Zerrieben zwischen Regierung und IS
Jahrzehntelang gaben Sunniten im Irak den Ton an. Doch nun sind die Sicherheitsorgane im Irak schiitisch dominiert. Bei den derzeitigen Kämpfen um Mossul geraten Bewohner sunnitischer Dörfer zwischen alle Fronten: Die Folge sind große Fluchtbewegungen.
Nordirak, auf der Straße von Erbil nach Machmour, der letzten größeren Stadt kurz vor der Front gegen den IS.
Einer von vielen Kontrollpunkten, wie es sie hier zu Dutzenden entlang der großen Straßen gibt. Kurdische Peschmerga und Polizisten spähen ins Auto, leuchten mit Taschenlampen hinein und wollen, wie so oft, zuerst das Eine wissen:
"Seid ihr Araber?" Als die Antwort "nein" lautet, entspannen sich die Gesichter. Die Daumen weisen nach oben. Auf weitere Kontrollen wird verzichtet.
"Seid ihr Araber?" Nichts könnte den tiefen Sturz der einstigen Staatselite des Irak deutlicher vor Augen führen als diese Frage: Sie, die sunnitischen Araber, waren jahrzehntelang die unumstrittenen Herren im Land. Bis die US-geführte Invasion Diktator Saddam Hussein von der Macht vertrieb, dominierten sie Armee, Polizei und Verwaltung.
Damals verkörperten sunnitische Araber den Irak und dessen Staatsideologie, den Arabischen Nationalismus. Zwar blieben sie stets in der Minderheit gegenüber den rund 70 Prozent Schiiten und etwa 15 Prozent Kurden. Dennoch waren sie es, die andere anhielten, mit Taschenlampen in Autos leuchteten und Fragen stellten.
Die einstige Elite des Iraks steht unter Verdacht
Weil sich heute die Terroristen des IS aus sunnitischen Arabern speisen, ist es nun genau andersherum; jetzt steht die einstige Elite des Iraks unter Verdacht, zu den Staatsfeinden zu gehören. Bei der laufenden Offensive auf die IS-Hochburg Mossul greifen Peschmerga und irakische Armee zunächst die ringsum liegenden Sunnitendörfer an. Auch wenn die Menschen dort oft keine Sympathie für den islamistischen Terror des IS hegen, sagt der Menschenrechtler Fuad Zindani:
"In den Dörfern gab es IS-Miliz. Die Leute, immer wenn sie die Chance haben, verlassen die eigenen Dörfer, kommen zu den Peschmerga und sagen: 'Wir sind geflüchtet, wir wollen in Sicherheit leben".
Die Bodenoffensive gegen Mossul, die inoffizielle Hauptstadt des IS im Irak, treibt viele arabische Sunniten aus ihren Dörfern in Richtung der Kurdenregion. Es ist eine nie da gewesene Wanderbewegung, ein Exodus, der sich innerhalb der Staatsgrenzen des Landes abspielt. Fuad Zindani will sich ein eigenes Bild von der Lage dieser Flüchtlinge machen.
Auf einem Areal, das mit Schottersteinen ausgelegt ist, beigefarbene Bungalows - soweit das Auge reicht, errichtet aus Fertigbauelementen. Jede Einheit kaum größer als ein Wohnmobil. Am Ende jeder Lagerstraße Lastwagen-Anhänger mit Duschen und Toiletten, daneben Zapfstellen für Wasser, vor denen sich Menschenschlangen bilden. In der Nähe: Busse mit mobilen Krankenstationen. Schutz vor der Sonne gibt es hier kaum. Ein Mitarbeiter des Flüchtlingscamps geht zu derjenigen, die gerade eingetroffen sind.
"Vorgestern sind 300 Familien in Machmour angekommen, heute morgen noch mal 150. Sie warten dort auf die Weiterfahrt in unser Lager."
"Die IS-Leute verteidigen nur sich selbst"
Abdel Asis, ein Familienvater Ende Dreißig trägt das lange Dischdascha-Gewand der sunnitischen Araber. Aus seinem Dorf nahe Mossul – nur ein paar Dutzend Kilometer weit von hier - konnte er mit Frau und Kindern den Fängen des IS entkommen. Eine gefährliche Flucht, erzählt er. Und verwahrt sich dagegen, mit denen vom so genannten Islamischen Staat in einen Topf geworfen zu werden.
