Kurden in Syrien
Vor allem auch die Frauen in Nordsyrien, hier bei einer Trauerveranstaltung, seien bereit, bei einem türkischen Angriff ihre Heimat zu verteidigen. © imago images / Hans Lucas / Laurent Perpigna Iban
Bereit für Erdogans Angriff
24:06 Minuten
Seit Mai plant der türkische Präsident Erdogan den Einmarsch in den Norden Syriens. Die kurdische Selbstverwaltung soll zerschlagen werden, um Kriegsflüchtlinge dort anzusiedeln. Vor allem Frauen wollen das Projekt "Rojava" nicht kampflos aufgeben.
Junge Frauen mit Baseballkappe, ältere mit langen, bunten Kleidern. Daneben Männer mit Zigaretten in der Hand und ein Junge mit starken Verbrennungen an Armen und Hals. Mehrere Hundert Menschen laufen durch die Straßen Kobanês und schwenken gelbe, rote und grüne Fahnen – die Farben der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien.
„Lang lebe der Widerstand der syrisch-demokratischen Kräfte“ und „Terrorist Erdogan“ rufen die Demonstrierenden. Nur wenige Hundert Meter entfernt liegt die drei Meter hohe Grenzmauer, die Syrien von der Türkei trennt. Die Menschen sind aufgebracht, weil am Tag zuvor zwei Menschen bei einem türkischen Drohnenanschlag ums Leben gekommen sind und die Welt das kaum registriert, kritisiert ein Ladenbesitzer:
“Wir wollen so leben wie Leute in Europa, in Italien oder in Frankreich leben. Wir können das alleine nicht schaffen. Unser Problem ist, dass unser Feind Teil der NATO ist und schwere Waffen hat. Wir verurteilen alle Staaten, wegen denen das hier passiert.“
Der junge Mann ist Mitte 20. Auch er war auf der Demonstration gegen den türkischen Drohnenangriff. Wegen der Befürchtungen einer türkischen Invasion mit anschließender Besatzung möchte er seinen Namen nicht nennen. Er hat mehrere Läden und Angst vor Plünderung oder Zerstörung im Falle eines erneuten Krieges:
„Ich habe drei Läden in Kobanê. Mir bedeuten materielle Dinge aber nicht viel, Materielles lässt sich wieder erarbeiten. Das ist nur mein Job. Aber das Land kann nicht kommen und gehen. Wenn es uns genommen wird, ist es weg. Deshalb will ich niemals mein Land verlassen.“
Ziel: 30 Kilometer "Sicherheitzone" in Syrien
Der türkische Staatschef Erdogan möchte eine sogenannte Sicherheitszone zwischen der Türkei und Nordsyrien errichten. 30 Kilometer soll diese Zone in das Landesinnere Syriens reichen. Die 50.000-Einwohner-Stadt Kobanê – deren Einwohnerinnen und Einwohner einst für die Bekämpfung des IS weltweit gefeiert wurden – läge somit in türkischer Hand.
Was das bedeuten könnte, zeigt die nordsyrische Stadt Afrin. Die ist bereits seit 2018 unter türkischer Besatzung. Tausende Kurdinnen und Kurden sind geflohen, leben seither in Zeltstädten. Sie berichten von zahlreichen verschwundenen jungen Frauen und dass die Terror-Miliz IS wieder stärker geworden sei.
Und die kurdische Kultur werde unter türkischer Herrschaft unterdrückt, meint der Ladenbesitzer aus Kobanê: „Wir wollen unsere Sprache sprechen, auf unserem Land leben. Solange wir noch Blut in unseren Venen haben, werden wir für unser Land und für unsere Sprache kämpfen.“
„Unsere einzige Waffe ist unser Wille, weiterhin zu existieren und das Recht unser Land zu besitzen, das Recht unsere eigene Kultur zu leben. Das ist die Grundlage unseres Willens, das ist unser Land, das ist Kobanê.“
Zehn Jahre Selbstverwaltung der Kurden
Doch die Türkei lässt nicht locker in ihrem Kampf gegen die kurdische Selbstverwaltungsregion: In den vergangenen Monaten gab es in Nord- und Ostsyrien zahlreiche Drohnen-, Mörser- und Artillerieangriffe. Außerdem sollen türkische Söldner, einige mit IS- oder Al-Nusra-Vergangenheit, nur wenige Kilometer vor Kobanê entfernt auf den Einmarschbefehl warten.
„Die Angriffe, die ganzen Bedrohungen, die richten sich ganz konkret, ganz direkt gegen dieses demokratische Projekt, das wir hier aufgebaut haben", sagt die nordostsyrische Politikerin Îlham Ehmed. "Es geht darum, das Projekt zu vernichten, die ganzen Errungenschaften, die gemacht wurden zu zerstören.“
Ehmed ist die Vorsitzende des Exekutivorgans der Selbstverwaltung – also so was wie die Regierungschefin. Sie vertritt die Region auch international und kann auf eine lange Arbeit für die Eigenständigkeit zurückblicken: In den 1970er-Jahren bauten die Kurdinnen und Kurden ihren Widerstand gegen das Assad-Regime in Nordsyrien auf und riefen 2012 im Zuge des Arabischen Frühlings zur sogenannten Revolution von Rojava auf.
