Für wie erfolgreich kann die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland gelten, angesichts des gegenwärtigen Rechtsrucks? Wie ist das Erstarken der Neuen Rechten in den USA zu erklären? Und wie können wir unsere Demokratien besser gegen völkische und autoritäre Ideologien verteidigen? - Auch über diese Fragen haben wir mit Susan Neiman diskutiert.
Taugt Deutschland als Vorbild für Aufarbeitung und Bewältigung?
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Nach dem Holocaust fand Deutschland zögernd und mühevoll zur Anerkennung seiner historischen Schuld. Die USA könnten davon lernen, so die Philosophin Susan Neiman: Die Geschichte der Sklaverei sei bis heute ein Tabu, das Amerika spaltet.
Haben die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt? Ist unsere Demokratie 75 Jahre nach der Nazizeit gegen völkische und totalitäre Ideologien gefeit?
Nach den rassistisch motivierten Morden in Hanau und dem Attentat auf eine Synagoge in Halle wiegen diese Fragen schwer. Vor diesem Hintergrund fällt es nicht leicht, der optimistischen Sicht zu folgen, die Susan Neiman auf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit hat.
Wie umgehen mit dem Bösen?
"Von den Deutschen lernen", heißt ihr neues Buch. Denn das Beispiel Deutschland zeige - so der Untertitel - wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Neiman, die im Süden der USA geboren wurde und in Yale und Tel Aviv Philosophie lehrte, bevor sie vor 20 Jahren die Leitung des Potsdamer Einstein Forums übernahm, betrachtet die deutsche Erinnerungskultur im internationalen Kontext.
Es liege ihr fern, den Holocaust mit anderen Menschheitsverbrechen zu vergleichen, sagt Neiman. Aus der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland lassen sich ihrer Ansicht nach aber Lehren für andere Länder ziehen. Dabei komme es natürlich darauf an, wer zu diesem Thema welche Perspektive einnehme.
"Die Deutschen sollen immer über die Singularität des Holocausts sprechen, und die Juden über seine Universalität." So laute eine Maxime des 2017 verstorbenen bulgarisch-französischen Philosophen Tzvetan Todorov, die sie sich zu eigen gemacht habe, sagt Neiman. Wenn Deutsche darauf hinwiesen, dass Rechtsterrorismus oder nazistische Verbrechen überall auf der Welt vorkämen, höre sich das immer nach einem "Entlastungsversuch" an. "Ich als Jüdin finde es aber ganz wichtig, auch eine universelle Perspektive einzunehmen", erklärt Susan Neiman.
Geschichte der Sklaverei wird ausgeblendet
Rechtsterrorismus sei ein internationales Phänomen, so Neiman. Auch in den USA nehme er zu, nicht zuletzt, weil die Geschichte von Rassismus und Sklaverei in den Vereinigten Staaten bis heute kaum aufgearbeitet worden sei.
Für ihr Buch führte Susan Neiman zahlreiche Interviews im Süden der USA. Dort sei der Mythos vom "Lost Cause" des amerikanischen Bürgerkriegs weit verbreitet: die Südstaaten hätten nur ihre Heimat verteidigen wollen und seien der Übermacht der "Yankees" erlegen.
"Wir sehen uns als Opfer, wir haben zu Unrecht gelitten", dieser Sichtweise hingen auch 150 Jahre später noch viele Menschen an. Die Geschichte der Sklaverei werde von ihnen völlig ausgeblendet, sagt Neiman. Doch nur, wenn sie endlich aufgearbeitet werde, gebe es Hoffnung auf ein besseres gesellschaftliches Klima. Das könne durch zivilgesellschaftliches Engagement gelingen und durch die Möglichkeit, "die Perspektive der Anderen" wahrzunehmen.
Beide Elemente sieht Neiman in der 2018 errichteten Gedenkstätte für Opfer der Lynchjustiz in Montgomery/Alabama auf geglückte Weise miteinander verbunden. In der Säulenhalle repräsentieren 805 mannshohe an Säulen hängende Stahlquader jeweils einen Landkreis, in dem Lynchmorde stattfanden. Eines der Vorbilder für die Anlage war das Stelenfeld des Holocaustmahnmals in Berlin.
Gerade weil die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland nach 1945 zunächst nur schleppend vorangekommen und gegen viele Widerstände innerhalb der Gesellschaft durchgesetzt worden sei, könne sie heute als ermutigendes Beispiel für Nationen dienen, die bei der Auseinandersetzung mit Verbrechen in der eigenen Geschichte erst am Anfang stünden, sagt Susan Neiman.
Antifaschismus von oben in der DDR
In ihrem Buch würdigt Neiman auch den Antifaschismus in der DDR. Aus westlicher Sicht sei dieser Teil der Aufarbeitung oft vorschnell verdammt worden, - mit dem Argument, er sei "staatlich verordnet" und "politisch instrumentalisiert" gewesen. Beides schmälere aus ihrer Sicht jedoch nicht den Verdienst, dass jedes Schulkind 40 Jahre früher als in Westdeutschland mit den Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontiert worden sei, auch durch Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern.
In der Bundesrepublik sei über die NS-Verbrechen und die Verantwortung der deutschen Demokratie für dieses Erbe in der breiten Öffentlichkeit erst später und vor allem auf den Druck zivilgesellschaftlicher Kräfte hin diskutiert worden, sagt Neiman. Bei aller Kritik an der Geschichtspolitik der DDR, etwa im Hinblick auf die fehlende Aufarbeitung des Stalinismus, unterstreicht sie daher:
"Es ist wichtig anzuerkennen, dass dort etwas passiert ist – auch von oben –, was in der BRD dann später von unten gemacht werden musste, Anfang der 80er Jahre, weil nichts von oben kam."
(fka)
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Kommentar: Wahrheit - für die AfD nicht vorstellbar
Wenn die AfD gegen den europäischen "Aktionsplan gegen Desinformation" protestiert, dann weil sie sich eine Welt, in der es um Wahrheit geht, gar nicht vorstellen kann, so David Lauer. Ganz wie einst Protagoras, der Gegenspieler des Sokrates.