Kristin Helberg: "Verzerrte Sichtweisen: Syrer bei uns"
Herder Verlag, Freiburg 2016, 24.99 Euro
"Politiker schüren Ängste"
Die aktuelle Debatte in Deutschland über ein Burka-Verbot stimme sie pessimistisch, sagt die Journalistin Kristin Helberg. Sie habe gehofft, die deutsche Gesellschaft wäre etwas weiter. Stattdessen würden Ängste von Politikern geschürt, die es besser wissen müssten.
Mehr als 500.000 Menschen sind seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien nach Deutschland geflohen. Sie wollen ein neues Leben beginnen, Arbeit finden, ihre Kinder zu Schule schicken – was bei vielen Deutschen Ängste freigesetzt habe. Die Journalistin Kristin Helberg erklärt in ihrem Buch "Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land", worauf es bei der Integration dieser Menschen ankommt.
"Ein bisschen an menschlicher Wärme"
Ganz entscheidend für das künftige Zusammenleben sei, sich klarzumachen, was die syrischen Flüchtlinge durchgemacht hätten, sagte Helberg im Deutschlandradio Kultur. "Alle Menschen, die jetzt hierher kommen, haben Grausames erlebt." Jeder, der sich nur ungefähr vorstellen könne, was hinter ihnen liege, könne versuchen, "ihnen ein bisschen was an menschlicher Wärme entgegenzubringen, die man wahrscheinlich sehr dringend braucht, wenn man einen solchen Krieg überlebt hat und dann auch noch die Flucht überlebt hat".
"Der am besten dokumentierte Völkermord"
Besonders frustrierend sei für Syrer, dass das Leiden in dem Land eigentlich jedem bekannt sei: "Ich bezeichne das als den am besten dokumentierten Völkermord der Geschichte der Menschenheit", so Helberg. Ob Berichte von Human Rights Watch über Brandbomben oder von Amnesty International über die Lage der Gefangenen – man wisse genau, was in Syrien passiere. "Deswegen sind die Syrer, glaube ich, am Ende und frustriert und haben den Glauben an die Menschheit – vor allem die im Westen – grundsätzlich verloren."
"Es werden Ängste geschürt"
Die aktuelle Debatte um ein Burka-Verbot stimme sie pessimistisch, sagte Helberg. "Ich hatte gehofft, die deutsche Gesellschaft wäre da etwas weiter." Ängste und Misstrauen würden geschürt von Politikern, die es eigentlich besser wissen müssten. "Eine ganz große Herausforderung wird sein, die Menschen in Ostdeutschland in Kontakt zu bringen mit Muslimen, denn wir sehen überall dort, wo man Geflüchtete persönlich trifft, wo man Muslime persönlich trifft, wo man sich mit denen anfreundet, dort verläuft Integration sehr erfolgreich."
Gleichzeitig müsse zivilgesellschaftliches Engagement enger mit den staatlichen Versorgungsstellen vernetzt werden, zum Beispiel durch Patenschaften. Jeder Geflüchtete müsse vor Ort fünf Paten zur Seite gestellt bekommen, die sich etwa bewerben könnten. "Die Geflüchteten, die sehen, wie sich eine Reihe Deutscher für sie einsetzen und ihnen helfen bei Behördengängen, bei einem Arztbesuch, was auch immer, die werden auch motiviert sein, ganz schnell etwas zurückzugeben."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Wenigstens ein bisschen Hoffnung für die Menschen in Syrien – es besteht dann doch Aussicht auf eine wöchentliche Feuerpause, um Lebensmittel, Trinkwasser und Medikamente in die umkämpfte Stadt Aleppo zu bringen. Viele werden dann aber auch verständlicherweise dieses Zeitfenster nutzen, um sich in Sicherheit zu bringen. Hilfsorganisationen rechnen damit, dass die Zahl der Flüchtlinge steigt, auch die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland. Wie zusammenleben unter diesen Umständen gelingen kann, damit hat Kristin Helberg sich auseinandergesetzt. Ihr Buch "Verzerrte Sichtweisen" erscheint am Montag, und heute schon ist sie bei uns zu Gast. Guten Morgen, Frau Helberg!
Kristin Helberg: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wann haben Sie beschlossen, dieses Buch zu schreiben, wann haben Sie gemerkt, da läuft grundlegend etwas schief zwischen Syrern und Deutschen, und da stimmen Bild und Wirklichkeit nicht überein?
