die gemeinsame Vergangenheit beider Länder."
Samoer scheuen die direkte Konfrontation
Im Hotelfoyer liegt Samoas Telefonbuch aus. Darin sind Schmidts, Keils und Retzlaffs gelistet, es gibt von Heidebrandts, Schaffhausens und Bruhns. Generationen von Samoanern klingen mehr nach Nord- als nach Südsee. Unter "S" findet man Arne Schreiber, den deutschen Honorarkonsul von Samoa. Er ist mit einer Einheimischen verheiratet, hauptberuflich Computer-Fachmann und nebenher Berlin’s Mann in Apia.
"Samoa war ein Glücksfall in der deutschen Kolonialgeschichte", glaubt Schreiber. "Es gab kein Blutvergießen, die Samoaner behielten ihre Freiheit, ihre Selbständigkeit und damit auch ihre Lebensart. Samoaner sind eigentlich recht tolerant, das heißt sie lassen jeden so leben, wie man leben möchte. Das kommt vielleicht von dem Fakt, dass es eine Insel ist – also eine kleine Gesellschaft, die sehr stark darauf bedacht ist, dass kein Kampf aufkommt. Denn keiner kann weglaufen, alles ist begrenzt. Insofern scheut der Samoaner die direkte Konfrontation. Auch zu politischen Verhältnissen. Er nimmt das erst einmal so hin."
Egal mit wem man in Apia auch spricht – jeder hat Respekt vor den Deutschen. Denn alles, was sie damals gebaut haben, steht heute immer noch. Die alte Seifenfabrik, Brücken, das steinerne Flaggen-Denkmal, die riesigen Lagerhallen der Hamburger Plantagen-Gesellschaft am Hafen, das weiß-getünchte, frühere Krankenhaus und die ehemalige deutsche Schule. Drei winzige Räume im ersten Stock, eine schmale Treppe hinauf, sind heute ein kleines Museum.
"Der deutsche Uniform-Knopf hier und diese Abzeichen, die wurden an Samoaner ausgegeben, die sich irgendwie ausgezeichnet hatten für die deutsche Verwaltung. Und diese Teller hier waren scheinbar auf der 'Eber', einem deutschen Schiff."
Ulrike U. lebt seit jetzt 25 Jahren in Apia, seit die Kinder groß sind, ist sie halbtags im Museum. Hilft aus und archiviert alles, was deutsch ist. (Anm. d. Red: Auf Wunsch der Gesprächspartnerin wurde der Name anonymisiert.)
Schriftstücke, die zeigen, dass es die "Handels- und Plantagen-Gesellschaft" auf Kopra abgesehen hatte, das aus Kokosnüssen gewonnen wurde. Ein wertvoller Grundstoff für die Herstellung von Seifen und Kosmetik. Damals fast so wichtig wie heute Öl. Samoa hatte weder Bodenschätze noch Gewürze, weshalb Ulrike H. ihre eigene Theorie hat warum die Deutschen reif für die Insel waren.
"Sehr viel war wohl einfach Prestige, dass man einfach eine Kolonie hat. Diese Postkarte hier, mit dieser Südsee-Schönheit und der alten deutschen Flagge hier oben: 'Unsere neuen Landsleute'. Samoa war meiner Meinung nach einfach zu weit weg und auch viel zu klein, um sehr viel materiellen Nutzen zu haben."
Der Beginn des Ersten Weltkrieges bedeutete das Ende der deutschen Kolonie Samoa. 1914 übernahmen die Neuseeländer, 1962 wurde Samoa unabhängig. Seitdem steht man auf eigenen Füßen. Die deutsche Vergangenheit aber reicht bis in die Gegenwart. Obwohl jetzt mit einem 'a' am Ende: Die Landeswährung heißt immer noch Tala, es gibt eine Kehrwoche und aus dem samoanischen Kokospalmen-Chaos auf den Plantagen machte die deutsche Kolonialverwaltung ein peinlich genaues Neben- und Hintereinander.
Sklavenähnliche Schufterei auf den Kokosplantagen
"Es hat eine neuseeländische Autorin gegeben, die hat gesagt: 'Gut, dass die Deutschen nicht länger hier waren, sonst wäre die ganze Insel in Reih’ und Glied gewesen.' Jede Familie musste einmal pro Woche eine Kokospalme pflanzen – diese Palmen sind heute 100 Jahre alt. Von diesen Bäumen hat Samoa 100 Jahre lang gelebt."
Werner Schreckenberg, ein braun gebrannter Mittsechziger mit Ruhestandsbäuchlein, ist der Historiker der kleinen deutschen Auswanderer-Clique in Samoa. Er ist stolz darauf, dass das einzige Bier Samoas nach dem Reinheitsgebot gebraut wird – und dass das Insel-Paradies nicht schon längst von Grundstücksspekulanten zugebaut wurde. Dank der Verfassung des ersten deutschen Gouverneurs.
