Leben an der Suwalki-Lücke
Die Grenze nach Kaliningrad ist für Menschen im polnischen Goldap ganz nah. Was sollen sie machen, außer in Ruhe ihr Leben weiterzuführen in der aktuellen Situation? © imago/ITAR-TASS/Vitaly Nevar
Sich von der Angst nicht treiben lassen
26:35 Minuten
Mit dem Krieg gegen die Ukraine gilt die zwischen Polen und Litauen liegende Suwalki-Lücke als gefährlichster Ort der Welt. Konflikte an dieser Grenze können leicht den NATO-Bündnisfall auslösen. Die Menschen im polnischen Goldap leben aber schon länger damit.
Bis zu drei Meter hoch schießen die Wasserstrahlen in die Luft – bevor sie ins grünlich schimmernde Gewässer platschen. Der Brunnen liegt in einer gepflegten, von massiven Eichen umrahmten Parkanlage direkt neben dem Marktplatz. Eine leicht gewölbte Brücke führt zwischen den Fontänen über das Wasser. Am Geländer hängt ein Plakat mit dem Aufruf – „Werde Soldat“, eine Aktion der polnischen Armee.
Es sind subtile Signale, die in Goldap andeuten, dass die militärische Lage auch rund um Polen angespannt ist. Die Kleinstadt mit etwa 14.000 Einwohnern liegt in der Region Ermland-Masuren im Nordosten des Landes – fünf Autominuten dahinter befindet sich der Grenzübergang zur Oblast Kaliningrad und somit zum Staatsgebiet der Russischen Föderation.
Atomwaffenfähige Marschflugkörper und Soldaten in fünfstelliger Zahl sollen dort stationiert sein, sagen Militärexperten. Bei zwei Jugendlichen in Goldap löst das konträre Gefühle aus:
„Mein Vater arbeitet fürs Militär. Ein bisschen reden wir über das Thema, auch in der Schule. Klar, etwas Sorgen macht man sich schon. Aber man muss damit irgendwie leben. Es nützt ja nichts.“
„Ich interessiere mich für das alles nicht wirklich. In meiner Familie spricht niemand darüber. Das Thema geht an mir vorbei.“
Galgenhumor hilft
Ein paar Meter weiter plaudern an einer Parkbank drei Senioren. Bei der Frage, ob sie sich vor einem russischen Angriff auf das polnische Grenzgebiet fürchten, diskutieren sie lebhaft untereinander und werden etwas nachdenklich:
„Nun, was kann ich sagen? Momentan wirkt es hier ruhig, wie immer.“
„Im Fernsehen sagen sie, dass Russland uns hier attackieren könnte. Wahrscheinlich sind wir mit am meisten bedroht, weil wir am nächsten dran liegen. Wer weiß schon, wie es weitergeht.“
„Ich war in Goldap mal in der Armee. Jetzt sehe ich, dass unsere Soldaten sehr oft für Übungen rausfahren. Das fällt auf. Ich muss mich wohl nach einem Bunker umschauen, für den Notfall. Aber wo?“
Es ist noch nicht lange her, da waren russische Staatsbürger in Goldap Stammgäste. Derzeit ist die Grenze zu Kaliningrad auch kriegsbedingt geschlossen. Diese beiden etwa 60-jährigen Frauen vor einem Blumengeschäft versetzt die brenzlige Situation trotzdem nicht in Unruhe:
Lernen mit dem Nachbarn zu leben
„Hier sagt niemand: ´Ihr müsst Angst haben, es ist Gefahr im Verzug.` Überhaupt nicht. Wir wissen, was für einen Nachbarn wir haben. Aber wir nehmen das nicht als Bedrohung wahr. Solange kein akuter Anlass besteht, sollte man sich auch nicht den Kopf darüber zerbrechen.“
„Seit mehr als zwei Jahren kommt niemand mehr rüber. Früher sind ganze Herden zu uns zum Einkaufen gekommen. Jetzt nicht mehr.“
Trotz der direkten Nachbarschaft sind Spuren russischen Einflusses in Goldap kaum sichtbar. Zu finden sind sie am ehesten wenige Hundert Meter südlich des Marktplatzes. Inmitten speisender Gäste und klirrender Teller blättert Kamila in einer mit beigem Leder bezogenen Speisekarte. Die Vorderseite ziert, in kunstvoller Schriftart, der Begriff „Matrioszka“, darunter ist eine ebensolche rundliche Schachtelpuppe zu sehen – ein bekanntes russisches Souvenir.