"Der IS schützt uns überhaupt nicht. Der IS schützt niemanden. Die IS-Leute verteidigen nur sich selbst. Im Namen des Islam und der Religion begehen sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Einmal kam mein Sohn an und sagte: 'Ich habe gesehen, wie drei Leichen auf Kreuze aufgehängt wurden. Das war ein Mann mit seinen beiden Söhnen – ein Ex-Hauptmann beim irakischen Armeegeheimdienst. Ich stellte fest, dass sie bereits erschossen worden waren. Anschließend hatten sie die Drei gekreuzigt und entlang unserer Hauptstraße aufgestellt, als Abschreckung, damit sie alle sehen."
Die Krieger des so genannten Islamischen Staates redeten zwar viel von Tradition, sagt Abdel Asis. Tatsächlich aber handele es sich vor allem um moderne, entwurzelte Jugendliche. Arbeitslose junge Männer, schlecht erzogen, ohne Bildungshintergrund.
"Wir haben viele Ausländer unter ihnen gesehen. Saudis, Kataris, Leute aus den Emiraten. Sie unterhalten in unserem Dorf ihr eigenes Büro, wo sie sich treffen. Man erkennt sie an ihrem jeweiligen Arabisch-Dialekt. Sie kommen aus der ganzen Welt. Aus Afghanistan, aus Saudi Arabien oder Syrien.
Die Araber aus dem Ausland sind in der Regel die Anführer, die Emire. Die unteren Ränge stammen aus dem Irak. Es sind unmoralische Menschen, die keine Ahnung von Religion haben. Sobald sie beim IS sind, lassen sie sich lange Bärte wachsen und treten dann im Namen der Religion auf. Dabei sind die meisten von ihnen sehr jung, oft unter 18 Jahre alt."
Aber auch die Begegnung mit denjenigen, die die Menschen in der Region vom IS befreien wollen, sagt Abdel Asis, könne für sie tödlich verlaufen.
Gefährlich seien vor allem die irregulären Gruppen, die gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS kämpfen. Das meinen auch ein paar Männer, die die Unterhaltung mit angehört haben. Zum Kampf gegen den IS habe die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad so genannte Volksmobilisierungskräfte gebildet – oft aus Milizen schiitischer Parteien.
"Das Problem ist, dass die Angehörigen der Schiitenmilizen denken: alle Sunniten gehören zum IS. Ihre Volksmobilisierungskräfte setzen sich aus Anhängern schiitischer Parteien zusammen, der al Sadr-Organisation, der Badr-Brigaden - und alle sind mit dem Iran verbündet. Mein Bruder wurde von ihnen festgenommen. Bis jetzt fehlt von ihm jede Spur. Wenn die Volksmobilisierungskräfte ein Gebiet erobert haben, sieht man dort Flaggen mit Bildern schiitischer Heiliger wie Hussein, Fatima, Zeinab oder mit dem Logo der Hisbollah. Auch wenn die normalen Milizionäre selber keine Iraner sind: kontrolliert werden alle diese Gruppen vom Iran."
Rolle der schiitischen Milizen im Kampf gegen den IS
Der Menschenrechtler Fuad Zindani beobachtet ebenfalls, wie sich im Irak in den vergangenen zwei Jahren das Schwergewicht im Kampf gegen den IS von der regulären Armee hin zu schiitischen Milizen verlagert hat. Inzwischen, sagt er, stellten sie die schlagkräftigsten Verbände – auch wenn sie sich offiziell nur als Hilfstruppen ausgäben.
"Eigentlich, die haben gesagt: mit irakischer Armee gegen IS kämpfen. Aber praktisch: die sind irakische Armee. Die irakische Armee ist so schwach geworden. Deshalb wurde Hascht al Schaabi gegründet. Sie spielen dieselbe Rolle, haben dieselben Waffen, dieselben Klamotten."
Für westliche Politiker und Medien gilt in diesen Krieg allzu oft die Gleichung: Islamistische Radikale – das sind die Araber und Sunniten, während im Umkehrschluss diejenigen, die gegen den IS-Terror kämpfen, als nicht islamistisch gelten, als weltlich orientiert, als Anhänger eines modernen Zentralstaats. Diese Gleichung geht aber nicht auf, weder in Syrien noch im Irak.
