Summe eines Oeuvres
Nach Bekanntgabe des Literaturnobelpreisträgers Jean-Marie Gustave Le Clézio hat der Verlag Kiepenheuer & Witsch "Revolutionen" neu aufgelegt. Es ist der letzte groß angelegte Roman des französischen Schriftstellers, der im Original 2003 erschien. In der Familiensaga erzählt Le Clézio von Revolution und Umwälzung, zielt aber letztlich auf etwas Überpolitisches.
Die deutschen Verlage von Jean-Marie Gustave Le Clézio haben nach der Nobelpreis-Verkündung rasch reagiert. Sowohl Piper als auch Kiepenheuer & Witsch, die im Moment der Bekanntgabe kein einziges seiner Bücher mehr vorrätig hatten, legen jetzt mit Taschenbüchern nach. Sie reichen von dem fast schon legendären Debüt "Das Protokoll" (Piper), mit dem der junge Autor 1963 schlagartig bekannt wurde und als großer Hoffnungsträger für die "Überwindung" des Nouveau Roman gefeiert wurde, bis zu seinem letzten großangelegten Roman "Revolutionen" (KiWi), der in Deutschland 2006 erschien und in Frankreich 2003 – danach hat er bislang nur noch Autobiografisches vorgelegt.
Le Clézio, der hierzulande, abgesehen von seinem Debüt, vor allem in den achtziger, neunziger Jahren rezipiert wurde, als er sich längst von einem formal avantgardistischen Autor zu einem farbigen, man konnte bisweilen sogar sagen behäbigen Erzähler entwickelt hatte, Le Clézio also gibt mit "Revolutionen" vielleicht die bisherige Summe seines Oeuvres. Der Titel lässt Politisches vermuten. Aber obwohl in dieser großen Familiensage auch ein Mitglied vorkommt, das in die Wirren der großen französischen Revolution von 1789 gerät und sogar den Koalitionskrieg von 1792, ja die berühmte, von Goethe so detailliert geschilderte Kanonade von Valmy mitmacht, meint der Autor mit Revolution, Umwälzung, etwas Überpolitisches.
Umwälzend gerät das Leben vieler seiner Figuren, insofern viele von ihnen ihre Familie, ihr Herkunftsmilieu, ihr Land verlassen. Der Held, aus dessen Perspektive die weitverzweigte Handlung erlebt wird, der halbwüchsige Jean Marro also, erlebt beispielsweise sehr bewusst die Umwälzung der Pubertät. Auf subtile Weise schildert der über 60 Jahre alte Autor hier, wie für den sensiblen Jean auf einmal das Gewohnte fremd wird, die quirlige Stadt am Mittelmeer, in der er lebt (wohl Nizza, der Geburtsort Le Clézios) ihm als trostlos und langweilig erscheint, das Leben seiner Eltern als reizarm und unbefriedigend.
Doch da ist seine Großtante Catherine, eine alte, gebrechliche Dame, die über ein phänomenales Gedächtnis verfügt. Bei ihr findet er Zuflucht, sie weiht ihn in allerhand Familiengeheimnisse ein. Und sie vor allem ist es, die sein Fernweh anstachelt, das sie als das beste Erbteil seiner und ihrer Sippe bezeichnet. Der Ausbruch aus der festgefahrenen westlichen Zivilisation mit ihrem Materialismus und ihrer Saturiertheit ist bekanntlich in allen Büchern Le Clézios ein großes Thema. Mal sind es die mittelamerikanischen Hochkulturen vor der Entdeckung des Kontinents durch die Europäer, mal ist es das Nomadentum der Nordafrikaner, die Le Clézio als ein Bild des einfachen, nicht-entfremdeten Lebens dem Dasein in Europa entgegenhält.
