Syrien nach Assad
Hiba Obaid im Jahr 2012 im syrischen Masyaf, seit 2015 lebt sie in Berlin © Hiba Obaid/privat
Zwischen Hoffnung und verlorener Heimat

Als Baschar al-Assad gestürzt wurde und aus Syrien floh, hoffte die freie Deutschlandfunk-Journalistin Hiba Obaid, endlich wieder Aleppo besuchen zu können. Nun plant sie ihre Reise - in ein Land im Umbruch, das von Gewalt gezeichnet bleibt.
Als Assad gestürzt wurde, hatte ich nur einen Gedanken: Endlich ist das Land frei von diesem Tyrannen. Doch was würde auf ihn folgen? Die Unsicherheit war groß, aber ich hatte Hoffnung - so wie viele andere Syrerinnen und Syrer, sowohl im Land als auch in der Diaspora. Zusammen mit meiner Kollegin Vanessa Guinan-Bank, mit der ich zu Syrien recherchiere, rufe ich Raya an. Sie ist Aktivistin, voller Leben und Energie, und lebt in as-Suwaida im Süden Syriens.
„Raya, wie geht es dir? Wie fühlst du dich jetzt, nach dem Sturz des Regimes?“
„Ich weiß es nicht genau. In den ersten Tagen war da so viel Euphorie. Wir haben drei Tage lang auf dem Platz der Würde getanzt, Süßigkeiten gegessen, uns in den Armen gelegen. Wir konnten es kaum glauben. Aber jetzt …“
„Und jetzt?“
„Manchmal wache ich auf und bin voller Hoffnung. Manchmal sehe ich keinen einzigen Grund mehr, weiterzumachen. Baschar al-Assad hat dieses Land in eine Hölle aus sektiererischem Hass und Brutalität verwandelt. Er hat eine tiefe psychologische Wunde hinterlassen. Ich glaube, es wird sehr lange dauern, Syrien wieder aufzubauen.“
„Ich weiß es nicht genau. In den ersten Tagen war da so viel Euphorie. Wir haben drei Tage lang auf dem Platz der Würde getanzt, Süßigkeiten gegessen, uns in den Armen gelegen. Wir konnten es kaum glauben. Aber jetzt …“
„Und jetzt?“
„Manchmal wache ich auf und bin voller Hoffnung. Manchmal sehe ich keinen einzigen Grund mehr, weiterzumachen. Baschar al-Assad hat dieses Land in eine Hölle aus sektiererischem Hass und Brutalität verwandelt. Er hat eine tiefe psychologische Wunde hinterlassen. Ich glaube, es wird sehr lange dauern, Syrien wieder aufzubauen.“
Schwieriger Weg nach Syrien
Ich sitze in meiner Berliner Wohnung und sehe mir die Flugpreise nach Syrien an. Soll ich über Katar nach Damaskus fliegen? Oder nach Beirut und von dort mit dem Taxi weiter? Vielleicht über Jordanien?
Mein einziger gültiger Ausweis ist mein deutscher Reisepass. Daneben besitze ich eine alte Identitätskarte aus dem Syrien unter Assad - ein „vorläufiger Ausweis für palästinensische Flüchtlinge in Syrien“. Herkunft: Hittin, Adresse: Aleppo, Syrien. Ich denke an dieses fast vergessene Dokument. Es ist irgendwo in einer Schachtel oder einem Schrank vergraben. Jetzt werde ich es brauchen, um an der Grenze zu bestätigen, dass ich tatsächlich in Syrien geboren wurde.
Ich suche nach dem sichersten und zugleich emotional erträglichen Weg dorthin. Per Videocall rufe ich meine Mutter an, die in den Niederlanden lebt und nie nach Syrien zurückkehren will. Niemand aus meiner Familie im Exil erwägt, Aleppo zu besuchen. Für sie ist das Land mit den Granaten, die unser Haus trafen, gestorben.
Für mich ist es anders. Ich habe an der Revolution teilgenommen, jahrelang als Journalistin über dieses Land berichtet. Trotz der Bilder, die mich verfolgen, gibt es etwas in mir, das sehen will, was jetzt geschieht. Und etwas anderes, das für immer fliehen will.
Das Blutvergießen hat in Syrien wieder begonnen
„Von welchem Syrien redest du?“, fragt mich meine Mutter über den Videocall. „Hast du die Nachrichten heute gesehen?“
Ich schalte den Fernseher ein, während sie mein Gesicht beobachtet. Ich schweige, als die Nachrichtensprecherin sagt: „Die Truppen des neuen Regimes dringen in alawitische Dörfer ein und massakrieren ganze Familien. Der Grund: die Jagd auf Mitglieder des gestürzten Regimes.“ Baschar al-Assad und seine Familie sind Alawiten.