Schon deshalb nicht, weil sich nicht nur der IS, im Dschihad, im heiligen Krieg wähnt. Auch diejenigen, die gegen den IS vorgehen sollen, werden dazu mit dem Begriff Dschihad motiviert. Etwa vom schiitischen Regime in Teheran oder vom Oberhaupt der irakischen Schiiten, Ayatollah as-Sistani.
Das zeigt sich vor einer der schiitischen Moscheen, wie es viele zwischen Basra im Südirak und der kurdischen Autonomieregion im Norden gibt. Dutzende junger Männer kommen vom Gebet im Innenhof nach draußen. Sie marschieren langsam, in Kolonne, klopfen sich immer wieder mit geballter Faust ans Herz; kasteien sich, wie Generationen vor ihnen, klagen und weinen um das auf Erden verlorene Heil; um die Niederlage der Partei Alis, des Prophetenschwiegersohnes gegen die Mehrheitsmuslime, die sich später Sunniten nennen.
Viele identifizieren die Jahrtausende alte Ungerechtigkeit und Unterdrückung der Schiiten durch die sunnitischen Mehrheitsmuslime mit der heutigen Verfolgung der Schiiten durch den IS.
Haydar und seine "religiöse Mission"
Es sind Männer wie Haydar: Der Endzwanziger trägt einen Fünftagebart, ein schwarzes Hemd ohne Rangabzeichen, eine schwarze Hose, schwarze Springerstiefel und eine schwarze Baseballkappe. Er führt eine Abteilung der so genannten Imam-Ali-Einheit an, einer Miliz aufseiten der irakischen Armee. Er selbst trägt keine Waffe. Seine Männer sind mit Kalaschnikows bewaffnet. Haydar sieht sich nicht nur in einer militärischen, sondern auch in einer religiösen Mission.
"Ich komme aus Nadschaf im Südirak. Nadschaf ist die Stadt des Führers der Gläubigen, Imam Ali, Friede sei mit ihm. Die Stadt für die gesamte Menschheit. Imam Ali wurde nicht allein zu den Schiiten, Sunniten oder Christen gesandt, sondern zu allen."
Steht der Iran hinter den Hascht al Schaabi-Milizen? Haydar weist das zurück.
"Als Einheit "Imam Ali" sind wir völlig unabhängig. Vielleicht gibt es andere Gruppen, bei denen das anders ist. Aber wir sind als Freiwillige zusammengekommen, nachdem Ayatollah as-Sistani die Gläubigen durch eine Fatwa dazu aufgefordert hat. Deshalb haben wir uns entschieden, gegen den IS zu kämpfen. Sehen Sie sich unsere Waffen an. Sie sind bei weitem nicht so schlagkräftig wie wir sie wollen. Daran allein erkennen Sie, dass uns niemand aus dem Ausland unterstützt. Wir haben weder etwas mit der Türkei zu tun noch mit dem Iran."
Und eigentlich, betont Haydar, führten er und seine Männer auch den Krieg des Westens. Sie hielten ihre Haut hin, damit der internationale Terror in New York, Paris und Berlin besiegt werde.
"Wenn die USA gegen den IS vorgehen, dann verbünden wir uns auch mit ihnen. Unser Hauptziel ist der Kampf gegen den IS. Egal, wer gegen den IS vorgeht – jeder, der das tut, ist unser Partner."
Berichte über Verhaftungen und Folterungen
Schiitische Dschihadisten als Partner gegen sunnitische Dschihadisten? Der Westen wäre schlecht beraten, wenn er sich darauf einließe, meint der Menschenrechtler Fuad Zindani.
