Was bedeuten Spenden im Islam?
In der Not zu geben, verbindet alle Religionen. In der islamischen Welt spricht man von Zakat, übersetzt "Reinigung". Dafür gibt es genaue Regeln, wie der Islam-Theologe Martin Mahmud Kellner anlässlich der Syrien-Konferenz in Brüssel erläutert.
Derzeit findet die internationale Syrien-Konferenz in Brüssel statt. Nach den vielen Jahren Krieg Syrien ist die Not der Menschen groß - Hilfe gewähren und Hilfe annehmen hat hier eine besondere Bedeutung.
Almosen, Hilfe, Spenden für Menschen in Not sind selbstverständlicher Teil unseres christlichen Wertekanons. Es ist aber auch eine Gemeinsamkeit der Religionen. In der islamischen Welt gibt es Zakat, was wörtlich übersetzt "Reinigung" bedeutet. Was die meisten Nicht-Muslime nicht wissen: Zakat ist im Islam ziemlich genau geregelt, wie der Islam-Theologe Martin Mahmud Kellner erläutert:
Wer eine gewisse Summe zurückgelegt habe, müsse 2,5 Prozent - den vierzigsten Teil, wie es in religiösen Schriften heiße - davon an eine bestimmte Gruppe von Menschen spenden. "Das heißt, ich bin religiös dazu verpflichtet, das zu tun."
Wer spenden muss, ist genau festgelegt
Dabei sei genau festgelegt, ab welcher zurückgelegten Summe man spenden müsse: ab umgerechnet 4000 Euro.
Zielgruppe des Zakat sind Arme und Bedürftige. Dabei, sagt Kellner, spiele es keine Rolle, ob es sich dabei um Muslime oder Nicht-Muslime handle. Der Gedanke dahinter sei, Verantwortung für andere, Schwächere zu übernehmen. Allerdings:
"In den meisten islamischen Ländern wird es sozusagen nicht mehr staatlich durchgesetzt. Das heißt, es bleibt sozusagen eine private Pflicht, die manche Menschen erfüllen und viele Menschen nicht mehr erfüllen."
Im Alltag halte sich selbstverständlich nicht jeder an das Zakat-Gebot, sagt Kellner, der zehn Jahre lang in Syrien gelebt hat. Darin unterschieden sich Muslime nicht von Christen oder Atheisten: Ob sich jemand für reich genug halte, regelmäßig Almosen zu geben, sei ein subjektive Angelegenheit.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Syrien braucht Hilfe nach vier Jahren Krieg, Hilfe, um die notleidende Bevölkerung jetzt zu versorgen und um Krankenhäuser und viele andere Teile der zerstörten Infrastruktur wiederaufzubauen. Und wenn die Staaten der Welt zusammenkommen, um über die Hilfe für Syrien zu diskutieren bei sogenannten Geberkonferenzen, wie auch jetzt wieder, dann sitzen da natürlich nicht muslimische Staaten zusammen am Tisch mit muslimischen Staaten. Und letztere haben vielleicht noch mehr Gründe, Syrien zu helfen, als die anderen, und das liegt nicht nur an der kulturellen und geografischen Nähe, sondern auch noch an einem muslimischen Gebot namens Zakat.
Und über dieses Gebot wollen wir jetzt mit Martin Mahmut Kellner sprechen. Der gebürtige Österreicher hat zunächst in Wien unter anderem Arabistik, aber auch Psychologie und Soziologie studiert, ist dann für zehn Jahre nach Damaskus, nach Syrien gegangen, das war noch vor dem Krieg, hat sich dort weitergebildet, war dann zwei Jahre in Saudi-Arabien und kehrte 2011 zurück nach Europa. Zurzeit arbeitet er am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück. Schönen guten Morgen, Herr Kellner!
Martin Mahmud Kellner: Guten Morgen!
Kassel: Zakat, übersetzt bedeutet das ja keineswegs Spende oder Hilfe oder Almosen, sondern es bedeutet so etwas wie Reinigung. Um was für eine Art von Reinigung geht es denn dabei?
Kellner: Also, grundsätzlich meint man damit, dass es sozusagen die Reinigung des eigenen Vermögens von einem kleinen Anteil ist, der sozusagen für gesellschaftliche Solidarität aufgewendet werden muss. Das heißt, wir haben im Islam zwei Formen von Spende: Wir haben einerseits die ganz freiwillige Spende, ich sehe jemanden, der bedürftig ist, und gebe ihm zehn Euro. Andererseits sozusagen das Konzept einer verpflichtenden Spende, einer religiös verpflichtenden Spende, die man eben Zakat nennt, die darauf basiert, dass man von Vermögen, das sozusagen über die eigenen Grundbedürfnisse hinausgeht – das heißt, ich habe irgendwo ein Bankkonto und habe dort 100.000 Euro liegen –, einen kleinen Teil, und zwar 2,5 Prozent für eine bestimmte Gruppe von Menschen spenden muss. Das heißt, ich bin religiös dazu verpflichtet, das zu tun.