"Der ist verantwortlich, dass 85 Prozent des Landes heute nicht verkauft oder gekauft werden können. Sie sind in Dorfbesitz. Das ist eine sehr wichtige Sache gewesen, die für Samoa das ganze Jahrhundert geprägt hat."
Dass die Deutschen die Samoaner aber auch fast wie Sklaven auf den Kokosplantagen schuften ließen – das hat man vergessen. Deutscher Strenge begegneten die Einheimischen damals mit polynesischer Gelassenheit. Hast, Hektik oder Stress sind heute noch Fremdwörter in Samoa, die Einheimschen leben im Rhythmus am Boden schleifender Badeschlappen. Zu Verabredungen kommen sie grundsätzlich zu spät.
"When I arrange my meetings, I say: "Maybe”. I say 3 o’clock, but I mean 3.30 – only because I know they’ll be not there until 3.30 or 4 o’clock."
Sich um drei Uhr zu verabreden heißt eigentlich halb vier, oft wird es noch später. Kein Wunder, dass es in Samoa keine Busfahrpläne gibt. Mary-Jane McKinpin betreibt einen kleinen Gemischtwarenladen am Stadtrand von Apia – ohne feste Öffnungszeiten, versteht sich. "Samoaner sind nicht unhöflich", beteuert sie. Das Wort "pünktlich" gibt es in der Landessprache nicht, Warten ist Teil der Kultur.
"Wir Samoaner haben überhaupt kein Zeitgefühl. Das ist zwar schlecht für’s Geschäfte machen aber gut für die Freizeit. Wir sind immer zu spät weil nichts auf Samoa unser Leben stört."
Streng-moralische Vorschriften der Stammesältesten
Samoaner sind tiefgläubig, fast 99 Prozent der Bevölkerung Christen. Der Sonntag gehört dem Herren – und der Familie. Vom Morgengrauen an wird in Umus, metertiefen Erdöfen, gekocht. Wattebausch-dicker Rauch und der süßliche Duft von gegrilltem Schwein, gebratener Brotfrucht und Röstkartoffeln hängt in der Luft. Erst geht man in die Kirche, dann wird gegessen und geschlafen. Mit der Abendmesse beginnt dann alles wieder von vorne. Die Läden sind geschlossen, kaum Autos auf den Straßen. "Der Sonntag ist heilig", sagt Mary-Jane. Und die Insel-Älteren sorgen in ganz Samoa, dass das auch so bleibt.
"Das hierarchische System unserer Familien und Dorfgemeinschaften lässt uns nie vergessen wer wir sind. Die Moral-Vorschriften unserer Stammesältesten sind viel strenger als die eher westlichen Gesetze unserer Regierung. Eine meiner Freundinnen ging einmal am Sonntag im Mini-Rock aus. Das war gegen das Gesetz ihres Dorfes. Ihre Familie bekam eine Geldbuße und musste drei Schweine abgeben. Danach hat sie es nie wieder getan."
Tradition hat einen Namen in Samoa: FiaFia – eine ausgelassene Party voller Musik, Tanz und Folklore. Frauen in Schilfgras-Röcken und Kokosnuss-Bikinis singen Südseeballaden, die Männer verbiegen sich mit nacktem Oberkörper zum Rhythmus dröhnender Trommeln: Samoa, wie es singt und lacht.
Doch was in den Dörfern ganze Versammlungshallen füllt, das lockt in der Hauptstadt nur mehr Touristen an. In den Nachtclubs wummert westliche Popmusik und bei Live-Entertainment ist Apia längst das Las Vegas der Südsee.
"Believe it or not, I found this song when I was married to an Italian. And this Italian man used to beat the shit out of me. And one day I turned around and said: 'Hey …'" (Gelächter)
Sie ist frech, frivol und fabelhaft. Das moderne Gesicht Samoas trägt tadelloses Make-up, knallrosa Lippenstift und falsche Wimpern. Und genau genommen ist "Sie" auch keine Sie. Cindy ist Samoas ungekrönte Drag Queen, die Königin des Insel-Nachtlebens.
Cindy’s Show ist mehr als Whitney Houston- und Tina Turner-Parodien, mehr als Federboas, Glitzerfummel und eindeutige Zweideutigkeiten. Cindy veralbert Vorurteile und gibt Minderheiten eine Stimme, bei ihrer Zugabe wirft sie "Schwul ist cool"-Aufkleber in die Menge. Ihre Auftritte sind so populär, dass die Behörden es längst aufgegeben haben sie zu verbieten. Cindy macht, was sie will und sagt, was andere nur denken. "Was soll mir schon passieren", meint sie nach einem Auftritt. Wer so hohe Stöckelschuhe trage, wie sie, der hätte nun einmal eine andere Perspektive.
