Svenja Flaßpöhler: "Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld".
DVA, München 2016, 224 Seiten, 17,99 Euro
Der mächtige Akt des Vergebens
Wie umgehen mit Schuld, wie verzeihen? Diese Fragen stellt sich die Philosophin Svenja Flaßpöhler seit ihrer Jugend. Für ihr Buch hat sie viele schmerzhafte Gespräche mit Menschen geführt, die nach schweren Vergehen um Vergebung ringen. Antworten sucht Flaßpöhler bei berühmten Philosophen.
Heißt verzeihen verstehen? Heißt verzeihen lieben? Heißt verzeihen vergessen? Unter diese drei Leitfragen stellt Svenja Flaßpöhler ihre philosophische Spurensuche im Reich der Schuld und der Rache, der eiskalten Amokläufe und monströsen Abgründe des Bösen, der Beichten, Wahrheitskommissionen, Amnestien - und der Sehnsucht, nach erlittenem Unrecht nicht länger zum Opfer zu werden. Verzeihen als Akt der Selbsterlösung.
An den Anfang ihres Buches stellt die Autorin ihre persönliche Erfahrung, zu der sie im Laufe des Textes immer wieder zurückkehren wird: Svenja Flaßpöhler war vierzehn Jahre alt, ihre jüngere Schwester acht, als die Mutter einen neuen Mann kennenlernte und die Familie verließ. Anfängliche Besuche endeten im Streit und verebbten. Zurück bleiben zwei verwundete Kinder, die von nun an einen wesentlichen Teil ihres Lebens damit verbringen würden zu verwinden, zu heilen und wieder zu bluten. Was heißt verzeihen?
Verzeihen immer wieder neu lernen
Svenja Flaßpöhler zieht Hannah Arendt zu Rate, die eine Pflicht des Vergebens für das Böse nicht gelten lassen wollte. Sie wird fündig bei Jacques Derrida, für den nur das Unverzeihbare nach Verzeihen ruft, denn was sonst sollte verziehen werden. Sie untersucht die Tauschverhältnisse, die dem Verzeihen innewohnen, Amnestie gegen Schuldeingeständnis und Reue, die Selbstbefriedigung der Generosität. Vorsichtig greift Svenja Flaßpöhler nach den verschiedenen Perspektiven und immer, wenn ihr philosophisches Abwägen auf eine Entscheidung hinauslaufen könnte oder müsste, wendet sie sich abrupt von der Theorie ab dem konkreten Leben zu. Schmerzhafte Gespräche mit der Schwester. Mutmaßungen über die Motive der Mutter. Überlegungen zu dem Recht einer Frau, wie zahllose Männer auf der Suche nach neuen Lebensentwürfen trauernde Kinder zurückzulassen.
Die Autorin spricht mit einer Frau, deren Tochter im Kugelhagel des Amokläufers von Winnenden verblutete, und die heute versucht, die innere Not des jugendlichen Täters nachzuvollziehen. Sie besucht einen Mörder, dem alle verzeihen können - nur er selbst kann es nicht. Sie trifft ehemalige KZ-Häftlinge, die sich ihr Überleben auf sehr unterschiedliche Weise erkämpften. Eine Frau umarmt Nazi-Verbrecher. Ein Ehepaar blickt auf ein Leben voller Disziplin und Bescheidenheit zurück, Dienst an der Gemeinschaft, nächtliche Alpträume, kein Vergessen und Vergeben.
Gegen Ende des Buches schält sich heraus, warum die Autorin eher Jacques Derrida zuneigt als Hannah Arendt: Das Unverzeihliche verzeihen, ist ein mächtiger Akt - vielleicht mächtig genug, es mit der archaischen Wucht des Schmerzes aufzunehmen. Doch Svenja Flaßpöhler bleibt auch realistisch, weil das genaue Beobachten der Abgründe außen und innen zu dieser Arbeit gehört: Mit einem Freispruch, einem Verzicht auf Vergeltung ist es ja nicht getan, erklärt sie. Schließlich gilt die Vergebung nur so lange, wie sie auch aufrecht erhalten wird. Verzeihen vollzieht sich in der Zeit. Immer wieder neu lernen zu müssen, wie man vergibt - das ist die Bürde, die dem aufgelastet wird, der den Schmerz erleiden musste.