Zufluchtsort für Kreative
Der Bürgerkrieg hat viele syrische Künstler nach Beirut gespült. Die Stadt ist so etwas wie die Außenstelle der syrischen Kunst geworden, auf die ein regelrechter Run eingesetzt hat. Manche einheimischen Künstler empfinden die Syrer als Konkurrenz.
Es ist das Stadtviertel, in dem Galeristen und Gemüsehändler Nachbarn sind. Gemmayzeh im Osten Beiruts ist hip und trotzdem bodenständig. In den typisch orientalischen Gassen zieren Graffitis die Fassaden. Neben Kirchen befinden sich Kneipen, neben sorgsam renovierten Prachtbauten aus der französischen Kolonialzeit Shisha-Cafés. Die steilen Stufen, auf denen die Anwohner - wie überall im hügeligen Beirut - Abkürzungen in die höher gelegenen Straßen nehmen, sind hier bunt bemalt.
"Die meisten Künstler leben hier in diesem Viertel. Hier arbeiten wir, treffen uns, diskutieren."
Abdulkarim Magdal Beik ist Maler und hat in Gemmayzeh ein neues Zuhause gefunden. Der 42-Jährige kommt ursprünglich aus Syrien.
Kulturmetropole des Nahen Ostens
"Ich wollte schon früher immer in Beirut leben. Es ist eine Kulturmetropole. Jeder Künstler aus Nahost möchte mal hierher. Die Idee war also da. Aber dann überschlugen sich die Ereignisse und ich kam aus Not."
Mit einem Spachtel bearbeitet Abdulkarim Magdal Beik in seinem Atelier eine Leinwand. Schon vor ein paar Stunden hat er eine zähe, graue Masse aufgetragen, die er nun im getrockneten Zustand bearbeitet.
"Das ist eine Mischung aus Sand, Gips, Leim und Farbpulver."
Der Künstler erschafft Gemälde, die wie Ausschnitte von Hausfassaden aussehen. Syrische Hausfassaden.
"Ich bringe Textur in die Fläche ... [kratzt] Dann 'graviere' ich Schriften ein, Zahlen, Symbole... Wenn in einer Straße Krieg ist, sieht man das auch an den Wänden. Es bleibt wie eine Erinnerung von dem, was passiert ist. Manchmal haben Kinder ein Herz auf die Wand gemalt. Manche einen Gedanken, ihren Namen, den Namen der Liebsten. Selbst wenn man weg muss, bleiben diese Botschaften."
Im Kopf immer noch die Bilder aus dem Bürgerkrieg
Schon vor dreieinhalb Jahren ist Abdulkarim Magdal Beik nach Beirut geflohen. Beim Blick aus seinem Atelierfenster sieht er jetzt auf die ruhigen Straßen von Gemmayzeh. Doch in seinem Kopf sind immer noch die Bilder vom Syrien-Krieg.
"In der Gegend, in der ich gewohnt habe, gab es immer öfter Explosionen, Tote, Verletzte. Es war schlimm. Trotzdem habe ich alles, was ich besitze in Syrien zurückgelassen, in der Hoffnung, dass ich ja bald wiederkomme. Nur für ein paar Monate, höchstens ein Jahr wollte ich im Libanon bleiben. Aber der Krieg dauert und so bin ich immer noch hier."
So wie viele. Eineinhalb Millionen Menschen sind seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges 2011 in den benachbarten Libanon geflohen. Ein Land, das von der Fläche gerade einmal so groß ist wie Hessen. Die Flüchtlinge machen inzwischen ein Viertel der gesamten Einwohnerzahl aus. Die libanesische Hauptstadt Beirut ist dabei zum Zufluchtsort der Kreativen geworden.
"Beirut hat sich zu einem Sammelbecken entwickelt. Ich hab hier schon öfter Studienkollegen aus Damaskus getroffen als in Syrien. Die vielen Künstler nehmen natürlich Raum für sich in Anspruch, in den Ateliers, den Galerien. Bis zu 90 Prozent der Ausstellungen in Beirut sind jetzt mit Syrern."
"Kriegsbonus" für die syrischen Künstler?
Eine der renommiertesten Galerien in Beirut ist das "ARTLAB". Es liegt in einer Seitengasse von Gemmayzeh, schräg gegenüber von einer kleinen Druckerei. Der libanesische Galerist und Kunstsammler Antoine Haddad hat hier schon syrische Maler ausgestellt, als der Bürgerkrieg die Künstler noch nicht zur Flucht zwang:
"Ich habe sie eigens gesucht, regelrecht gescoutet. Syrische Kunst hat etwas Besonderes, etwas, das es hier im Libanon nicht gibt. Aber erst mit Ausbruch des Krieges entwickelte sich ein ziemlicher Run auf syrische Gemälde. Die Migration der syrischen Kunst nach Beirut setzte ein. Die meisten Galerien erkannten ihre kommerziellen Möglichkeiten, dadurch dass eine Art 'Sympathie' für die syrischen Künstler entstand. Die Leute hörten täglich vom Krieg in Syrien und wurden deshalb aufmerksam."
