Selbstbewusst, liebevoll, traurig
Bei ihrem Besuch in Berlin gibt sich Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch selbstbewusst: Die Auszeichnung bedeute für sie ein Stück Verantwortung. Ihre Trauer über die seelische Zerstörung der Menschen in ihrer Heimat kann die Weißrussin aber nicht verbergen.
Dier diesjährige Literaturnobelpreisträgerin ist eine kleine, zurückhaltende Person. Freundlich lächelnd sitzt sie auf dem Podium, scheinbar unbeeindruckt von fast hundert Journalisten, die gekommen sind, um Swetlana Alexijewitsch zu sehen und zu hören. Die Blitzlichter, die jedes Mal aufflackern, wenn sie eine Hand bewegt, die Mimik verändert, nimmt sie gelassen. Vielleicht, weil es nicht ihre erste große Ehrung ist.
Ihre Werke wurden in 30 Sprachen übersetzt, 1998 wurde sie mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet, vor zwei Jahren erhielt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Heute ist sie gekommen, um über ihre Heimat, Weißrussland, zu sprechen, in der morgen ein Präsident gewählt wird, dessen Name jetzt schon feststeht: Alexander Lukaschenko. Es bestehe kein Zweifel, dass die Mehrheit des Volkes ihn wiederwählen werde, sagte sie.
"Wir alle haben aber den Verdacht, dass es für Lukaschenko auch gar keine Rolle spielt, wie wir abstimmen werden. Wie Stalin schon gesagt hat: Unwichtig ist, wer abstimmt und wie abgestimmt wird. Wichtig ist, wer auszählt. Ich glaube wir haben da keine Überraschungen zu erwarten."
Für die Freiheit brauche es freie Menschen
Freiheit, sagt Alexijewitsch immer wieder, sei eine Illusion. Nach der Perestroika in den 90er-Jahren wären die Intellektuellen aus ihren Küchen gekommen, man habe gehofft, morgen, buchstäblich würde die Freiheit anbrechen. Mittlerweile wisse man, sagte sie heute, dass man Freiheit nicht einfach einführen könne wie Schweizer Schokolade. Für die Freiheit brauche es freie Menschen, und die gebe es in Weißrussland noch nicht.
"Die Liberalen haben keine Romantik mehr, die haben alle romantischen Vorstellungen verloren. Wir hatten unsere eigenen Vorstellungen. Alle fragen sich: Warum schweigt denn das Volk? Tja, nun spricht es. Und als das Volk seine Stimme erhob, war es ganz schon beängstigend. Das ist natürlich traurig, aber, ja, wir leben alle mit dem Gefühl der Niederlage."
Swetlana Alexijewitsch hat sich in ihrem Werk auf die Suche dem Homo Sovieticus gemacht, dem postsowjetischen Menschen, der, wie sie sagt, in allen Völkern weiterlebt, die früher zur Sowjetunion gehörten. Die Menschen seien 70 Jahre lang betrogen und danach 25 Jahre lang bestohlen worden. Viele suchten Halt im Konsum und in der neuen Stärke Russlands.
"Als ich an dem Buch 'Secondhand-Zeit' gearbeitet habe, habe ich gedacht, dass Stalin noch so verwurzelt ist, dass es noch so präsent ist bei uns! Aber er ist lebendiger als alle Lebenden. Er ist wirklich noch lebendig, er ist eine Art Orientierung."
Für viele bedeute dieser Preis Hoffnung
Alexijewitsch hat ihr Leben lang Stimmen gesammelt – und damit jene zu Wort kommen lassen, die sonst nie gehört werden. Nicht die Masse zählt für sie, sondern der einzelne Mensch. Jeder von uns trägt ein Stück Geschichte in sich, die einen ein großes, die anderen ein kleines, sagte sie heute. Jenseits der offiziellen Version der Geschichte spinnt sich aus der Vielzahl der subjektiven Erlebnisse eine Art russisch-sowjetischer Chronik.
In ihrer Heimat Weißrussland waren die Bücher bis vor kurzem verboten. Der Nobelpreis bedeute für sie auch ein Stück Verantwortung. Manchmal fühle sie sich müde und erschöpft. Aber für viele Menschen in ihrer Heimat bedeute dieser Preis Hoffnung. In der Regierung dagegen halte sich die Freude in Grenzen. Doch damit befinde sie sich in guter Gesellschaft.
"Alle fünf Nobelpreisträger, bis auf Scholochow, alle russischen bislang, alle wurden verleumdet, wurden in ihrer Heimat beschimpft, so viel man konnte. Solschenizyn wurde ins Ausland verbannt, auch Brodsky wurde vertrieben. Pasternak wurde gezwungen, darauf zu verzichten, er durfte den Nobelpreis nicht annehmen. Das ist eine Tradition in der russischen Natur."
Aber ist das Bündeln von Stimmen nun Literatur oder doch eher Journalismus, wie ihre einige Kritiker wie Iris Radisch, Feuilleton-Chefin der "Zeit", vorwerfen? Sie sammle Material wie ein Journalist, aber arbeite damit literarisch sagt Alexijewitsch dazu. Dazu habe es schon vor ihr Ansätze in der russischen Literatur gegeben.
Die Zeugnisse der Menschen bewahren
Dann erzählt sie von ihrer Kindheit auf dem Dorf, als sie den Frauen lauschte, die über den Krieg erzählten. Das hätte ganz anders geklungen, viel schrecklicher, stärker und interessanter, als die offizielle Version des heroischen vaterländischen Sieges. In ihrer Heimat, sagt sie, sei der mündliche Verstand viel stärker ausgeprägt als der schriftliche. Und: "Von Schmerz zu erzählen, ist bei uns Kunst".
So oder so: Im Zeitalter der großen medialen Vereinfachung in Russland und Belarus, des staatlich verordneten Gut und Böse, ist es ein Akt des Trotzes und des Widerstands, auf der Vielstimmigkeit und der Komplexität der Wirklichkeit zu bestehen. Aber auch einer tiefen Humanität. Alexijewitsch will die Zeugnisse der Menschen bewahren, bevor sie im Nichts verschwinden. Die Dinge veränderten sich so schnell, dass ein einzelner Verstand gar nicht in der Lage sei, das alles aufzunehmen. Selbst die Kultur, sagt sie, hat nicht Zeit genug, um alles zu durchdenken.
"Selbst die Kultur hat nicht genug Zeit, um das alles zu durchdenken."
Was bleibt von der Begegnung? Der Eindruck von einer beeindruckenden Frau, die geprägt ist von einer großen Hinwendung und Liebe zu den Menschen – und die gleichzeitig eine tiefe Trauer ausstrahlt über die politische und seelische Zerstörung der Menschen, von denen sie umgeben ist.