Swetlana Alexijewitschs Nobel-Vorlesung

"Unser größtes Kapital ist das Leiden"

Die weißrussische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch steht hinter einem Redepult und liest aus einem Manuskript.
Die weißrussische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch bei ihrer Nobel-Vorlesung an der Schwedischen Akademie in Stockholm am 07.12.2015 © picture alliance / dpa / Fredrik Sandberg / TT
Von Sabine Adler |
Nicht Öl, nicht Gas - das Leiden sei "das einzige, was wir stetig fördern", sagte die weißrussische diesjährige Nobelpreis-Trägerin Swetlana Alexijewitsch in ihrer Vorlesung vor der Preis-Verleihung. Mit "wir" meint die 67-Jährige die Menschen der ehemaligen Sowjetunion, um die sich ihre Bücher drehen.
Große Bücher liegen auf der Straße, sagte Swetlana Alexijewitsch. Wer die Werke der Weißrussin liest, vermeint die Autorin zu hören. In einer klaren, direkten, nachdenklichen Sprache beschrieb sie in der Nobelvorlesung nicht nur ihre Arbeitsweise, sondern ihr immerwährendes Thema, das in fünf Bücher geflossen sei, die ihr wie ein einziges erscheinen.
"Ich bin ein Mensch des Ohres. Wenn ich die Straße entlang gehe und Worte, Sätze, Ausrufe aufschnappe, denke ich immer: Wie viele Romane doch spurlos in der Zeit untergehen. Im Dunkel. Einen Teil des menschlichen Lebens, den mündlichen, konnten wir nicht für die Literatur erobern. Wir haben ihn bisher nicht geschätzt, nicht bestaunt, nicht bewundert. Mich aber hat er in seinen Bann geschlagen und gefangengenommen. Ich liebe es, wie Menschen sprechen. Ich liebe die einzelne menschliche Stimme. Das ist meine größte Liebe und Leidenschaft."

Der allgegenwärtige "Homo sovieticus"

Die Weißrussin, deren Bücher die meisten ihrer Landsleute wohl erst jetzt zur handnehmen, lässt die unbedingte Opferbereitschaft der Menschen der ehemaligen Sowjetunion nicht los, die selbst vor dem eigenen Tod nicht haltmacht.
"Wir wurden dazu erzogen, den Mann mit dem Gewehr zu lieben. Wäre ich in einem anderen Land aufgewachsen, hätte ich diesen Weg nicht gehen können. Das Böse ist schonungslos, man muss dagegen geimpft sein. Doch wir sind unter Tätern und Opfern aufgewachsen. Unser größtes Kapital ist das Leiden. Nicht Öl und nicht Gas, nein, das Leiden. Das ist das Einzige, das wir stetig fördern. Ich suche ständig nach einer Antwort auf die Frage: Warum lässt sich unser Leiden nicht in Freiheit konvertieren? Ist es etwa ganz umsonst?"
Die Schriftstellerin schreibt auf Russisch, was man ihr zu Hause übel nimmt. Die aus der Sowjetunion hervorgegangenen Nationalstaaten - zum Beispiel Russland, Weißrussland und die Ukraine - betrachtet sie noch immer vorwiegend als einen gemeinsamen Raum, denn der "rote Mensch", der Homo sovieticus ist allgegenwärtig.
"Der Untergang des Imperiums beschäftigte alle: Woran glauben? Unter welche Fahne sich nun scharen? Oder sollten sie lernen, ohne große Idee zu leben? Der 'rote' Mensch stand vor Hunderten Fragen, und er stellte sie sich ganz allein. Noch nie war er so allein. Früher zerfiel die Welt noch in jene, die saßen, und jene, die einsperrten."

Bedrückendes Fazit

Heute zerfällt sie in Slawophile und Westler, in National-Verräter und Patrioten. Und in die, die sich etwas kaufen können, und die, die sich nichts kaufen können. Letzteres, würde ich sagen, ist die grausamste Prüfung nach dem Sozialismus, denn noch vor kurzem waren alle gleich. Der "rote" Mensch hat es nicht geschafft, in das Reich der Freiheit, von dem er in der Küche geträumt hatte. Russland wurde ohne ihn aufgeteilt, er stand vor dem Nichts. Gedemütigt und ausgeplündert. Aggressiv und gefährlich."
Swetlana Alexijewitsch ist durch das Land gereist, hat Tonbandaufnahmen gemacht, die Geschichte des "privaten", des "inneren" Sozialismus gesammelt. Ihre Kritiker sagen, sie habe gar keine Literatur hervorgebracht. Die Nobelreisträgerin konterte in Stockholm nur indirekt.
"Mich interessiert die Geschichte der Seele. Das Leben der Seele. Das, was die große Geschichtsschreibung gewöhnlich auslässt, was sie hochmütig übersieht. Ich beschäftige mich mit der ausgelassenen Geschichte. Oft genug habe ich gehört und höre noch heute, das sei keine Literatur, sondern Dokumentation. Doch was ist heute Literatur? Wer hat eine Antwort auf diese Frage? Unser Leben ist heute schneller als früher. Der Inhalt sprengt die Form."
Rund 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist ihr Fazit bedrückend.
"Ich bin so kühn zu sagen, dass wir die Chance verpasst haben, die wir in den 90er-Jahren hatten. Es herrscht wieder eine Zeit der Stärke. Russen kämpfen gegen Ukrainer. Gegen Brüder. Russische Flugzeuge bombardieren Syrien. Auf die Zeit der Hoffnung folgte eine Zeit der Angst. Die Zeit dreht sich zurück. Eine Secondhand-Zeit."
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