Kassel: Das ist aber jetzt erstaunlich konkret, 2,5 Prozent.
Kellner: Ja.
Kassel: Steht das so im Koran oder wo ist das so festgelegt?
Kellner: Ja, das ist festgelegt durch die religiösen Texte, ein Vierzigstel dieses Vermögens. Und es geht sozusagen … Wichtig ist, es geht um wachsendes Vermögen, das heißt, nicht um mein Monatseinkommen, von dem ich etwas abzahlen muss, sondern es geht um Dinge, die potenziell wachsen. Das heißt, das Bankkonto, das irgendwo auf der Seite ist, ein Geld, das ich nicht brauche. Eine Tierherde zum Beispiel in landwirtschaftlichen Kulturen, die so groß ist, dass dadurch sozusagen Reichtum entsteht, der anwächst. Und von dem zahle ich einen gewissen Teil, im Fall von Geld und von Gold und Handelsware zahle ich 2,5 Prozent. Was relativ wenig ist, aber doch gesellschaftlich einige Wirkung haben kann.
Die islamischen Schriften regeln alles
Kassel: Und wie genau ist festgelegt, an wen konkret ich diese 2,5 Prozent abtrete?
Kellner: Dazu gibt es sozusagen in den Texten, in den islamischen Primärquellen Aussagen, es sind mehrere Gruppen von Menschen, die verbunden sind sozusagen durch ein Merkmal, nämlich Armut. Also Bedürftigkeit und Armut, das sind so die zwei Kriterien. Und es kann sein, dass es wirklich tatsächlich völlig verarmte Menschen sind, es kann sein, dass es zum Beispiel Menschen sind, die Reisende sind, aber ihr Vermögen sozusagen in dem eigenen Land haben und keinen Zugang dazu haben, das sind ja keine armen Menschen, aber sie sind in der Situation, in der sie aktuell sind, sozusagen arm, das könnten auch zum Beispiel Flüchtlinge sein, die zum Beispiel irgendwo ein Haus in Syrien haben, aber keinen Zugang mehr dazu. Und so weiter.
Kassel: Das ist ja eine sehr alte Regel. Welche Rolle – jetzt gehen wir mal kurz von Syrien und dem Krieg dort weg – spielt die denn noch im Alltag? Nehmen wir sehr reiche arabische Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien: Die Menschen, die dort sehr viel Geld meistens direkt oder indirekt mit Erdöl gemacht haben, geben die wirklich jedes Jahr 2,5 Prozent ab?
Kellner: In den meisten islamischen Ländern wird es sozusagen nicht mehr staatlich durchgesetzt. Das heißt, es bleibt sozusagen eine private Pflicht, die manche Menschen erfüllen und viele Menschen nicht mehr erfüllen.
Kassel: Wie stark ist denn eigentlich diese Solidarität beschränkt auf Menschen des gleichen Glaubens? Also, spenden – ich nenne es jetzt trotzdem mal Spenden – Muslime nur für Muslime oder ist das im Grunde genommen egal?
Kellner: Im Grunde genommen ist das Kriterium die Bedürftigkeit. Das heißt, das Zakat kann durchaus auch Menschen anderer Religionen zugutekommen. Und tendenziell sollte es auch regional aufgewendet werden. Das heißt, Muslime, die zum Beispiel in Europa leben, sollten tendenziell ihre Spende sozusagen hier in Europa tätigen und nicht in ihre Länder schicken.
Ein Mindestmaß an Solidarität
Kassel: Was aber theoretisch jetzt die Aufbauhilfen für Syrien behindern würde, praktisch vermutlich nicht. Weil, ich denke mal, Solidarität mit Syrien kann man als Muslim aus jedem Teil der Welt üben im Prinzip?
Kellner: Natürlich kann man das. Wenn man sieht … Das ist zum Beispiel, wenn es hier keine Bedürftigen geben würde und die Menschen, die aktuell in Syrien sind, viel bedürftiger sind, dann natürlich, in dem Fall würde man das Geld dorthin schicken. Aber ich glaube, die internationale Syrien-Hilfe natürlich geht weit über das Ausmaß des Zakat hinaus. Das Zakat ist sozusagen ein Mindestmaß an privater gesellschaftlicher Solidarität, die sozusagen ein Muslim ausüben sollte, während im Bereich von internationaler Politik es natürlich um völlig andere Hilfen geht. Also, das Zakat ist ja nicht die einzige Form von Hilfeleistung oder an Solidarität, die sozusagen ausgeübt werden soll, sondern es ist sozusagen die Bottom Line, es ist sozusagen ein Mindestmaß, das für den religiösen Muslim, der sich dieser Religion verpflichtet fühlt, auch geleistet werden soll.
