Susanne Scharnowski: "Heimat. Geschichte eines Missverständnisses"
Verlag wbg Academic, Darmstadt 2019
272 Seiten, 40 Euro
Es geht auch ohne Gartenzwerg
07:40 Minuten
Was soll eigentlich "Heimat" sein? Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowksi entwirrt das Gespinst um diesen allgegenwärtigen Begriff und meint: Heimat ist kein Gefühl, keine Ideologie, sondern ein Ort, der gemeinsam gestaltet wird.
In Deutschland haben wir seit dem vorigen Jahr ein Ministerium, das unter anderem für Heimat zuständig ist. Heimat ist administrativ nur eine Unterabteilung wie der Sport, politisch aber ist der Begriff plakativ − und instrumentalisierbar. Dabei weiß niemand genau, was die in Medien, Literatur und Kunst derzeit allgegenwärtige "Heimat" eigentlich sein soll: Mal ist sie ein reaktionäres Konstrukt, mal Sehnsuchtsort, dann wieder ein gefährdeter Raum, den es zu verteidigen gilt.
Die Berliner Germanistin und Anglistin Susanne Scharnowksi versucht nun das ideengeschichtliche, künstlerische, soziologische und politische Gespinst um diesen ominösen Begriff zu entwirren. Und das gelingt ihr (angesichts der Vielfältigkeit dieses Themas) erstaunlich gut.
Ihre Untersuchung reicht von der deutschen Romantik bis in die aktuelle Gegenwart hinein − in der Dörfer als funktionierende Gemeinwesen verschwinden, Fremdenfeindlichkeit grassiert und ein hedonistisches Nomadentum mit seinen Bedürfnissen die Großstädte der Welt prägt.
Ikone des Heimatkitsches
Scharnowski beginnt ihre Untersuchung mit der romantischen Dichtung, die Heimat als "Resonanzraum für das herausgehobene Künstler-Individuum" verklärte. Sie verfolgt, wie im 19. Jahrhundert Heimat als feste Größe etabliert wurde: als Gemeinschaft, Landschaft und Tradition gegenüber der rasant fortschreitenden Industrialisierung und Verstädterung. Die paradoxe Genese des Gartenzwergs, dieser Ikone des deutschen Heimatkitsches, fällt in diese Zeit, ein industrielles Massenprodukt für den Kleingarten als Entschädigung für den Verlust von Heimat und Ackerland.
Dem traditionellen Heimat-Verständnis steht die spätere Blut-und Boden-Ideologie der Nazis mit ihrem kämpferischen Anspruch auf "Lebensraum im Osten" und die Nazi-Begeisterung für technische Neuerungen und Massenproduktion diametral entgegen.
Mit diesem Befund stellt sich Scharnowski gegen die gängige linke Kritik – und nimmt auf dieser Grundlage auch die Heimatfilme der Nachkriegszeit mit ihren Bergen, Förstern und Wäldern unter die Lupe. Und siehe da, ganz so einfach geht es darin gar nicht zu: Der Förster ist ein Flüchtling und der Silberwald von industrieller Verwertung bedroht.
Nach und nach entfernt die Autorin ideologischen Ballast: Heimat und Weltoffenheit, schreibt sie, seien ebenso wenig Gegensätze wie Solidarität und Heimat. Vom bürgerlich-elitären Generalverdacht gegen Heimat (und dessen generell als Kitsch diskreditierte Ausdrucksformen) distanziert sie sich nachdrücklich.
Als Linke zurück aufs Land wollten
Auch indem sie beschreibt, wie die linke Heimat-Kritik der 1960er-Jahre, die auf der Basis eines radikalen Modernismus wider alles Reaktionäre zu Felde zog, in den 1970er-Jahren von einer linken "Zurück-aufs-Land-Bewegung" abgelöst wurde, die unter neuen Vorzeichen Gemeinschaftlichkeit, Naturnähe und Ortsbezogenheit suchte und schließlich in die heutigen grünen Ideen von Regionalismus und Umweltschutz mündete.
Scharnowskis Argumentation folgt man gerne – zumal sie bei aller Wissenschaftlichkeit ausnehmend gut zu lesen ist. Heimat also ist, so das Fazit, ein gemeinsam gestalteter Ort, der den Einzelnen und sein Verhältnis zur Welt entscheidend bestimmt. Kein Gefühl, kein Abstraktum. Und schon gar keine Ideologie.