Da wurde differenziert, da wurde auch geguckt, wer wann welches Spiel hatte, damit die Spieler oben dann nicht völlig kaputt waren. Die wurden dann in Schichten eingeteilt, damit die danach Training haben konnten. Also, ich weiß, dass Spieler also auch nicht mehr unter Tage tätig waren, sondern dann eben oben andere Tätigkeiten ausgeübt haben, damit sie sofort auf den Sportplatz gehen konnten. Der Sportplatz war ja direkt quasi gegenüber vom Zechentor.
Verblassender Glanz von Kohlenstaub
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Welcher Fan kennt den SV Sodingen? Der Fußballverein aus Herne spielt heute in der 6. Liga. 1955 aber stand der Klub in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft. Viele Spieler arbeiteten im Bergbau – und Kumpel feuerten sie an.
Tauchen wir ab in die Tiefe der Zeit. So wie man früher in den Bergwerken des Ruhrgebiets in den Förderkorb stieg und in den Schacht einfuhr: Wirtschaftswunder-Westdeutschland, Mitte der 1950er-Jahre.
Der Fußball war Lichtjahre von dem entfernt, wie wir ihn heute kennen: Nicht vermarktet und auch nicht familienfreundlich konfiguriert. Frauen in den Stadien waren ähnlich selten wie Fernsehbilder von den Spielen, Fernseher im Haushalt ebenso.
Die Oberliga als höchste Spielklasse
Die Bundesliga bestand noch nicht einmal in der Theorie. Die Oberliga war die höchste Spielklasse und in vier regionale Gruppen unterteilt. Hierdurch ergaben sich viele Derbys, auch und gerade im Ruhrgebiet, das mit den Fördertürmen der Zechen, mit dem Qualm aus den Hüttenwerken und Kokereien ein Bild bot, das wir aus den Geschichtsbüchern kennen.
Peter Konopczinski erinnert sich an seine Kindheit in Herne-Sodingen, die bei weitem weniger hart und grau war, als die Fotos von damals suggerieren: „Wir wohnten im Viererhaus, in einer Wohnung mit meinen Großeltern mütterlicherseits, mit meinen Eltern, meine Schwester und ich. Die Straße war autofrei mehr oder weniger, man konnte Fußball spielen.“
Kicken erlernte man auf der Straße, auch im Bergarbeiterort Sodingen. Beliebt bei den anderen Kindern war, wer einen Ball besaß. In den Familien bestimmte die Arbeit der Väter den Rhythmus des Lebens. Während der aus dem Nachbarort Börnig stammende Kurt Edelhagen mit seinem Orchester für Unterhaltung in den Tanzlokalen sorgte, begeisterte im Glück-Auf-Stadion der SV Sodingen seine Anhängerschaft: Wer es mit der Arbeit einrichten konnte, war im Stadion.
Schichtpläne für den sportlichen Erfolg
Der SV Sodingen war das Gesprächsthema schlechthin im Ort, denn Arbeit, Wohnen und Fußball verschmolzen miteinander, erklärt der Vereinshistoriker und frühere Vorstand Wolfgang Bruch: „Die Spieler, die hier auf der Zeche tätig waren, die wurden angesprochen. Wie habt Ihr am Sonntag gespielt? Oder: Wer läuft auf? Das war Tagesthema auf der Zeche. Mir hat der Hännes Adamik mal gesagt: Ich brauchte nur da zu sein, dann wurde sofort gefragt: Wer spielt Sonntag, welche Position? Und was weißt Du schon, wie der Gegner ist?"
Die Zeche Mont Cenis dominierte Sodingen in jeder Hinsicht. Mit den Förderanlagen und der Kokerei optisch, als Arbeitgeber ohnehin. Sie finanzierte auch den Verein. „Die Zeche hat den Umbau des Platzes bezahlt in einen größeren Platz. Die Zeche hat den Holzplatz, wo jetzt gespielt wird, zur Verfügung gestellt. Und sie hat auch den Verein finanziert, also Spielergehälter und andere Kosten sind über die Zeche bezahlt worden.“
Die Zeche trug aber nicht allein finanziell zu diesem Erfolg bei.
Im Schatten der alles überragenden Fördertürme feuerte man am Wochenende seine Kollegen an, wenn die es mit immer größeren Gegnern aufnahmen. Innerhalb von fünf Jahren war die Mannschaft von der Bezirksliga bis in die Oberliga West aufgestiegen.
Die Spieler waren im ganzen Ort bekannt. Peter Konopczinski, der seinen Vater Leo nicht mehr aktiv hat spielen sehen, machte die Erfahrung noch lange nach dessen Spielerlaufbahn. Jeder grüßte ihn.