Diesen Kriegsbonus, wie manche ihn bezeichnen, will Antoine Haddad weder positiv noch negativ bewerten.
Außenstelle der syrischen Kunst
Im Mittleren Osten seien die Menschen eifersüchtig, merkt der Galerist nur kurz an.
"Fest steht: Beirut ist jetzt quasi die Außenstelle der syrischen Kunst. Die meisten Künstler in Syrien sind frei denkende Köpfe und sehen sehr kritisch auf ihr Regime und die Unterdrückung des Volkes. Sicher sind viele nach Beirut gekommen, weil sie die Gelegenheit sahen, hier besser zu verkaufen, aber das Wichtigste ist doch, dass sie sich nun endlich wieder ausdrücken zu können."
Auch der syrische Maler Abdulkarim Magdal Beik ist froh, im Libanon völlig frei arbeiten zu können. Doch natürlich seien Zuwanderer wie er für die einheimischen Künstler in Beirut eine Konkurrenz, räumt er ein:
"Ich will nichts beschönigen. Natürlich sorgt das auch für Konflikte. Dieses Gefühl, dass einem da der Platz weggenommen wird, kommt sicher vor."
Der Syrer zögert. Konkreter möchte er nicht werden. Er möchte nicht unhöflich sein in dem Land, das ihn aufgenommen hat.
"Kein syrischer Künstler, der interessante Fragen stellt"
Gut zehn Minuten Autofahrt von Gemmayzeh entfernt befindet sich das "Beirut Art Center". Die nüchtern gehaltene, zweistöckige Halle am Rande eines Industriegebietes beherbergt regelmäßig viel beachtete Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Die Libanesin Dima Hamadeh ist die Sprecherin des von einer gemeinnützigen Organisation geführten Hauses.
"Natürlich gibt es so etwas wie syrische Kriegskunst. Das gab es auch im Libanon. Und es gibt ägyptische Revolutionskunst. So was ist 'angesagt', formulieren wir es mal so. Das ist vielleicht vier, fünf Jahre auf dem Markt. Die Leute wollen das kaufen, aber dann bricht der Markt auch wieder zusammen. So ist der Markt. Aber die Frage ist: Was ist das für eine Kunst?"
Das Beirut Art Center habe bisher noch keine der syrischen Künstler ausgestellt, die im Libanon im Exil leben.
"Sie kommen aus einem Kriegsgebiet. Man soll sie unterstützen, das ist wahr. Nur gibt es aus unserer Sicht bislang keinen syrischen Künstler, der interessante Fragen stellt. Es ist schwer zu erklären, aber wir wollen nicht einfach nur etwas Wohltätiges tun. Wir wollen keine syrischen Künstler zeigen, nur weil sie Syrer sind. Wir haben uns deshalb zu etwas Anderem entschieden: Wir laden syrische Künstler ein, um mit uns zu reden. Man kann Beirut tatsächlich eine Kulturhauptstadt nennen. Und genau darum sollte es einen Dialog geben, einen Diskurs über die Kunstszene hier."
Dima Hamadeh und ihre Kollegen planen deshalb eine Reihe von Diskussionsveranstaltungen für syrische und libanesische Künstler. Das Ziel: Annäherung.
"Ich glaube nämlich, es gibt noch keine Integration. Da muss noch von beiden Seiten daran gearbeitet werden."
Keine Chance als Bildhauer
Für kulturpolitische Diskurse bleibt Wissam Muases nur selten Zeit. In seiner kleinen Hinterhof-Werkstatt fällt viel Arbeit an.
Auch Wissam Muases ist aus Syrien in den Libanon geflohen. Eigentlich ist er Bildhauer. Doch mit dieser Kunst ließ sich in Beirut kein Geld verdienen. Ein Werkstoff lag jedoch - im wahrsten Sinne des Wortes - auf der Straße: Glas.
"Es gibt über hundert Millionen Glasflaschen, die im Libanon jährlich auf dem Müll landen. Sie werden einfach in die Landschaft gekippt. Die Menge ist gigantisch. Aber es gibt hier keine Recycling-Industrie oder – wie in Europa üblich – Mehrwegsysteme, wo die Flaschen gewaschen und neu abgefüllt werden."
Der Libanon hat ein massives Müllproblem. Im vergangenen Jahr sorgten die stinkenden Abfallberge sogar für Proteste im ganzen Land. Für einen Teil des Altglases hat Wissam Muases zusammen seiner syrischen Kollegin Ramia Suleiman eine Lösung gefunden: Upcyling, die Verwandlung von Abfall in neuwertige Produkte.
Kunsthandwerk mit Upcycling
Wissam Muases zündet einen alten Gasofen an und platziert vier der im Libanon typischen grünen Bierflaschen in eine selbstkonstruierte Drehscheibe.
"Wir ritzen die Flaschen rundherum mit einem Diamantschneider an, dann erhitzen wir diese Linie. - Das war's schon."
Die Flaschenhälse sind sauber abgebrochen. Die unteren Hälften der Flaschen bleiben zurück.