Hier, in "Revolutionen", ist es nun die exotische Kulisse der Ile St. Maurice im Indischen Ozean, die Le Clézio in bunten, ja glühenden Farben heraufbeschwört. Gewaltige Landschaftsbeschreibungen reihen sich an Episoden voller Abenteuer, Expeditionen in den Urwald kommen ebenso vor wie bewaffnete Auseinandersetzungen. Vergangenheit und Gegenwart, Fremde und Nähe spiegeln sich wechselseitig – und am Ende steht im Grunde der Appell, der alle Werke dieses weitgereisten Mittlers zwischen den Kulturen durchzieht: Du musst dein Leben ändern!
Rezensiert von Tilman Krause
Jean-Marie Gustave Le Clézio, "Revolutionen",
Übersetzt von Uli Wittmann
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 555 Seiten
Le Clézio, der hierzulande, abgesehen von seinem Debüt, vor allem in den achtziger, neunziger Jahren rezipiert wurde, als er sich längst von einem formal avantgardistischen Autor zu einem farbigen, man konnte bisweilen sogar sagen behäbigen Erzähler entwickelt hatte, Le Clézio also gibt mit "Revolutionen" vielleicht die bisherige Summe seines Oeuvres. Der Titel lässt Politisches vermuten. Aber obwohl in dieser großen Familiensage auch ein Mitglied vorkommt, das in die Wirren der großen französischen Revolution von 1789 gerät und sogar den Koalitionskrieg von 1792, ja die berühmte, von Goethe so detailliert geschilderte Kanonade von Valmy mitmacht, meint der Autor mit Revolution, Umwälzung, etwas Überpolitisches.
Umwälzend gerät das Leben vieler seiner Figuren, insofern viele von ihnen ihre Familie, ihr Herkunftsmilieu, ihr Land verlassen. Der Held, aus dessen Perspektive die weitverzweigte Handlung erlebt wird, der halbwüchsige Jean Marro also, erlebt beispielsweise sehr bewusst die Umwälzung der Pubertät. Auf subtile Weise schildert der über 60 Jahre alte Autor hier, wie für den sensiblen Jean auf einmal das Gewohnte fremd wird, die quirlige Stadt am Mittelmeer, in der er lebt (wohl Nizza, der Geburtsort Le Clézios) ihm als trostlos und langweilig erscheint, das Leben seiner Eltern als reizarm und unbefriedigend.
Doch da ist seine Großtante Catherine, eine alte, gebrechliche Dame, die über ein phänomenales Gedächtnis verfügt. Bei ihr findet er Zuflucht, sie weiht ihn in allerhand Familiengeheimnisse ein. Und sie vor allem ist es, die sein Fernweh anstachelt, das sie als das beste Erbteil seiner und ihrer Sippe bezeichnet. Der Ausbruch aus der festgefahrenen westlichen Zivilisation mit ihrem Materialismus und ihrer Saturiertheit ist bekanntlich in allen Büchern Le Clézios ein großes Thema. Mal sind es die mittelamerikanischen Hochkulturen vor der Entdeckung des Kontinents durch die Europäer, mal ist es das Nomadentum der Nordafrikaner, die Le Clézio als ein Bild des einfachen, nicht-entfremdeten Lebens dem Dasein in Europa entgegenhält.
Hier, in "Revolutionen", ist es nun die exotische Kulisse der Ile St. Maurice im Indischen Ozean, die Le Clézio in bunten, ja glühenden Farben heraufbeschwört. Gewaltige Landschaftsbeschreibungen reihen sich an Episoden voller Abenteuer, Expeditionen in den Urwald kommen ebenso vor wie bewaffnete Auseinandersetzungen. Vergangenheit und Gegenwart, Fremde und Nähe spiegeln sich wechselseitig – und am Ende steht im Grunde der Appell, der alle Werke dieses weitgereisten Mittlers zwischen den Kulturen durchzieht: Du musst dein Leben ändern!
Rezensiert von Tilman Krause
Jean-Marie Gustave Le Clézio, "Revolutionen",
Übersetzt von Uli Wittmann
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 555 Seiten