Helberg: Das erste Mal darüber Gedanken gemacht habe ich mir, als mich die Kollegen im letzten Sommer nicht mehr nur nach der Lage in Syrien befragten, sondern danach, wie denn diese syrischen Geflüchteten eigentlich so drauf seien, also: Was sind das für Menschen? Wie religiös sind die? Und da merkte ich, dass da doch ein großer Erklärungsbedarf besteht, und so wurde ich eben so ein bisschen von der Syrienexpertin noch zur Expertin für Syrer, was ja auch einigermaßen anmaßend klingt.
Welty: Die syrische Wirklichkeit kennen Sie besser als viele andere. Sieben Jahre lang haben Sie dort gelebt, als Journalistin von Damaskus aus gearbeitet, haben nach wie vor Familie in Syrien. Was vermissen Sie aus Ihrer Zeit in der syrischen Hauptstadt?
Helberg: Menschliche Wärme, gesellschaftliches Miteinander, Solidarität, Plaudern auf der Straße, also diese ganzen vielen sozialen Kontakte, die man im Laufe eines Tages durchläuft, die fehlen hier, und die fehlen natürlich vor allem auch den Syrern, die jetzt hier ankommen, die sich hier sehr schnell einsam fühlen und denken, dass die Menschen hier kälter sind. Also die empfinden, glaube ich, die deutsche Gesellschaft als sehr anonym. Alle rennen hektisch durch die Gegend, selbst, wenn man jemanden kennt, muss man sich zwei Wochen vorher verabreden, und das ist den Syrern sehr fremd.
Welty: Sie stellen Ihrem Buch ein Zitat des deutsch-syrischen Aktivisten Firas Lutfi voran: "Syrien ist die Wiege der Zivilisation und das Grab der Menschlichkeit". Das klingt, um es vorsichtig auszudrücken, wenig optimistisch.
Helberg: Das ist, glaube ich, ziemlich genau das Gefühl, das sehr viele Syrer haben. Die sagen: Seit fünf Jahren findet hier ein großes Verbrechen statt. Ich bezeichne das als den am besten dokumentierten Völkermord der Geschichte der Menschheit – so weit gehe ich tatsächlich –, denn wir wissen ja sehr genau, was passiert. Wir haben gerade wieder Berichte von Human Rights Watch über den Einsatz von Brandbomben, Amnesty International in den letzten Tagen mit einem Bericht über die Lage der Gefangenen, und deswegen ist dieses Zitat, glaube ich, ja, das, was viele Menschen einfach umtreibt, die sagen: Ihr wisst doch, was hier los ist, schaut doch hin, geht ins Internet!
Dieser kleine Junge, der da wieder saß in dem Krankenwagen die letzten Tage – der Mensch, der Aktivist, der das Foto gemacht hat, hat genau geschrieben, wie der heißt, wie das war, wie das passiert ist. Diese ganzen Geschichten um Fotos herum sind inzwischen dokumentiert. Es gibt eine sehr gute Öffentlichkeitsarbeit syrischer Aktivisten, und deswegen sind die Syrer, glaube ich, wirklich am Ende und frustriert und haben den Glauben an die Menschheit, vor allem die im Westen, grundsätzlich verloren.
Welty: Ist das auch etwas, was man sich hier in Deutschland immer wieder bewusst machen muss im Umgang mit den Menschen, die aus Syrien gekommen sind, weil man das ja natürlich auch ganz gerne verdrängt. Man will sich nicht vorstellen, wie das ist in diesem Bürgerkrieg zu leben oder gelebt zu haben?
Helberg: Es ist aber ganz entscheidend für das Zusammenleben hier, dass wir uns klarmachen, woher kommen diese Menschen, und was haben die durchgemacht, und ich wundere mich eigentlich, dass die syrische Gesellschaft nicht noch viel tiefer verroht ist in ihrer Gesamtheit, weil alle Menschen, die jetzt hierhergekommen sind, haben Grausames erlebt, aber jeder, der weiß oder der ungefähr sich vorstellen möchte, woher diese Menschen kommen, kann im Umgang natürlich mit diesen geflüchteten Syrern versuchen, Verständnis aufzubringen und, ja, ihnen auch ein bisschen was an menschlicher Wärme entgegenzubringen, die man wahrscheinlich sehr dringend braucht, wenn man einen solchen Krieg überlebt hat und dann auch noch die Flucht überlebt hat.