"Hascht al Schaabi sind direkt verbündet mit dem iranischen Regime. Und die wollen machen, was Iran fordert. Sie können nachfragen: warum bist du hier, "Ausweise geben", uns kontrollieren. In sunnitischen Gebieten ist das ganz normal. Sie verhaften die Leute, foltern auch. Sie machen das, ja…"
Fuad verweist auf die regelmäßigen Pressekonferenzen, die das Pentagon ins Internet stellt. Es bedarf bloß einiger Maus-Klicks, um sie über die Website des Pentagon abzurufen. Dort häufen sich die Journalistenfragen nach Menschenrechtsverletzungen, nach Übergriffen der verbündeten schiitischen Volksmobilisierungskräfte. In einer Pressekonferenz Ende Juni 2016 sieht sich der Sprecher der Koalition, der britische Generalmajor Doug Chalmers, genötigt, in seiner Skype-Schaltung aus Bagdad einzuräumen:
"Wir haben von den Vorwürfen willkürlicher Übergriffe gegen Zivilisten gehört. Also von Übergriffen, bei denen es sich nicht um Kollateralschäden handelt, sondern um vorsätzliche Ausschreitungen. Sie selber haben das Wort Folter dafür gebraucht.
Das macht uns sehr betroffen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich darüber eine Menge hochrangiger Gespräche mit führenden irakischen Generälen habe und, was vielleicht noch wichtiger ist: mit dem irakischen Premierminister. Er ist ebenso betroffen und hat seine Generäle angewiesen, interne Untersuchungen anzustellen, um zu ermitteln, was genau sich da abspielt und wenn sich die Vorwürfe als stichhaltig erweisen – die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen."
US-Spezialtruppen rekrutieren sunnitische Stammesverbände
Um andererseits die irakischen Sunniten einzubinden, das Gleichgewicht wieder herzustellen, haben US-Spezialtruppen damit begonnen, sunnitische Stammesverbände zu rekrutieren, auszubilden und ins Gefecht zu begleiten. Auch im Camp von Machmour, der Ausgangsbasis der internationalen Koalition für die Offensive gegen Mossul.
Das Militärlager ist einer der vielen tristen Stützpunkte, von denen weltweit der Bodenkampf gegen den Terror geführt wird: Stacheldraht bewehrte Wälle, ein Wachturm und Betonklötze zwingen jedem Fahrzeug einen langsamen Slalom auf. Hinter der Torkontrolle rollt das Auto auf einer Schotterpiste zwischen einstöckigen langgezogenen Gebäuden entlang. Früher gehörten die Kasernen der regulären irakischen Armee.
Daran erinnern die martialischen Motive, die durch Schablonen auf die Mauern gesprüht sind: fauchende Adler, brüllende Löwen, gekreuzte Säbel oder Gewehre. Es sind die Wappen jener Regimenter, die im Sommer 2014 Hals über Kopf die Flucht ergriffen, als der IS anrückte. Ihr schweres Gerät überließen sie der Terrormiliz.
Jetzt steht die Basis unter Aufsicht der kurdischen Peschmerga. Sie haben den Truppen aus Bagdad einen neuen Bereich zugewiesen, unweit der sunnitischen Stammeskämpfer. Auch US-Soldaten sind anwesend. Najad Ali Saleh, der kurdische Stützpunktkommandeur sitzt in der Kantine. Er deutet aus dem Fenster und zeigt die Unterkünfte der GI's. "Camp Swift" steht in auf einem Schild über dem Eingang zu einem Geviert aus Sandsäcken und Stacheldraht.
"Keine Ahnung, wie viele es sind. Aber so weit ich weiß, haben sie sich in drei Gruppen aufgeteilt. Sie sind hier ganz in unserer Nähe stationiert. Eins der Teams besteht aus Fernspähern, die die Luftwaffe einweisen. Ein anderes geht gemeinsam mit den arabischen Stämmen vor und bildet sie aus."
Die Amerikaner, sagt er, ließen niemanden hinein und seien zu keinem Gespräch bereit. Deshalb könne er auch keinen Kontakt vermitteln. Bei den Sunnitenmilizen sei das möglich, aber nicht ratsam. Wer zu ihnen gehe, gehe auf eigene Gefahr.
Anführer Scheich Sakhar Salman
Anführer der hiesigen Sunnitenmiliz ist Scheich Sakhar Salman, ein schlanker, hochgewachsener Mann Anfang Vierzig. Er trägt eine Tarnuniform in Khaki, dazu eine hohe runde Schirmmütze, so wie sie auch von der US-Armee verwendet wird. Rangabzeichen fehlen.