Sie werden gespült, die Ränder glatt geschliffen. Das Ergebnis: Getränkegläser. Ramia Suleiman zeigt die fertigen Produkte:
"Wir bedrucken die Gläser auch. Ein libanesischer Street Art-Künstler hat uns Vorlagen entworfen."
Hier klappt die syrisch-libanesische Zusammenarbeit also. In den angesagten kleinen Boutiquen in Beirut, die sowohl auf Design und Nachhaltigkeit achten, verkaufen sich die hübschen Gläser inzwischen ganz gut. Genauso wie die Lampen mit den Leuchtelementen als Altglas, die Ramia Suleiman zusammen mit Wissam Muases entworfen hat.
(Wissam Muases:)"Wir machen jetzt auch Möbel, die man selbst schnell auf- und abbauen kann. Bücherregale, kleine Schränke. Das alles ist neu im Libanon. Wir brauchten diese Dinge selbst. Wir haben oft die Wohnung gewechselt, als wir in Beirut ankamen. Auch andere syrische Bekannte suchten so etwas. Keiner wusste ja, ob er lange bleiben würde."
Die beiden syrischen Künstler haben quasi aus der Not eine Tugend gemacht.
Theatersatire über den Run auf die Fördergelder
Und die libanesische Kompanie "Zoukak" machte aus der Debatte darüber, welchen Platz die syrischen Flüchtlinge in der Beiruter Kulturszene einnehmen, sogar ein Theaterstück.
Der provokante Titel: "Ich hasse Theater, ich liebe Pornografie". Eine Satire:
"Das Stück dreht sich um eine libanesische Theaterkompanie, deren Schauspieler in Wahrheit alle Pornostars sind und die ihren syrischen Dramaturgen nur dazu benutzen, um an die internationalen Fördergelder zu kommen."
Der Schauspieler Omar Abi Azar sitzt in einem Café im Künstlerviertel Gemmayzeh und lacht verschmitzt. Das Bühnenwerk sei eine Antwort, sagt der libanesische Schauspieler. Auf die vielen argwöhnischen Fragen, die manche Landsleute stellen, seit mit den syrischen Flüchtlingen auch immer mehr syrische Künstler nach Beirut kommen.
"Alle fragen uns: Jetzt bekommen sicher nur noch die Syrer Unterstützung, oder? Wie reagiert ihr darauf? Und so haben wir zusammen mit Abdallah dieses Stück inszeniert."
Abdallah Alkafri ist ein syrischer Dramaturg. Er ist vor zwei Jahren nach Beirut gekommen. Vom Libanon aus unterstützt er jedoch auch die Künstler, die in Syrien geblieben sind. Mit seiner Hilfsorganisation "Ettijahat", zu Deutsch "Richtungen":
"Es gibt immer diese Debatte darüber, wie man am besten Widerstand leistet: Sollte man in Syrien bleiben oder gehen? Das ist eine ethische und politische Frage. Ich denke, am Ende hat jeder seine Aufgabe. Ich habe von Beginn an geplant, zumindest in der Nähe von Syrien zu bleiben. Und Beirut ist da der beste Platz."
"In Syrien gab es eine große Theater-Kultur"
In Zusammenarbeit mit der privaten Theaterkompanie "Zoukak" hat Abdallah Alkafri in Beirut schon mehrere Stücke auf die Bühne gebracht. Außerdem bieten sie gemeinsam jungen syrischen Nachwuchsautoren Workshops an. Die hier im Exil lebenden Künstlerinnen und Künstler seien keine Konkurrenz, sondern vielmehr eine Bereicherung der Kulturszene von Beirut, ist der libanesische Schauspieler Omar Abi Azar überzeugt.
"2013, als immer mehr syrische Künstler aus ihrem Land flüchteten, hatten wir plötzlich wieder ein Publikum, das daran gewöhnt war, ins Theater zu gehen. In Syrien gab es eine große Theater-Kultur. Der Staat hat das gefördert. Die Leute hatten Bezüge zu den Texten, zu den Künstlern selbst. Das existierte bis dato im Libanon nicht. Die Syrer waren auf einmal ein echtes Publikum für uns. Das war ermutigend. Das hat der gesamten Szene einen Schub gegeben."
Doch mit dem steigenden wirtschaftlichen Druck im Libanon und der Verschärfung der Aufenthaltsbedingungen für die Geflüchteten aus Syrien verändere sich derzeit wieder die Lage, so Omar Abi Azar.
"Die öffentliche Meinung ändert sich so, wie die Politiker es haben wollen. Wir sind ein rassistisches Land, wenn die Politiker sich ablehnend verhalten. Wir sind ein 'Seid-Willkommen-Land', wenn das das Interesse der Politiker ist. Naja, so geht es ja auf der ganzen Welt. Wir sollten nur nicht vergessen, dass diese Leute Flüchtlinge sind. Sie mussten ihr Leben in Sicherheit bringen und für mich ist auch eine menschliche Pflicht, ihnen zu helfen."