Kumpel konnten sich aufeinander verlassen
Die Konopczinskis wohnten 500 Meter von der Zeche entfernt und 300 Meter vom Sportplatz, bei anderen Spielern war es ähnlich. Und so sah man sie auf dem Weg vom oder zum Training, auf dem Weg zur Schicht. Dies war ganz wichtig für den Erfolg dieser Mannschaft, betont Hans-Jürgen Adamik, der Sohn des früheren Stürmers Johann "Hännes" Adamik.
Kumpel zu sein, das hieß, unter Tage sich auf den anderen verlassen zu können. Mitunter hing die eigene Unversehrtheit davon ab. Über Tage hieß es, Nachbarn zu sein, die dieselben Erfahrungen teilten. Die wussten, was der andere fühlt, wenn auf der Zeche etwas schieflief, weil sie es selbst fühlten.
Auf dem Fußballplatz hieß es ebenso, sich auf die anderen blindlings verlassen zu können. Sepp Herberger sah in den Sodingern die einzige deutsche Mannschaft, die englisch spiele.
Es waren Männer, von denen die meisten in Krieg und Gefangenschaft gewesen waren und die es nun als Glück empfanden, ihrem Hobby nachgehen zu können und dafür auch noch 320 D-Mark zu verdienen.
40 Jahre nach seiner Gründung stieg der SV Sodingen 1952 in die Oberliga West auf. „Komet des Westens“, so titelte die Presse. 1955 schloss die Mannschaft die Saison als Zweiter ab und stand nach einem gewonnenen Qualifikationsspiel gegen Reutlingen in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft.
Lange Empörung über das 0:1 beim HSV
Viktoria Berlin, der Hamburger SV und der 1.FC Kaiserslautern waren die Gegner in einer Vierergruppe. Spiele, die in Erinnerung blieben und bei denen die Erinnerung weitervererbt wurde. Etwa an das Heimspiel gegen Kaiserslautern mit den Weltmeistern Fritz Walter, Werner Liebrich, Werner Kohlmeyer und Horst Eckel. Es wurde in der Schalker Glückauf-Kampfbahn ausgetragen, 14 Kilometer von Sodingen entfernt. Viele nahmen den Weg zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf sich.
Das Spiel zwischen Bergarbeitern und Weltmeistern endete 2:2, ebenso wie das Rückspiel. Komplimente wurden ausgetauscht, Hännes Adamik und Fritz Walter blieben danach noch über Jahre in Kontakt.
Mit dem Spiel beim HSV mit dem jungen Uwe Seeler kam der SV Sodingen in die Tagesschau. Die Empörung über das 0:1 hat die Jahrzehnte überdauert. Auch bei Peter Konopczinksi hinterließ die Niederlage nachhaltige Wirkung – obwohl er erst ein Jahr alt war, als sein Vater in Hamburg schwer verletzt wurde.
"Ich habe mir eigentlich wirklich diese negativen Sachen mehr gemerkt. Alle sprechen darüber, dass Sodingen das nicht geschafft hat. Und ich habe mehr darüber gesprochen, woran es lag. Und es lag eben in Hamburg. Deswegen kann ich bis heute Hamburg nicht leiden. Ich habe mir einen genommen, als Hamburg abgestiegen ist. Ich kam mir so vor, als ob ich das selber miterlebt hätte."
Mit dieser einen Niederlage aus sechs Spielen wurde Sodingen Dritter in der Gruppe, im Finale wurde später Rot-Weiss Essen gegen Kaiserslautern Deutscher Meister.
Doch auch ohne Titel hatte Sodingen seine Bekanntheit gesteigert, erhielt Einladungen zu Freundschaftsspielen, spielte als erste westdeutsche Mannschaft nach dem Krieg in der DDR – in Magdeburg, Babelsberg und Eberswalde.
Sodingen zu Gast beim FC Everton
Weitere Reisen gingen unter anderem nach Tunis oder ins niederländische Enschede und Eindhoven. Sheffield United kam ins Glück-Auf-Stadion und fast zehn Jahre nach Kriegsende gastierte der SV Sodingen in einem Freundschaftsspiel im Goodison Park und spielte torlos gegen den FC Everton. Die Menükarte vom Bankett nach dem Spiel mit den Unterschriften der Gegner findet sich in manch einem Nachlass.
Doch es ist Kometen eigen, dass sie verglühen. Der „Komet des Westens“, der SV Sodingen, bildete da keine Ausnahme. Die Mannschaft hatte ihren Zenit überschritten, kämpfte gegen den Abstieg. Neue Spieler kamen, wie Hans Cieslarczyk aus Herne-Holthausen.