"Wir unterhalten enge Kontakte mit den Amerikanern, besonders mit den US-Geheimdienstoffizieren. Die US-Offiziere sind mit bei unseren Einsätzen mit unterwegs. Unsere Einheit setzt sich aus drei Stämmen zusammen: L'Hebi, Sabawin, Dschubur. Die Führer dieser drei Stämme haben diese Einheit gegründet. Scheich Faras, der inzwischen gestorben ist, Scheich Mohammed, und ich, Scheich Sakhar Salman."
Angesichts der Ausschreitungen der irakischen Armee und der schiitischen Milizen an seinen Glaubensgenossen - was motiviert Scheich Salman und seine sunnitischen Gefolgsleute, sich dennoch der internationalen Koalition anzuschließen?
"Der IS hatte uns aufgefordert, auf seiner Seite zu kämpfen, aber wir haben das abgelehnt. Als Reaktion sprengten IS-Kämpfer 250 Häuser unseres Stammes. Unsere Stammesangehörigen sind Richtung Erbil und Kirkuk geflüchtet. Meinen Besitz hat der IS geplündert und mich zum Tode verurteilt. Den Sohn meines Bruders und meinen Cousin haben sie enthauptet, außerdem weitere 56 Mitglieder meines Stammes."
Die Flüchtlingszahlen wachsen mit jedem Tag, an dem gekämpft wird. Nach der Eroberung Falludschas rücken Bodentruppen der Anti-IS-Koalition immer weiter auf Mossul vor, der Hauptstadt des so genannten Islamischen Staates im Irak. Rund um die Stadt werden immer mehr Dörfer der sunnitischen Minderheit erobert. Deren Einwohner fliehen in Richtung des kurdischen Autonomiegebiets. Vor den Kämpfen, vor dem IS, aber auch vor den schiitisch dominierten Befreiern.
Das Lager von Dibaga ist überfüllt
Das Lager von Dibaga platzt aus allen Nähten. Der kurdische Camp-Manager schlägt Alarm.
"Dieses Lager ist überfüllt. Wir haben eine Kapazität von bis zu 4500 Personen. Aber schon jetzt leben hier 7000. Und täglich kommen mehr. Allein heute rechnen wir mit 200 Neuzugängen. So geht es weiter, Tag für Tag und die Zahlen dürften noch anwachsen.
Wenn wir zu den Chefs der frisch zurückeroberten Dörfer sprechen, dann sagen sie: Angenommen der irakischen Armee gelingt es, nur drei Dörfer vom IS einzunehmen, dann müssen wir mit 32-35.000 Flüchtlingen rechnen. Von solchen Zahlen müssen wir ausgehen, das ist sicher. Sie werden kommen."
Dabei seien selbst diejenigen, die es bis hierher ins Lager geschafft haben, sagen Flüchtlinge aus einer Gruppe von Sunniten, noch lange nicht sicher:
"Der kurdische Sicherheitsdienst in diesem Lager hat aus einigen Familien Männer festgenommen, weil ein abwesendes Familienmitglied beim IS ist. Wenn in einer Familie einer beim IS ist, wieso nehmen sie dann die anderen fest? Ich kenne Leute in diesem Lager, die festgenommen wurden, nur weil deren Cousins beim IS sind. Eine Nachricht bekommt man anschließend nicht. Die Menschen verschwinden, ohne dass man weiß, was mit ihnen passiert."
"Mossul 30 Kilometer" "Erbil 10 Kilometer" , "Bagdad 150 Kilometer". Auch zwischen den Containerhäusern von Dibaga zeigen Wegweiser die Entfernungen an.
Wegweiser, die nicht nur für geographische, sondern auch für politische Richtungen zu stehen scheinen. An den Zentralstaat scheint im Irak so gut wie keiner mehr zu glauben. Und vom Terrorkalifat des IS in Mossul über die kurdische Autonomieregion in Erbil bis hin zur schiitisch dominierten Zentralregierung in Bagdad – alle pflegen ihre eigenen Projekte.
"Wir Sunniten sehen für uns keine Zukunft im Irak. Im Autonomiegebiet der Kurden zu leben, ist für uns noch immer die bessere Wahl. Aber unter der irakischen Regierung gibt es für uns keine Schulen, kein Universität. In einem gemeinsamen Irak sind wir als sunnitische Araber verraten und verkauft."