Kassel: Es gibt ja das Gebot, armen Menschen zu helfen, zu teilen, Almosen zu verteilen, auch in der christlichen Kultur. Mal abgesehen davon, dass es meines Wissens da keinen festgelegten Prozentsatz gibt, wo sehen Sie Parallelen zum Zakat und wo sehen Sie große Unterschiede?
Kellner: Ja, prinzipiell ist es natürlich so, dass in allen Religionen, nicht nur in Religionen, sondern auch in allen humanistischen Gesellschaftskonzepten einfach die Idee gibt, dass es Solidarität geben soll und dass reichere Menschen Bedürftigen helfen sollen. Ich glaube, das ist etwas, was einfach Menschen auf aller Welt, in der ganzen Welt sozusagen, das Konzept teilen, Menschen in aller Welt.
Wer mindestens 85 Gramm Gold hat, sollte spenden
Kassel: Das Besondere am Zakat ist vielleicht Folgendes: Wir sehen ja sehr oft, dass viele Menschen, die auch sehr reich sind, das Gefühl haben, ich kann ja nichts geben, weil, ich habe ja selber zu wenig. Also, das subjektive Erleben von Reichtum und Armut ist oft sehr, sehr unterschiedlich und oft auch sehr irrational. Also, ich kenne selbst sehr viele Menschen, die eigentlich objektiv reich sind, aber sie fühlen sich trotzdem arm. Und das Besondere am Zakat ist eigentlich, dass vor allem definiert wird: Was heißt denn Reichtum? Also, ab wann, ab welchem Vermögen muss ich sozusagen … bin ich zakatpflichtig? Und das wäre ganz konkret, mit Gold bemessen, 85 Gramm Gold, das sind heute circa 4.000 Euro. Und wenn dieser Betrag ein Jahr lang sozusagen bei mir am Konto bleibt und unangetastet bleibt, dann bin ich erst zakatpflichtig.
Warum? Weil ich mir leisten kann sozusagen, Geld auf der Seite zu haben, ohne es sozusagen für mich selbst zu brauchen. Und da muss ich diese 2,5 Prozent zahlen. Das heißt, es wird objektiv festgelegt, ab wann ein Mensch als wohlhabend gilt. Und ich glaube, das ist ein wesentlicher praktischer Unterschied. Aber von der Grundkonzeption natürlich ist es zwischen Christentum und Islam und allen anderen Religionen und, ich glaube, auch allen anderen, wie gesagt, humanistischen Gesellschaftskonzepten einfach die gleiche Grundidee, nämlich dass es Bedürftigkeiten gibt, und eine Art von Bedürftigkeit ist die materielle Bedürftigkeit, nämlich Armut. Und dass sozusagen Menschen füreinander eine gewisse Verantwortung tragen einerseits, ohne aber dass man sagt, alle Menschen müssten jetzt gleich reich oder gleich arm werden. Es gibt Unterschiede zwischen den Menschen. Sozusagen, der Islam geht immer davon aus, dass die Versorgungen, die Menschen haben, einfach unterschiedlich sind, und Reichtum ist sozusagen eine religiöse Prüfung und Armut ist eine religiöse Prüfung. Aber man versucht sozusagen, den Spalt zwischen Reich und Arm nicht zu groß werden zu lassen.
Kellner: Nun sind aber natürlich Muslime nicht unbedingt grundsätzlich bessere Menschen als Christen, Atheisten und andere.
Kassel: Auf keinen Fall, auf keinen Fall.
Kellner: Das heißt, im Alltag … Ich habe es ja gesagt, Sie haben lange in Syrien, auch in Saudi-Arabien und auch im Jemen dann mal gelebt, im Alltag gibt es das wie bei uns doch bei Muslimen doch sicherlich auch, dass sie sagen: Ja, das berechnet ihr jetzt so, aber ich bin eigentlich nicht reich. Ich habe Familie, ich kann doch nichts abgeben!
Kassel: Natürlich, natürlich. Und hier ist natürlich die individuelle Entscheidung: Richte ich mich danach oder richte ich mich nicht danach? Und das ist natürlich etwas, was jedem Menschen dann freisteht. Aber sozusagen die grundsätzliche religiöse Norm geht davon aus, dass das Mindestmaß davon, dessen, was ich sozusagen aufwenden muss für Arme, sind diese 2,5 Prozent, wenn ich selbst nach den Kriterien, die ich erwähnt habe, wohlhabend bin.
Kellner: Vielleicht werden ein paar Leute, egal welcher Religion sie angehören, jetzt nach diesem Gespräch mal ein bisschen nachrechnen! Martin Mahmut Kellner war das, Islamwissenschaftler über den Zakat, eine Art Spendengebot im Islam. Herr Kellner, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Kassel: Ich danke Ihnen, schönen Tag noch.
Kellner: Tschüs, schöne Grüße!
Kassel: Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.