Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben
Hanser Verlag, München 2016
160 Seiten,16 Euro
Rasant geschriebener Nachkriegsroman
Die französisch-deutsche Autorin Sylvie Schenk erzählt in ihrem Roman "Schnell, dein Leben" eine Befreiungsgeschichte aus der Nachkriegszeit - mit großer Klarheit und einer heftigen Wucht.
Sylvie Schenk scheint in Eile gewesen zu sein, als sie schrieb und als sie sich dabei, das wird bei der Lektüre zunehmend klarer, literarisch mit der eigenen Lebensgeschichte befasste: "Schnell, dein Leben" heißt ihr Roman. Und doch ist dieser Titel nur ein Kunstgriff, ein vielsagender, der die Erzählstruktur von Anfang an kennzeichnet.
Knapp 160 Seiten hat "Schnell, dein Leben" und ist unterteilt in recht kurze Kapitel, die gerade zu Beginn oft nur ein, zwei oder drei Seiten umfassen und überschrieben sind mit "Mädchen", "Die Moral", "Das Lesen", "Henri", "Johann" oder "Die Welt".
Es geht wirklich flott durch dieses Leben, aber mit einer großen Klarheit und Intensität. Schenk erzählt von dem Erwachsenwerden ihrer Heldin Louise in einem kleinen Dorf in den französischen Alpen in den Fünfzigerjahren, von den engen Verhältnissen dort, von den Familien, in die sie hineingeboren wird: von der des Vaters, die eine angesehene, bürgerliche, vor allem in Lyon beheimatet ist. Und von der der Mutter, die ein Geheimnis umweht, denn Louises Mutter ist ein Adoptivkind.
Henris Eltern sind von den Deutschen umgebracht worden
Ja, und schon studiert sie in Lyon, trifft in der Jazzkneipe "Les Deux Pianos" eine Gruppe von Gleichaltrigen, mit denen sie sich anfreundet: Francine, Claudie, Ahmend, Soon, Johann und Henri. Gerade die beiden letzteren spielen eine große Rolle in ihrem Leben: Johann, der aus Deutschland stammt und in Lyon Chemie studiert, wird ihr Mann werden, sie wird mit ihm in die Bundesrepublik gehen.
Und Henris Eltern sind von den Deutschen umgebracht worden. Und: Durch Henri wird sie in späteren Jahren erfahren, was für Schuld Johanns von ihr so überaus geschätzter und gebildeter Vater im Zweiten Weltkrieg auf sich geladen hat.
Schenk, geboren 1944 in Chambéry, studierte Mitte der sechziger Jahre in Lyon Altphilologie und Französisch, kam 1966 nach Deutschland und hat hierzulande zahlreiche, allerdings wenig beachtete Romane veröffentlicht.
In diesem Jahr wurde ihr vom deutschen Literaturbetrieb eine größere Aufmerksamkeit zuteil, da las sie beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt kleinere Stücke aus ihrem Roman, konnte die Jury aber nicht überzeugen. Was sich im Nachhinein seltsam ausnimmt, so reich an Stoff "Schnell, dein Leben" ist, so souverän wie Schenk diesen gestaltet, so ruhig und unaufgeregt und ohne ein Wort zuviel sich diese Prosa liest.
Französische Ungezwungenheit gegen deutsche Distanz
"Schnell, dein Leben" erzählt die Geschichte eines Lebens zwischen Deutschland und Frankreich, die sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Gräuel des Zweiten Weltkriegs und der freundschaftlichen Annäherung beider Nationen entrollt, vor dem des deutschen Wirtschaftswunders und der 68er-Bewegung.
Louise ist die kleine, niedliche, "charmante" Französin, ihre Umgebung nach der Heirat eine mitunter typisch deutsche, die voller Klischees steckt. Nur stimmen diese Klischees zu jener Zeit eben alle, von den Essgewohnheiten bis hin zu den Küsschen, die sich Franzosen rechts und links bei der Begrüßung geben, und der Hand, die die Deutschen dafür ausstrecken. Ungezwungenheit versus Distanz!
Schenk hat für ihren Roman eine ungewöhnliche, im Titel angedeutete Perspektive gewählt: die zweite Person Singular. Das liegt womöglich daran, dass sie mitten in ihrem eigenen Leben steckt. Das Du verschafft beim Lesen eine Nähe aus der Halbdistanz, nicht zu persönlich wie im Fall der Ich-Perspektive, nicht zu distanziert wie im Fall einer auktorialen Perspektive.
Das wirkt stimmig, selbst dann noch, als am Ende ihr deutscher Ehemann in den Fokus gerät und ebenfalls ein paar Kapitel abbekommt: ein Leben, durch das Schenk noch schneller wandert, bis Louise beim Stöbern im Bücherschrank ihres Schwiegervaters schließlich entdeckt, wie eng das Schicksal von Henris Eltern mit Johanns Vater verknüpft war.
Was für ein Leben, was für Koinzidenzen. Und wie schön es Schenk gelingt, ebenfalls aus einer sicheren Distanz heraus, vermittelt durch einen Traum, darauf hinzuweisen, wie kurz ein Leben bei so einem Draufblick ist, "mein Leben, unser Leben". Und wieviel trotzdem drin steckt, wie komplex es sich darstellt!
Die Zeit nimmt bei der Lektüre dieses Romans andere Dimensionen an, sie dehnt sich, und doch hat man am Ende den Eindruck, viel zu schnell und zu begeistert gelesen zu haben.