Suizid als politischer Akt

"Ich gehöre mir und nicht dem Staat"

Ein Mann sitzt alleine auf einem Steg am See
Darf der Mensch allein über Suizid entscheiden? © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Philosoph Thomas Macho im Gespräch mit Simone Miller |
Die Selbsttötung sei in der Moderne keine Sünde mehr - im Gegenteil: Sie sei enttabuisiert und sogar aufgewertet. Das meint jedenfalls der Philosoph Thomas Macho. Macho bezieht sich auf die Darstellung des Suizids in der modernen Literatur-, Kunst- und Geisteswissenschaft.
Jedes Jahr sterben weltweit mehr Menschen durch einen Suizid als durch Gewalt. In der öffentlichen Diskussion sind ihre Schicksale gegenüber den Gewalttoten jedoch fast unsichtbar. Diese Unsichtbarkeit stehe im scharfen Kontrast zur Faszinationsgeschichte in der modernen Literatur-, Kunst- und Geisteswissenschaft, argumentiert der Philosoph Thomas Macho: Die Moderne haben den Freitod enttabuisiert und aufgewertet.
In der Philosophie habe beispielsweise Michel Foucault den Freitod als aktive Technik der Selbstgestaltung mit machtkritischem Impetus verstanden. Inspirieren lassen habe er sich dabei von der Antike. Schon damals habe etwa Seneca den Suizid als Akt der Selbstaneignung aufgefasst. Der zugrundeliegende Gedanke sei gewesen: "Ich gehöre mir und nicht dem Staat, nicht dem Kaiser, nicht den Verwandten und Ahnen und dass ich mir gehöre, heißt auch, dass ich mich dafür entscheiden kann, aus dem Leben zu scheiden", so Macho.

Suizid als Widerstandsform

Insbesondere kollektive Suizide entrissen den Herrschenden die Macht über Leben und Tod, wobei die Tradition des politischen Selbstmords lang und vielfältig sei. Auch aktuell seien wir mit einer ganzen Reihen von Kollektivsuiziden vom indigen Völkern konfrontiert: in Nordamerika, in Kanada, Südamerika und in Südostasien. Neben einer fundamentalen Herrschaftskritik klagten politische Suizide auch oft die moralische Gültigkeit übergeordneter Werte, wie Gerechtigkeit, ein.
Der Kulturhistoriker Thomas Macho
Der Kulturhistoriker und Philosoph Thomas Macho© dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Die Mächtigkeit des politischen Suizids werde heute auch durch Terrorattentate deutlich: Obwohl Europa und der Westen zahlenmäßig weit weniger betroffen sei als der Nahe Osten, fühlten wir uns stark vom islamistischen Terror bedroht. Zu erklären sei das insbesondere durch die Bildmacht, die die Berichterstattung über die Anschläge entfalte. Über diese seien sich die Attentäter durchaus bewusst. Für weniger überzeugend hält Macho die These Navid Kermanis vom aktiven Nihilismus des Terrors, der zufolge islamistische Selbstmordanschläge paradoxerweise dadurch Sinn stifteten, dass sie Sinn vernichteten. Man müsse, so Macho, berücksichtigen, dass die meisten Attentäter zwar eine technische, aber keine religiöse Ausbildung hätten – religiöse Motive also meist keine zentrale Rolle für sie spielten.

Suizid-Prävention – der richtige Weg?

Macho zufolge ist die 'Suizid-Prävention' einerseits wichtig und richtig, wenn es zum Beispiel um die Einrichtung von Notruftelefonen gehe. Andererseits suggeriere der Präventionsansatz aber, dass jeder Suizid eine Katastrophe sei, die es zu verhindern gelte. Die Maxime der Verhinderung sei aber nicht für jeden Suizid richtig: "Als die ersten Einrichtungen zur Suizidprävention, etwa in Österreich, gegründet wurden, trugen sie den Titel 'Lebensmüdenfürsorge', den mochte ich immer sehr gern und zwar einerseits deshalb, weil Lebensmüdigkeit hier nicht von vornherein als Krankheit angesehen wird, sondern weil Lebensmüdigkeit etwas ist, was Menschen widerfahren kann und legitim ist und die Fürsorge, das ist ein Akt der Zuwendung, der mit Prävention, mit Verhinderung, mit Krisenintervention – mit solchen Begriffen schwer erfasst werden kann und ich habe mich in diesem Zusammenhang auch gefragt, warum Begriffe wie Fürsorge, Fürsprache, Fürbitten so ein schlechtes Image haben. Es ist so, als würden die Begriffe, die vor allem mit der Sorge um andere im Zusammenhang stehen, heute im öffentlichen Bewusstsein eher abgewertet", meint Macho.

Sterbehilfe – Spagat zwischen Einzelfall und rechtlichen Schlupflöchern

Ein großes Problem im Zusammenhang mit der Sterbehilfe sieht Macho darin, dass rechtliche Verallgemeinerungen, die das schlimmste Szenario zugrunde legten – die Euthanasie – , den realen Einzelfällen oft nicht mehr gerecht werden könnten. Es müsste deshalb Beratungsmöglichkeiten geben, argumentiert Macho, die gewährleisteten, dass tatsächlich im Einzelfall entschieden werde.
Insgesamt plädiert Macho für eine weitergehende Entpathologisierung des Suizids: "Ich würde mir wünschen, dass der ganz wichtige Präventionsgedanke, den wir auch heute zurecht in den Vordergrund stellen, ergänzt oder komplettiert wird durch eine Haltung des Respekts und der Anerkennung und das auch und gerade im Namen der Hinterbliebenen und Angehörigen, die oft ein Leben lang darunter leiden, dass sie sich Vorwürfe machen, dass sie Schuldgefühle haben, dass sie denken, sie haben etwas versäumt, was natürlich unter dem Imperativ der Prävention auch ganz klar ist: ich habe irgendetwas nicht gemacht, was es verhindert hätte können. Und ich habe mal mit einer sehr guten Freundin über den Suizid ihrer Schwester gesprochen und sie hat immer noch unter Tränen gesagt: 'Ich weiß, es war ihr Weg' – und das ist eine Haltung von Respekt, von Anerkennung, die dann letztlich auch hilft, die eigene Trauer zu bewältigen".

Hören Sie zum Thema Suizid-Prävention den Beitrag von Anke Schaefer in unserer Sendung "Studio 9 kompakt" Audio Player

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