"Ich liebe das Gefühl anders, frei und ich selbst sein zu können. Viele wollen, wie ich, mehr als nur unsere Traditionen leben. Die Samoaner beginnen langsam zu akzeptieren, dass sich Dinge ändern und dass das auch gut sein kann. Ich denke Samoa ist auf dem richtigen Weg."
Wandel in Zeitlupe
Der Zeitgeist war lange Jahre ein Schreckgespenst auf Samoa – vor allem für die Familien- und Clanoberhäupter. Die Älteren fürchteten an Einfluss und den Respekt der Jüngeren zu verlieren – so wie 1900, als sie ihre Macht an die deutschen Kolonialherren abtreten mussten. Aber Samoa hat gelernt Wandel zu akzeptieren, wenn auch in Zeitlupe.
Freitagnachmittag in der Hauptstadt Apia. Unten am Hafen ist Feierabendstau. Knatternde Kleinwagen, Taxis, bullige Pick-ups und auffrisierte Mofas Stoßstange an Stoßstange. Anders als die großen Nachbarn Australien und Neuseeland fuhr Samoa über 100 Jahre lang auf der rechten Straßenseite – so wie in Deutschland. Ein Überbleibsel der Besatzungszeit. Bis 2009 die Regierung eine Kehrtwende machte und die Fahrtrichtung änderte.
Es gab Proteste, alle Busse brauchten Türen auf der anderen Seite, neue Verkehrszeichen und Abbiegepfeile waren nötig – und rechtsgesteuerte Autos. Trotzdem gilt seit jetzt fünf Jahren in Samoa Linksverkehr. Auch Deutschlands Honorarkonsul Arne Schreiber ließ die ersten Tage nach der Umstellung seinen Wagen vorsichtshalber in der Garage. Niemand dachte, dass auf links alles auf Samoas Straßen mit rechten Dingen zugehen würde.
"Es ist erstaunlicherweise sehr gut ausgegangen. Die Leute haben sich schnell daran gewöhnt. Samoaner sind ganz schnelle Lerner und können Situationen schnell erfassen. Es ist zu einigen Unfällen gekommen, aber nicht wie man das vorhergesagt hat. Eigentlich recht wenig."
Und weil man schon einmal dabei war alles von Grund auf umzukrempeln, ging die Regierung Samoas gleich noch einen Schritt weiter: Zurück in die Zukunft.
Ein Flug nach Samoa war immer ein ganz besonderer Zeitvertreib. Abflug Mittwoch, Ankunft Dienstag. Schuld war die nahe Datumsgrenze östlich von Samoa. Die Insel hinkte dem Rest der Welt 23 Stunden hinterher, die wichtigsten Handels- und Geschäftspartner aber liegen alle westlich der Datumsgrenze. Also rückte man die eigene Zeitzone ein wenig nach links. Seit dem 1. Januar 2012 ist Samoa nicht mehr von gestern, sondern allen voraus. Für Honorarkonsul Arne Schreiber nur ein Beispiel, das zeigt, dass Samoa mit der Zeit geht.
"Allein die Kommunikation. Die Insel hat jetzt seit einigen Jahren Glasfiber rundherum. Vorher war das Satellit – jetzt ist man am Seekabel Amerika-Hawaii-American Samoa-Samoa angeschlossen. Die Computer, die die Leute benutzen, sind 'latest technology'. Auch ältere Leute arbeiten mit Computer und auch in den Schulen gibt es ein 'Schoolnet', die Computer auch in die Schulen bringen. Auch in den Dörfern. Samoa entwickelt sich wahnsinnig schnell. Es ist ein sich entwickelndes Land."
Die Kultur Samoas ist eine der ältesten der Welt – stark und fast unverfälscht. Die deutschen Besatzer ließen sie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts intakt, die Samoaner haben sie bis heute bewahrt. Kultur als Lebensstil, nicht als Museumsstück. Ein Balanceakt zwischen traditioneller und moderner Gesellschaft, der den Inselstaat friedlich und harmonisch im Gleichgewicht hält.
Der letzte Besuch eines Bundesministers liegt Jahrzehnte zurück und abgesehen von kleineren Entwicklungshilfeprojekten und ein wenig Tourismus haben sich Deutschland und Samoa auseinandergelebt. Man erinnert sich gerne aneinander aber hat kaum mehr miteinander zu tun. Als die Insel 14 Jahre lang deutsches Schutzgebiet war lebten dort mehr als 1000 Deutsche, jetzt sind es nicht einmal mehr 150 – Aussteiger, Geschäftsleute oder Pensionäre. Und umgekehrt wie vor 100 Jahren sind sie jetzt "die deutsche Kolonie Samoa".