Zehn Jahre später organisieren sie sich in eigenen Kommunen, Räten und Kooperativen. Es gibt Wahlen, Frauen sind gleichberechtigt und alle ansässigen Ethnien sollen gleichermaßen integriert werden, also auch die assyrische, armenische oder arabische Bevölkerung.
„Die Region Nordostsyrien ist aktuell die sicherste Region in ganz Syrien. Deshalb kommen auch viele Geflüchtete hierher. Es ist die Region, wo es die meisten Möglichkeiten gibt, sicher zu leben, Arbeit zu finden und wo die Situation der Frau eine ganz andere ist. Die Frau wird hier in allen Bereichen des Lebens repräsentiert, was in Form einer Doppelspitze deutlich wird. Die Frau hat sich dadurch selbst neu kennengelernt.“
Errungenschaften der Frauen in Gefahr
Der Wandel ist enorm: Jahrzehntelang durfte in der Region weder Kurdisch in Schulen gesprochen, noch abseits von der Regimelinie gedacht werden. Selbst das Bäumepflanzen war verboten, weil das Regime in Damaskus den Norden und Osten Syriens als Kornkammer auserkoren hatte. Heute können die rund drei bis vier Millionen Menschen selbst in lokalen Räten die Entscheidungen treffen, die für ihr Zusammenleben relevant sind.
„Alle Menschen haben die Möglichkeit, zu partizipieren. Ein Angriff auf diese Region würde den Verlust all dessen bedeuten: Vor allem ein Verlust all der Errungenschaften der Frau, aber auch der Verlust, dass Menschen ihre eigene Meinung sagen und sich damit einbringen können. All das ist durch den Angriff bedroht.“
2014 gingen Bilder junger Frauen aus Kobanê um die Welt: Mutig lachend, mit geflochtenem Haar und einer Kalaschnikow in der Hand zogen sie in den Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat. Seit 2015 gilt die Stadt als befreit von den IS-Kämpfern. Ein Sieg auch dank der Fraueneinheit YPJ.
Von einer Frau getötet zu werden – davor haben viele IS-Männer Angst. Das könnte ihnen, laut ihres Glaubens, den Weg in den Himmel verwehren. Der Erfolg in Kobanê, der Erfolg gegen den IS gibt vielen Kämpferinnen bis heute Mut, ihr Territorium zu verteidigen. Auch gegen die geplante türkische Invasion.
Fraueneinheit YPJ bekämpfte den IS
„Wir haben mit unseren eigenen Händen den Islamischen Staat bekämpft und getötet und deshalb werden wir hier weiterkämpfen und auf jeden Fall niemals zurückweichen und sind für alles bereit“, sagt eine junge YPJ-Kämpferin, die sich Silvana Avesta nennt und seit fünf Jahren bei der Frauenmilitäreinheit ist.
Sie ist gerade zurück von einer Stellung nahe der türkisch-besetzten Gebiete. Dort gibt es immer wieder Artilleriebeschuss und andere Angriffe. Jetzt ruht sich die junge Frau erst mal von der Front aus, um im Falle des Einmarschs bereit zu sein.
„Im Krieg habe ich sehr wichtige Erfahrungen gesammelt: Ich habe den Feind kennengelernt, ich habe mich kennengelernt, ich habe die Willenskraft der Frau kennengelernt. Ich habe die Grausamkeiten des Kriegs kennengelernt, wie Freundinnen verletzt wurden und wir zu ihnen gegangen sind, um sie wieder rauszuholen.“
Mit Mitte 20 habe sie schon viele Freundinnen verloren, eine sei in ihren Armen gestorben. Sie schaut auf den Boden, dann in die endlose Wüstenlandschaft.
„Wenn man auf der Erde Kurdistans lebt, gibt es keinen Platz, an sich zu denken. Man denkt an die Gesellschaft, an das Volk, das hier lebt und diese Erde, die immer wieder bedroht wird“
Keine glückliche Kindheit
Besonders als Frau müsse sie das Leben, wie man es unter der Selbstverwaltung als Frau führen könne, schützen. Sie erinnert sich gut an die Zeit, bevor sie bei der Militäreinheit war: Sie wurde erst vom Assad-Regime und später von den Jihadisten unterdrückt.
„Was hatten wir für eine Kindheit? Unsere Kindheit war nicht glücklich. Unsere Kindheit war von Krieg gezeichnet. Und so habe ich mir schon als Kind gedacht, wenn ich groß bin, möchte ich helfen dieses Land zu verteidigen.“
Die junge Kämpferin lässt sich auch nicht von den aktuellen Bedrohungen entmutigen. Sie wirkt entschlossen.