Ich öffne Social Media, um nach Augenzeugenberichten und Videos von vor Ort zu suchen. Mein Freund Ibrahim schreibt: „Ich bin ein ziviler Arzt, eingeschlossen im Krankenhaus mit einer Gruppe von Kollegen. Wir können nicht raus. Betet für uns.“
Wenige Minuten später bearbeitet er den Beitrag:
„Ich bin ein alawitischer Arzt. Danke an meine sunnitischen Freunde, die uns hier rausgeholfen haben. Wir sind jetzt in Sicherheit, aber meine Heimat nicht.“
„Ich bin ein alawitischer Arzt. Danke an meine sunnitischen Freunde, die uns hier rausgeholfen haben. Wir sind jetzt in Sicherheit, aber meine Heimat nicht.“
Ich verstehe nicht, was passiert. Dann schreibe ich Ahmad aus Latakia: „Ahmad, was ist los?“ Er antwortet: „Ich weiß es nicht. Meine Mutter ist zu Hause und kann nicht raus. Draußen wird gekämpft. Sie töten die Alawiten.“ Gefechte zwischen Anhängern des gestürzten Assad-Regimes und des neuen Regimes, sie bekämpfen sich. Und in den alawitischen Dörfern werden Zivilisten getötet.
Ich frage mich: Wird uns Baschar al-Assad dazu bringen, den Tag zu bereuen, an dem wir auf die Straßen gegangen sind? Ich lege mein Handy weg, atme tief durch und schreibe auf Facebook: „Ich verstehe nicht, woher dieser Hass kommt.“ Die Kommentare lassen nicht auf sich warten:
„Wo wart ihr, als unsere Kinder und Frauen in sunnitischen Dörfern abgeschlachtet wurden?“ „Wo wart ihr, als sie uns mit Fassbomben beworfen haben?“
Ich antworte nicht. Ich denke nur: Ich war in Aleppo. Ich habe gesehen, wie die Bomben auf die Häuser fielen. Aber ich kann nicht glauben, dass Rache der einzige Weg ist, den Syrien gehen kann. Ich scrolle durch die Videos auf Social Media. Die Gewalt ist unvorstellbar. Wer sind diese Menschen? Und wie soll ich jetzt nach Syrien reisen?
Ich antworte nicht. Ich denke nur: Ich war in Aleppo. Ich habe gesehen, wie die Bomben auf die Häuser fielen. Aber ich kann nicht glauben, dass Rache der einzige Weg ist, den Syrien gehen kann. Ich scrolle durch die Videos auf Social Media. Die Gewalt ist unvorstellbar. Wer sind diese Menschen? Und wie soll ich jetzt nach Syrien reisen?
Ist das wirklich meine Sorge, während Freunde ihre Familien verlieren?
Heute trifft es die Alawiten, morgen vielleicht eine andere Gruppe.
Werden sie auch die palästinensischen Syrer töten? Wahrscheinlich nicht. Wir standen schon immer am Rand.
Heute trifft es die Alawiten, morgen vielleicht eine andere Gruppe.
Werden sie auch die palästinensischen Syrer töten? Wahrscheinlich nicht. Wir standen schon immer am Rand.
Syrien ist in ein schwarzes Loch gefallen. Und niemand weiß, ob es je wieder herauskommt.
Klammern an der Hoffnung
Mein Telefon klingelt. Ich habe ein Interview mit Huda vereinbart. Sie wurde mit ihrer Familie aus dem belagerten Umland von Damaskus nach Idlib gebracht – in den grünen Bussen, einst Symbol der Modernisierung, später ein Zeichen des Schreckens. Assad ließ mit ihnen Demonstranten verschleppen, Kämpfer transportieren und ganze Bevölkerungen umsiedeln – so auch Huda, als Assads Truppen ihre Region zurückeroberte. Tausende ließ er nach Idlib bringen, die damals letzte Hochburg gegen sein Regime, kontrolliert von der islamistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham.
Ich spreche zum ersten Mal mit Huda, seit das Regime gefallen ist.
„Huda, hörst du mich?“
„Ja, aber die Verbindung ist schlecht … Ich bin zurück in Damaskus. Ich lebe nicht mehr in Idlib.“
„Huda, hörst du mich?“
„Ja, aber die Verbindung ist schlecht … Ich bin zurück in Damaskus. Ich lebe nicht mehr in Idlib.“
HTS baute in Idlib eine lokale Regierung auf, etablierte eine Art Staat und schaltete Rivalen aus. Ihnen wurde in dieser Zeit auch von Bewohnern und Menschenrechtsgruppen brutales Vorgehen gegen Andersdenkende vorgeworfen - die Vereinten Nationen stufen diese als Kriegsverbrechen ein. Huda protestierte in Idlib gegen HTS-Chef Abu Mohammad al-Dschaulani - heute als Ahmad al-Scharaa bekannt - und seine Anhänger, nachdem sie junge Männer verhaftet und gefoltert hatten.