Russische Spezialitäten werden umbenannt
Kamila ist Managerin im gleichnamigen Restaurant. 2011 eröffnet, ist „Matrioszka“ in Goldap eine Institution. An Gästen mangelt es zu keiner Tageszeit, viele Feste finden hier statt. Neben klassischen polnischen Gerichten wie Piroggen, mit Fleisch oder Sauerkraut gefüllten Teigtaschen, werden auch russische Pendants serviert, wie Kamila beim Blättern erzählt:
„Hier haben wir zum Beispiel Soljanka, einen traditionellen Fleisch-Gemüse-Eintopf. Er gilt als typisch russisch, wobei er auch im Baltikum oder der Ukraine sehr beliebt ist. Wir haben auch Pelmeni, also russische Teigtaschen.“
Seit Beginn von Moskaus Invasion in der Ukraine durchlebt das Restaurant eine Art Identitätskrise. Plötzlich klinge es fast verdächtig, russisches Essen anzubieten, erklärt Managerin Kamila. Zumindest in Teilen sehe die Speisekarte deshalb mittlerweile anders aus:
„Auf russische Bezeichnungen und Gerichte verzichten wir schrittweise. Wir servieren noch solche, die länderübergreifend in Osteuropa populär sind. Es ist wirklich kein Ruhmesblatt, eng mit Russland assoziiert zu werden. Zum Beispiel bieten wir deshalb keinen russischen Alkohol mehr an, den wir bisher importiert hatten.“
Der Tourismus in der Region nimmt ab
Auch einen Namenswechsel habe man kurz erwogen, den Gedanken aber verworfen, weil es hierzu keine Klagen von Gästen gegeben habe. Und so grüßen vor dem Eingang zum Restaurant nach wie vor fünf übergroße, rot-grün bemalte und unterschiedlich hohe Matrjoschka-Puppen ankommende Gäste.
Gäste aus Kaliningrad haben für das Restaurant auch früher nur eine geringe Rolle gespielt, erläutert Kamila im Büro. Insofern leide das Geschäft an der Grenzschließung nicht wirklich. Die politischen Spannungen, ergänzt sie, haben aber dennoch einen Effekt:
„Wir sehen weniger Touristen in unserer Region. Vor ein paar Tagen bin ich mit dem Fahrrad durch die Gegend gefahren. Am See konnte man gegen 20 Uhr Spaziergänger an zwei Händen abzählen. Normalerweise wäre es um diese Jahreszeit hier brechend voll. Ein merkwürdiges Gefühl. Vielleicht ist das so ein Zeichen, dass einige Leute vorsichtig sind.“
In der Nähe der Bomben ist es mitunter sicherer
Die Nähe zu russischem Staatsgebiet löst bei Kamila hingegen kein Unwohlsein aus. Auch Diskussionen über die nahe gelegene sogenannte Suwalki-Lücke, die den russischen Verbündeten Belarus mit Kaliningrad verbindet und als militärische Schwachstelle der NATO gilt, lassen sie unbeeindruckt:
„Um ehrlich zu sein – von der Suwalki-Lücke habe ich vor Kurzem erstmals gehört, als ich in Zakopane im Süden Polens war. Wegen des Krieges herrscht hier keine erhöhte Anspannung. Mich selbst besorgt die Nähe zu Kaliningrad nicht. Eher im Gegenteil. Ich denke mir – wenn von dort aus Bomben abgefeuert werden, dann landen sie nicht hier. Sonst würden sie sich auch selbst schaden.“
Wer viel über die Bedeutung Kaliningrads in der jüngeren Geschichte von Goldap weiß, ist Marek Miros, der ehemalige Bürgermeister der Stadt. Der 68-Jährige bittet an den Goldaper See, ein 150 Hektar großes Gewässer, dessen Ufer mit einem Holzsteg befestigt ist. Der See, der zu den großen Attraktionen der Region zählt, strahlt bei Windstille eine stoische Ruhe aus. Miros geht einige Meter über den Steg und zeigt Richtung Norden:
„Da sehen Sie, dass der See eine Linkskurve hat. Die dahinterliegende Grenze zwischen Polen und Russland verläuft entlang eines Längengrads. Ein Teil der russischen Seite liegt also im Westen. Man könnte somit annehmen, dass Russland eigentlich zur westlichen Zivilisation gehört.“
Der kleine Grenzverkehr hat Goldap geholfen
Miros war von 1990 bis 2014 Bürgermeister von Goldap. Als er sein Amt antrat, war in der Kleinstadt jede zweite Person arbeitslos. Das Ende des Kommunismus in Polen samt Auflösung eines großen Staatsbetriebs war für Goldap ein schwerer Schlag. Zusammen mit dem Stadtrat setzte Miros, wie er erzählt, eine große Sanierung durch. Unter anderem wurde die Stadt in einen Luftkurort umgewandelt – was sich angesichts der umliegenden Landschaft anbot. Hinzu kam ab 1995 ein stetig wachsender Grenzverkehr mit der Region Kaliningrad. Dieser half, so Miros, Goldap wieder auf die Beine:
„Bei 40 Prozent Arbeitslosigkeit haben die Menschen kein Geld für Milch oder Strümpfe für ihre Kinder. Der Grenzverkehr hatte somit lange Zeit eine soziale Funktion. Die Einwohner von Goldap sind für Benzin und Zigaretten nach Russland gefahren, Kaliningrader haben hier Nahrungsmittel und Möbel gekauft. Dadurch sind hier neue Firmen entstanden. Diese Idee war also ein Volltreffer.“
Polnisch-russische Freundschaften liegen auf Eis
Wirtschaftsvertreter in der Region sagen, dass polnische Firmen unter der Grenzschließung litten. Marek Miros glaubt aber nicht, dass dies zu einer Pleitewelle führt, weil die meisten Firmen nicht einseitig von russischen Kunden abhängig seien. Miros verurteilt den Krieg Russlands in der Ukraine aufs Schärfste. Leider, so der Kommunalpolitiker, greife imperialer Wahn wieder um sich. Ihn schmerzt aber auch, dass polnisch-russische Freundschaften auf Eis liegen. Miros sieht dabei die Schuld bei der politischen Führung im Kreml:
„Wir haben wunderbare zwischenmenschliche Beziehungen aufgebaut. Das bestätigt die These, dass solange kein teuflischer Despot einfachen Menschen den Kopf verdreht, tiefe Freundschaften zwischen zwei Ländern entstehen können. Ich habe viele Bekannte in Kaliningrad. Derzeit beschränkt sich der Kontakt auf knappe Glückwünsche zu Geburtstagen. Anders ist das angesichts der Invasion nicht denkbar. Ich hoffe, dass sich das irgendwann wieder ändert.“
Der Gedanke, dass Russland auch Polen wie schon im Zweiten Weltkrieg attackieren könnte – und somit aus Nachbarn Invasoren würden – treibt Miros hin und wieder um. Von Angst, betont er, lasse er sich dennoch nicht treiben. Unter anderem setzt er auf die polnische Armee, die in Goldap und der umliegenden Region Stützpunkte hat – und auf Unterstützung von außen:
Der Feind sitzt im Kreml, nicht in Kaliningrad
Marek Miros: „Kaliningrad stellt für mich keine Gefahr dar, Moskau aber sehr wohl. Dort werden die zentralen Entscheidungen getroffen. Die Suwalki-Lücke gilt schon lange zu Recht als gefährliche Stelle. Manchmal fragt man sich schon, ob die NATO uns hier rechtzeitig zu Hilfe kommen würde. Deshalb verlässt aber niemand Goldap. Ich selbst lebe hier und werde hier leben – und hoffe, dass sich die politische Lage irgendwann wieder stabilisiert. Eine Garantie dafür, das wissen wir aus unserer eigenen Geschichte, gibt es gleichwohl nicht.“
Im Ortsinneren von Goldap, rund um die Parkfontäne am Marktplatz, sind die zwei Frauen vor dem Blumengeschäft nach wie vor in ihr Gespräch vertieft. Kaum etwas scheint sie aus der Ruhe zu bringen. Auch die politische Lage nicht. Sie vertrauen auf Hilfe von Bündnispartnern – sollte sie mal nötig sein:
„Wir leben in Ruhe weiter. Auch wenn im Hinterkopf vielleicht etwas herumschwirrt.“
„Es ist gut, dass wir in der NATO sind. Mir gefallen auch die Aussagen von US-Präsident Biden. Er gibt Polen das Gefühl, auf Augenhöhe zu sein.“
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Die drei Senioren bei der Parkbank setzen indes vorsichtig darauf, dass auch die westlichen Sanktionen gegen Russland langfristig Effekte erzielen:
„Vielleicht beruhigt sich Putin irgendwann.“
„Wenn in Russland die Armut grassiert, dann bröckelt es um ihn herum.“
Und so überwiegt die Hoffnung, dass Russlands Krieg in der Ukraine an Goldap vorbeizieht. Und das Leben hier beschaulich bleibt.