Werner Spies: Vox Angelica. Max Ernst und die Surrealisten in Amerika
Carl Hanser Verlag, München 2014
384 Seiten, 34,90 Euro
Im Dickicht der Details
Unter 400 Kunstwerken von Max Ernst, die Werner Spies als Fälschungen enttarnt hat, hat es sieben Nachahmungen gegeben, bei denen er sich geirrt hat. Spies ist also ein nachweisbarer Max-Ernst-Kenner und untermauert dies auch in seinem Buch, in dem das Gemälde "Vox Angelica" im Mittelpunkt steht.
"Ich habe mich nur siebenmal täuschen lassen", wiegelt Werner Spies ab. Ganze vierhundertmal habe er dagegen richtig gelegen, also Fälschungen von Max Ernsts Werken als solche erkannt. Als weiterer Versuch, die Maßstäbe zurechtzurücken und sich in der Kunstwelt zu rehabilitieren, erscheint sein jüngstes Buch "Vox Angelica. Max Ernst und die Surrealisten in Amerika". Denn es stellt vor allem seine zweifellos enormen Kenntnisse des verehrten Surrealisten unter Beweis. Dass Spies das Buch ausgerechnet jenem Sammler widmet, der für sieben Millionen Dollar die teuerste der von ihm durchgewunkenen Fälschungen erwarb, mutet allerdings etwas zynisch an.
Im Zentrum des fast 400 Seiten starken Buches steht ein Gemälde von Max Ernst, das Spies als "Hauptwerk der europäischen Malerei im Exil" bewertet. Es entstand 1943 in der notgedrungen aufgesuchten Fremde und der selbstgewählten Einsamkeit Arizonas, während in Europa der Krieg wütete. Vox Angelica ist "Requiem und rettende Arche Noah in einem", eine reisetaugliche Miniatur-Revue des bisherigen Lebenswerks und ein geradezu didaktisches Auffächern seiner berühmtesten Verfahren: Décalcomanie, Frottage, Oszillation, Grattage. "Engelsstimme" betitelt Ernst das Werk und ergänzt diesen Namen eines Orgelregisters durch einen Bildaufbau, der an Kirchenfenster gemahnt. Gemalte Leisten statt Bleibänder bilden ein rechtwinkliges Raster aus 51 Bildfeldern, die er stilistisch wie inhaltlich ganz unterschiedlich füllt. Genauso viele Lebensjahre hatte ihm Surrealistenkollege Robert Desnos einst in einer Séance prophezeit. 1943 ist Ernst 52. Es ist also eine Phantasie des überdauerten Lebens, eine Musterung des Geleisteten, ein facettierter Rückblick auf das bisherige Werk, jedoch nicht als lineare Geschichte, sondern als ausgebreitete Kartographie.
Nicht nur ein Resultat der Exilerfahrung
Als habe sich Werner Spies von dieser dezentralen, nichtlinearen Struktur inspirieren lassen, mäandern seine knapp 60 Kapitel durch Gefilde und Zeiten. Mal beleuchten sie den "surrealistischen Überfall auf Amerika", dessen Auswirkungen der Autor als unerhört bewertet und anhand damaliger Werbung aufzeigt. Mal widmen sie sich Ernsts Inspiration durch naturwissenschaftliche Publikationen, mal seiner Verwendung einer durchlöcherten Farbdose, die über der Leinwand pendelnd Jackson Pollock beeindruckte und ihre Spur von Europa nach Amerika zog. Es ist eine Inspiration, die die "Leugnung des europäischen Einflusses" auf die amerikanische Nachkriegskunst, von Spies als Teil des "amerikanischen Reinigungsgedankens" identifiziert, hoffnungslos erscheinen lässt. Umgekehrt untersucht Spies auch die Auswirkung des neuen Landes auf den Wahlfranzosen deutscher Herkunft, der sich, so sagte er, mit der Fremde "anzufreunden versucht". Allerdings will Spies Vox Angelica nicht nur als Resultat der Exilerfahrung verstanden wissen, er spinnt zahlreiche Fäden zurück zu den Themen, Bildsprachen und -techniken der Pariser Zeit, insbesondere zu der für Ernst zentralen Idee der Collage.
Verwickelt man sich als Leser auch zuweilen in diesem Dickicht wie in jenem Spinnennetz aus Bindfäden, mit dem Duchamp 1942 die Räume der ersten großen New Yorker Surrealistenausstellung durchzog, so bleibt einem doch immer noch die Freude an zahlreichen Details und dem unendlich erscheinenden Bilderschatz, aus dem sich Spies souverän bedient. Die Bilder wünschte man sich allerdings vollständiger reproduziert.