Nun ist Ahmad al-Scharaa Syriens Interimspräsident. „Die neue Regierung hat sich stark verändert“, sagt Huda. „Viele von uns beobachten sie mit Misstrauen. Aber ich bin optimistisch. Vielleicht haben sie aus ihren Fehlern gelernt.“
Hat sich HTS wirklich seit der Herrschaft in Idlib verändert? Ist das, was Huda sagt, wahr? Oder halten wir uns verzweifelt an einem Hoffnungsschimmer fest? Die dritte Frau, mit der ich spreche, ist Nasrin. Sie lebt nach wie vor in Damaskus. Sie geht zur Arbeit und träumt davon, genug zu verdienen, um ihre Familie zu versorgen - ohne sich Geld von Verwandten im Ausland leihen zu müssen.
„Hiba, wohin soll ich auch gehen?“, fragt sie mich. „Ein Syrer ist überall gedemütigt! Selbst in Deutschland, wo du lebst - jeden Tag drohen die Politiker mit Abschiebungen. Abschiebung hier, Abschiebung da. Das ist unser Schicksal. Keiner weiß, was kommt. Die Zukunft ist für uns alle ungewiss.“
Schüsse gehören zum Klang der Normalität
Am Abend treffe ich eine Freundin in der Sonnenallee in Berlin. Es ist Ramadan. Wir sitzen draußen, essen gegrilltes Hähnchen. Sie ist gerade aus Syrien zurückgekehrt und weiß, dass ich bald dorthin reisen will. „Du sitzt zu Hause, und plötzlich hörst du Schüsse“, sagt sie.
„Hiba, du weißt, dass ich wie du seit zehn Jahren in Deutschland lebe. Wir sind das nicht mehr gewohnt. Ich hatte Angst. Meine Familie? Die sagen nur: ‚Ganz normal, jemand rechnet eben mit jemandem ab.‘“
„Hiba, du weißt, dass ich wie du seit zehn Jahren in Deutschland lebe. Wir sind das nicht mehr gewohnt. Ich hatte Angst. Meine Familie? Die sagen nur: ‚Ganz normal, jemand rechnet eben mit jemandem ab.‘“
Der Satz zieht vorbei, als wäre nichts passiert. Wie konnten die Menschen sich so sehr an den Klang von Schüssen gewöhnen? „Dort hast du keine Zeit zum Nachdenken“, sagt sie. „Du wartest nur auf den Strom, um den Kühlschrank einzuschalten. Oder auf Empfang, um eine Nachricht zu schicken. Früher waren die Menschen großzügig – ein Besuch bedeutete Essen, Süßigkeiten. Heute haben sie nichts mehr zu geben.“ In Syrien sind laut UN 70 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen, 90 Prozent leben unter der Armutsgrenze.
Erinnerungen liegen in Trümmern
Sie zeigt mir ein Album voller Fotos. Ich suche nach etwas Vertrautem – einer Straße, einem Haus, einem Baum. Nichts. Hat sich das Land so sehr verändert? Oder habe ich es vergessen? Ich zeige ihr ein Foto meiner alten Schule. Ein Freund hat es vor einem Monat in Aleppo gemacht. Ich hatte ihn auch nach meinem Haus gefragt, da sagte er aber: "Fahr hin und sieh es dir mit eigenen Augen an."
Ich fahre durch Berlin und denke an Aleppo. Bin ich zu spät? Hätte ich direkt nach dem Sturz des Regimes hinfahren sollen – bevor die Rache begann? Aber ich konnte nicht. Die mentale Belastung war zu groß. Es gibt so viele Gründe, warum ich nicht gefahren bin. Ich habe sie mir aufgeschrieben, für jedes Mal, wenn mich jemand fragt: „Wann fährst du nach Syrien?“
Für mich ist eine Reise dorthin kein Luxus. Es ist eine Konfrontation – mit den Bildern des Krieges, den Leichen vor der Moschee im letzten Ramadan, meinen verhafteten Freunden, die nie zurückkamen. Mit dem Grab meiner Großmutter, das ich nie besucht habe, in einem palästinensischen Flüchtlingslager nahe Aleppo.
Nach Syrien zu reisen bedeutet, mich einer Vergangenheit zu stellen, vor der ich geflohen bin, um mir ein neues Leben aufzubauen. Doch diese Vergangenheit bleibt. Sie existiert weiter - verzerrt in meiner Erinnerung.
In einem türkischen Café in Berlin trinke ich noch einen Tee mit einem Freund. Er konfrontiert mich mit der Wahrheit, vor der ich weglaufe: „Hiba, du bist zu spät.“ Das Land ist im Übergang. Jeden Tag verändert sich etwas. „Wenn du wegen des Essens dorthin willst – es ist nicht mehr dasselbe. Wenn du wegen der Häuser gehst – sie sind nicht mehr dieselben.“ Ich frage: „Und das Meer?“ Er antwortet: „Sogar das Meer ist nicht mehr blau. Es ist rot, es ist voller Blut.“