Welty: Am Ende Ihres Buches führen Sie sieben Punkte auf, die das Zusammenleben besser machen können, besser machen sollen – wie leicht oder wie schwer wird es sein, diese sieben Punkte umzusetzen?
Helberg: Die aktuelle Debatte über Burka, Burkini und solche Themen machen mich ein bisschen pessimistisch. Ich hatte gehofft, die deutsche Gesellschaft wäre da etwas weiter, denn eine große Forderung von mir ist, dass der Islam sich normalisieren muss, dass wir den Islam akzeptieren als einen selbstverständlichen Bestandteil auch dieses Landes, und da sehe ich natürlich, dass Ängste geschürt werden, dass Misstrauen geschürt wird im Wahlkampf von Politikern, die es eigentlich besser wissen müssten. Ich denke, eine ganz große Herausforderung wird sein, die Menschen im Osten Deutschlands in Kontakt zu bringen mit Muslimen, denn wir sehen, überall dort, wo man Geflüchtete persönlich trifft, wo man Muslime persönlich trifft, wo man sich mit denen anfreundet oder Gespräche führt, dort verläuft Integration sehr erfolgreich. Eine meiner Forderungen ist, dass man genau dieses zivilgesellschaftliche Engagement institutionalisieren müsste. Das heißt, man muss es enger vernetzen mit den staatlichen Versorgungsmechanismen, also Prinzip Patenschaft – jeder Geflüchtete, der ankommt, müsste vor Ort fünf Paten zur Seite gestellt kriegen, die sich bewerben können, und dann kann man denen zur Seite stehen, und die Geflüchteten, die sehen, wie sich eine Reihe Deutscher für sie einsetzen und ihnen helfen bei Behördengängen, bei dem Arztbesuch, bei was auch immer, die werden auch motiviert sein, ganz schnell was zurückzugeben. Deswegen ist es wichtig, dass wir mit den Menschen in Kontakt kommen und dass dieser Kontakt nicht mehr nur Zufall ist, sondern auch ein bisschen gesteuert wird.
Welty: Also ich finde, so pessimistisch klingt das jetzt gar nicht.
Helberg: Ich gebe mir Mühe, Vorschläge zu machen, die uns helfen, damit klarzukommen. Ehrlich gesagt: Es ist ja auch nicht die Zahl der Menschen, die uns überfordert, sondern der Kontrollverlust, also die Tatsache, dass viele Deutsche das Gefühl hatten, wir werden überrannt, weil wir nicht wissen, wann wer kommt und wer hier überhaupt ist. Und ganau das ist, was wir ändern müssen. Dafür brauchen wir eine legale, gesteuerte Migration, die wir auch immer noch nicht haben. Zum jetzigen Zeitpunkt landet ja jeder in unserem Asylverfahren, was eine Katastrophe ist und das System völlig überfrachtet. Wir müssen also Asyl wirklich denen gewähren, die politisch verfolgt sind, das sind individuelle Individuen, die politisch verfolgt sind, und Kriegsflüchtlinge aus Syrien müssen per Kontingent kommen. Dann sind sie auch geregelt hier angekommen, und dann kann ihre Integration am Flughafen beginnen, wenn man so will. Alle anderen, die ganzen Nordafrikaner oder je nachdem, aus welchem afrikanischen Land auch Leute kommen, die einfach ein besseres Leben suchen, eine Perspektive suchen, das sind Einwanderer, und für die brauchen wir ein echtes Einwanderungsgesetz. Das wären die Dinge, die Deutschland sehr voranbringen würden, weil wir dann einfach steuern würden und kontrollieren könnten, wer zu uns kommt, und weil wir auch alles wieder ein bisschen auseinanderdividiert hätten und wir nachher nicht über die Anpassung des Asylrechts diskutieren würden, was eine Katastrophe ist, denn das politische Asyl ist wirklich eine Errungenschaft Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, und daran sollten wir nicht rütteln.
Welty: Über das Zusammenleben von Syrern und Deutschen hat die Autorin Kristin Helberg ein Buch geschrieben, die selbst lange in Damaskus gelebt hat, "Verzerrte Sichtweisen" heißt es, und es erscheint am Montag bei Herder, die rund 270 Seiten kosten knappe 25 Euro, und ich danke herzlich für diesen Ausblick auf das Buch mit Kristin Helberg selbst. Dankeschön!
Helberg: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Zum Nachhören hier das ausführliche Interview:
Zum Nachhören hier das ausführliche Interview: