Susanne Röckel: "Kentauren im Stadtpark". Drei Erzählungen
Verlag Jung und Jung, Salzburg, 2019
221 Seiten, 23 Euro
Die Kraft alter Mythen
05:54 Minuten
So tief kann keine Psychotherapie je hinabsteigen: Sabine Röckel taucht in "Kentauren im Stadtpark" in die düsteren Abgründe der menschlichen Seele und trifft mythologische Wesen.
Sie stehen unter dem Bann rätselhafter Helden und Göttergestalten und wissen nicht recht, wie ihnen geschieht. In den drei Erzählungen, die Sabine Röckel in "Kentauren im Stadtpark" versammelt, befinden sich die Protagonisten (zwei Frauen und ein Mann) in Ausnahmesituationen – und werden heimgesucht von düsteren Wesen und alten Mythen.
Im Vorwort schreibt die kluge Autorin: "Sirenen und Kentauren sind nicht untergegangen", ihr selbst seien sie "Wegweiser und Werkzeug auf dem Weg zu jenem Anderen der Realität, genannt Literatur."
Variation von Herkales und seiner Frau
Eine Frau erfährt vom Betrug des Ehemannes, einem Mittsechziger, der einem Herkules gleich enorme Kräfte und einen regen Verschleiß an jungen Frauen hat. Dieses Mal ist der Betrug jedoch schwerwiegender als früher. Sie erinnert sich deswegen an das stinkende Hemd, das ihr vor vielen Jahren in die Hand gedrückt worden war nach einer schrecklichen Vergewaltigung. Es habe Zauberkräfte, hatte man ihr gesagt, könne die ewige Liebe sichern.
Spannend und virtuos verschachtelt erzählt Röckel hier eine Variation von Herakles und seiner Frau, die von einem Kentaur übers Wasser getragen und sexuell bedrängt wird. Übrig bleibt im Mythos wie in dieser Geschichte jenes Hemd des Täters, das sich am Ende ganz und gar nicht als Liebeszaubermittel erweist. Die schwarze Magie ist stärker als der helle Wunsch.
Sehnsucht nach der Kraft alter Mythen
Susanne Röckel beschreibt den Abgrund, der in der modernen Wirklichkeit lauert. Die Sehnsucht nach der Kraft der alten Mythen und der Stärke, die jene Wesen aus der fremden Welt immer noch haben. Sei es der titelgebende Kentaur, das vor Erotik strotzende Mensch-Pferd-Wesen, oder seien es die riesigen Vögel aus der Unterwelt, mit deren Hilfe ein von Schuldgefühlen geplagter Lehrer sich endlich von seiner verstorbenen Frau lossagen kann.
Der brave Mann versteht ebenso wenig, was ihm im italienischen Trauerurlaub geschieht, wie er damals begriffen hatte, warum seine schöne Kommilitonin gerade ihn begehrte. Überhaupt ist es stets die Liebe, die irrational und übermächtig ist.
In der dritten Erzählung verwandelt die Autorin "Daphne und Apoll": Eine selbstsichere Theologin kennt sich plötzlich nicht mehr aus in ihrer Arbeitswelt. Bedroht von der Macht der Erotik, verwandelt sie sich in einen Baum.
Reise in die düsteren Abgründe der Seele
Es sind aber keine Traumbilder oder Hirngespinste, mit denen wir in "Kentauren im Stadtpark" konfrontiert werden. Die Wesen aus der dunklen Welt gehören zwar nicht in unseren von Vernunft geprägten Alltag, aber das besondere Vermögen der Autorin besteht darin, ebenso selbstverständlich wie kunstvoll von der Zwangsläufigkeit und Sinnhaftigkeit der alten Mythen zu erzählen.
Atemlos folgt man ihr in die düsteren Abgründe der Seele, in die keine Psychotherapie je hinabsteigen kann.