„Was natürlich erstaunlich war, dass die älteren Kollegen die jüngeren nicht unbedingt sofort mit offenen Armen aufgenommen haben. Er hat mir mal eine Geschichte erzählt, wie es dann in der Kabine zugegangen ist, als also ein älterer Spieler rein kam und mein Vater aus Versehen an dessen Haken seine Trikots gehängt hatte", erinnert sich Cieslarczyks Tochter Claudia. "Als er dann zurückkam – er hat zwischendurch irgendwas anderes gemacht – hatte man also seine ganzen Sachen unter die Dusche geschmissen. Das war dann sozusagen die Lehrstunde, dass es auch im Fußball in der Kabine eine Rangordnung gab.“
Von Sodingen zur WM nach Schweden
Auch Cieslarczyk arbeitete auf der Zeche Mont Cenis, hatte aber stets das Ziel vor Augen, dass Fußball mehr als nur ein Hobby sein sollte, welches ihm 80 D-Mark im Monat und 25 weitere pro Punkt einbrachte.
In einer im Abwind befindlichen Sodinger Mannschaft nutzte Hans Cieslarczyk die Gelegenheit, sich in den Vordergrund zu spielen und wurde Nationalspieler. Sepp Herberger nahm ihn mit zur Weltmeisterschaft nach Schweden 1958. Im Spiel um Platz 3 beim 3:6 gegen Frankreich erzielte er einen Treffer.
Nach der WM ging Cieslarczyk nach Dortmund und war später in den ersten Jahren der Bundesliga beim Karlsruher SC am Ball. Der SV Sodingen war da, zu Beginn der 60er-Jahre, das zweite Mal aus der Oberliga abgestiegen.
Selbst der große Fußball der damaligen Zeit war für den Verein eigentlich eine Nummer zu groß, ordnet Vereinshistoriker Wolfgang Bruch ein: „Da hat man nicht groß genug gedacht, zumal ein Vorstand damals tätig war, der mit solchen Dingen überfordert war. Ich glaube, das war ein Arzt, ein Apotheker, das waren alles Leute, die mit Sicherheit überfordert waren mit dem Management von Fußball. Die sind einfach hier sonntags auf den Platz gegangen und haben sich auf die Schultern klopfen lassen. Ich glaube nicht, dass die das so durchschaut haben.“
Der Tiefpunkt des Vereins
Der Absturz des Vereins verlief nahezu synchron zur Bergbaukrise und dem Zechensterben. Mont Cenis wurde 1967 und 1973 mit benachbarten Zechen zusammen – und 1978 stillgelegt. Der SV Sodingen erreichte seinen Tiefpunkt 1973, der Absturz in die Kreisliga drohte. Die großen Spieler von einst sahen dies von der Tribüne mit an, Leo Konopczinskis Sohn Peter stand auf dem Platz.
Heute spielt der SV Sodingen in der sechstklassigen Westfalenliga. Dort, wo fast jeder Verein im Ruhrgebiet unter schwierigen Bedingungen spielt, nicht zuletzt, weil um jeden Sponsor gerungen werden muss im Schatten des Profifußballs.
Wenn die übermächtigen Nachbarn aus Dortmund oder Schalke spielen, mutet das Stadion heute wie ein Geheimtipp an. Von der Tradition des Vereins sind selbst die eigenen Spieler überrascht, gesteht Rolf Rullmann, der aktuelle Vorsitzende: „Viele wissen gar nicht, in was für Vereinen sie spielen. Die kommen zu einem Westfalenligisten SV Sodingen. Denen müssen wir erstmal vermitteln, was wir überhaupt für ein Verein sind.“
Das Moderieren zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellt eine große Herausforderung dar.
Auf der Zeche und 775 Spiele für Sodingen
Die Besinnung auf die Tradition wollen sie aufrechterhalten beim SV Sodingen. Im Vereinsheim hängen große Schwarz-Weiß-Fotos und die Wimpel der drei Gegner aus der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft 1955.
Im Wissen darum, dass diese großen Zeiten nie mehr kommen werden, sehen die heute Verantwortlichen eine ihrer Aufgaben auch darin, dass sie die Namen der Vergangenheit lebendig halten. Sieben Nationalspieler hat der SV Sodingen hervorgebracht, darunter Gerhard Harpers oder Günther Sawitzki – und mit Hans Cieslarczyk sogar einen WM-Torschützen.
Viele aus der Mannschaft, die 1955 ganz groß aufspielte, blieben dem Verein verbunden. Etwa Leo Konopczinski, der Linksverteidiger, der mit 41 Jahren sein letztes Spiel bestritt.
Mit eigenhändig dokumentierten 775 Spielen für den SV Sodingen steht Hännes Adamik sinnbildlich für den Verein. Er arbeitete auf der Zeche Mont Cenis, war schon mit 16 Jahren Spieler der ersten Mannschaft, später Trainer und dreißig Jahre lang Jugendtrainer. Er verstarb 2005 im Alter von 79 Jahren.
Die Straße zum Glück-Auf-Stadion des SV Sodingen trägt heute seinen Namen.
Dieses Feature wurde am 29. Mai 2022 erstmals ausgestrahlt.