Fabian Goldmann ist Journalist und Islamwissenschaftler. Für verschiedene Magazine und Zeitungen berichtete er viele Jahre aus Nahost. Zurzeit widmet er sich vor allem dem Islam diesseits des Bosporus. Auf seinem Blog Schantall und die Scharia bloggt er über Islamophobie in Deutschland.
Wie ein Konflikt von der Politik instrumentalisiert wird
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Die Erzählung der konfessionellen Gegensätze zwischen Schiiten und Sunniten ist populär. Für den Journalisten und Islamwissenschaftler Fabian Goldmann ist sie nur ein Mix aus Klischees und Propaganda – hinter dem politisches Kalkül stecke.
Ein Wasserpfeifencafé in der Altstadt von Damaskus: Das muss der Ort gewesen sein, in dem das theologische Halbwissen und die Orient-Klischees eines Islamwissenschaft-Erstsemesters erstmals in die Frage mündeten: "Schiit oder Sunnit?" Zu meiner Verwunderung spielte der angebliche Grundkonflikt der islamischen Welt im Leben meines syrischen Gegenübers aber gar keine Rolle. Mehr noch: Auch andernorts schienen viele meiner Gesprächspartner nicht einmal eine Antwort auf meine Frage zu wissen.
15 Jahre ist das gerade einmal her. Heute dient die Frage, die sich damals allenfalls naiven Arabischschülern wie mir stellte, vielen Nahost-Experten und Journalisten als universelle Antwort auf die Konflikte innerhalb der islamischen Welt: "Schiiten gegen Sunniten".
Irakkrieg 2003: Auftakt konfessioneller Gewalt
Die Bombardierung Jemens, der Krieg im Irak, Anschläge in Pakistan oder der Kampf um die Macht in Syrien: Alles scheint auch Konsequenz eines innerislamischen Zerwürfnisses zu ein, das vor 1400 Jahren mit einer Schlacht in der irakischen Wüste seinen Anfang nahm.
Diese Erklärung ist nicht völlig falsch. Nur die Zeitangabe stimmt nicht. Fragt man beispielsweise heute in Wasserpfeifencafés Bagdads nach dem Ursprung der konfessionellen Gewalt im Land, beginnt die Erzählung selten mit dem Aufmarsch des verhassten Umayyaden-Herrschers Yazid im Jahr 680.
Sie beginnt mit dem Einmarsch der Amerikaner im Jahr 2003. Das Prinzip von "teile und herrsche" ist ein sehr viel besserer Schlüssel zum Verständnis der Gewalt in der Region als das der Prophetenachfolge.
Saudi Arabien begründet Gewalt mit Kampf gegen Schiiten
Kein Akteur beherrscht dies so gut wie Saudi Arabien. Mit einem endlosen Strom aus Waffen, Dollars, Terroristen, Kriegen und Predigern versucht das Königshaus seiner anti-schiitischen und sektierischen Staatsdoktrin in der Region Geltung zu verschaffen. Im Zweifel gilt: Was nicht schiitisch ist, wird schiitisch gemacht. Ob die Niederschlagung von Demokratie-Protesten in Bahrain, die Belagerung des sunnitischen Katars oder die Hinrichtung von Menschenrechtsaktivisten: In der Propaganda saudischer Prinzen und Fernsehprediger wird alles zur Abwehrschlacht gegen eine vermeintliche iranisch-schiitische Internationale.
Nicht nur Millionen Muslime, auch viele westliche Kommentatoren hören ihnen dabei zu. Die Erzählung von den unversöhnlichen konfessionellen Gegensätzen klingt in hiesigen Ohren auch deshalb so glaubwürdig, weil sie unser altes Klischees vom unveränderlichen Orientalen bedient: Ein traditionsversessener Stammesanhänger, dessen Hang zur nachbarschaftlichen Gewalt sich allenfalls durch die harte Hand eines autoritären Despoten im Zaum halten lässt.
Politiker nutzen Konfessionalismus für eigene Machtinteressen
Dieser Mix aus Klischees und Propaganda hat zur Folge, dass in westlichen Medien selbst abstruse Legenden wie die vom "schiitischen Halbmond" als politische Analysen durchgehen. Dabei haben jene Schiiten, die angeblich vom Libanon über Aserbaidschan bis Bahrain gemeinsam die Welt bedrohen, in der Realität nicht viel mehr gemein, als derselben Verschwörungstheorie als Protagonisten dienen zu müssen. Für die Fälle tatsächlicher politischer Bündnisse zeigt ein Blick in die Geschichte: Viele der vermeintlich ewigen Loyalitäten überdauern nicht einmal ein paar Jahrzehnte.
Nein, die Politik im Nahen Osten ist nicht Folge konfessioneller Gegensätze zwischen Schiiten und Sunniten. Der Konfessionalismus ist Instrument der Politik. Es sind politische Akteure, die darüber entscheiden, ob Unterschiede in Ethnie, Sprache, kulturellen Bräuchen oder Glauben zu unversöhnlichen Identitäten aufgebläht werden, oder ob sie bloß ein Small-Talk-Thema im Wasserpfeifencafé bleiben.