„Wenn sie angreifen wollen, dann sollen sie angreifen. Wir sind dafür bereit: Wir sind an der Front bereit, unsere Gedanken sind dafür bereit, unsere Fähigkeiten haben wir entwickelt. Wir sind für jeden Angriff bereit.“
Mit NATO-Waffen gegen die Kurden
Die Begründung der Türkei für die geplante Invasion und die bereits durchgeführten Bombardierungen lautet: Terrorismusbekämpfung. Die türkische Regierung vermutet eine enge Verbindung der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien zu der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Außerdem stehen nächstes Jahr Wahlen in der Türkei an. Aber die wirtschaftliche Lage ist schlecht. Der Unmut in der Bevölkerung groß. Auch gegenüber den 3,8 Millionen Geflüchteten. Sie sollen deshalb massenhaft umgesiedelt werden – nach Nordsyrien – wo derzeit noch die Kurdinnen und Kurden leben. Die sollen mithilfe der NATO vertrieben werden, kritisiert die kurdische Politikerin Îlham Ehmed:
„Die Türkei nutzt seit vielen Jahren die NATO-Möglichkeiten aus. Sie bekommt sämtliche Waffen durch die NATO und all das, was sie durch die NATO erhält, setzt sie dann in verschiedenen Gebieten dafür ein, um gegen die Kurdinnen und Kurden Krieg zu führen. Und das mit der Begründung, gegen die PKK, die als Terrororganisation gilt, Krieg zu führen. Aber die Realität sieht anders aus: Es werden mit NATO-Waffen jeden Tag Kurdinnen und Kurden ermordet.“
Îlham Ehmed erzählt, dass die aktuellen, punktuellen Angriffe sich häufig gegen die kurdisch-militärischen Verteidigungskräfte richten, die als Partner in der Anti-IS-Koalition unter hohen Verlusten die weltweit gefürchteten Jihadisten besiegt haben: „Ein Angriff der Türkei würde auch zur Erstarkung des IS führen.“
Türkische Drohnenangriffe stärken IS?
Nach einem weiteren Drohnenangriff der Türkei treffen sich Tausende zu einer Trauerfeier auf dem Friedhof der Gefallenen nahe Hesekê.
Drei blumengeschmückte Särge werden durch die Menge getragen. Darin liegen: Jiyan Tolhildan, Roj Xabûr und Barîn Botan, alle drei Teil der kurdischen Frauenverteidigungseinheit YPJ. Getötet von einer türkischen Drohne auf dem Heimweg von einer Frauenkonferenz. Freunde, Bekannte, Angehörige und Mitglieder ihrer und anderer Einheiten sind gekommen. Auch Siyamend Ali, Sprecher der kurdischen Volksverteidigungsmiliz YPG:
„Jiyan war die Verkörperung der Selbstverteidigung im Kampf gegen den IS. Nicht nur Rojava, sondern die ganze Welt ist Jiyan und den Freundinnen etwas schuldig.“
Auch er sieht eine klare Verbindung zwischen den türkischen Drohnenangriffen und der Erstarkung der Terrormiliz.
„Diese Angriffe sind für den Islamischen Staat sehr positiv: Man muss verstehen, dass wenn hier Kämpferinnen und Kämpfer, die gegen den IS gekämpft haben, umgebracht werden, ist das natürlich ein großes Erfolgserlebnis für den Islamischen Staat. Das heißt: Diese Angriffe spielen dem Islamischen Staat, Al-Kaida und anderen islamistischen Kräften direkt in die Hände. Die können sich dann nämlich hier in Syrien weiter ausbreiten und das alles mithilfe der Türkei.“
Doch nicht nur YPG-Kämpfer oder YPJ-Kämpferinnen sterben bei den türkischen Drohnenangriffen. Immer wieder trifft es auch Zivilisten und Kinder. Die kurdischen Verteidigungseinheiten wünschen sich internationale Unterstützung. Gegen die Drohnenangriffe, gegen die geplante Invasion, sagt Siyamend Ali: „Es ist wichtig, dass der Luftraum gegen die Drohnen und Kampfflugzeuge gesperrt wird. Die Angriffe aus der Luft sind für Rojava eine Gefahr.“
Kurden: "Keine Waffen mehr an die Türkei"
Die Angriffe von verschiedenen Akteuren hätten aber auch eine solidarische Wirkung, meint der YPG-Sprecher:
„Die Bevölkerung hat schon viel Erfahrung und schon in vielen Momenten Widerstand geleistet: Sei es Al-Kaida, der Islamische Staat oder eben auch die türkische Besatzung. Diese Erfahrung hat dazu geführt, dass zwischen den verschiedenen Völkern hier – also Kurden, Arabern, Assyrern, Armeniern oder anderen Gruppen, sich eine Einheit gebildet hat.“
Um diese Einheit zu erhalten, wünscht sich der junge Ladenbesitzer aus Kobanê besonders von der internationalen Staatengemeinschaft: „Das Einzige, was wir uns von der Welt wünschen, ist, dass sie aufhören, Waffen an die Türkei zu verkaufen.“
Ähnlich sieht es auch Siyamend Ali. Trotz allem sei man vorbereitet: „Wenn es jetzt zu einem Krieg kommt, wird das bestimmt ein sehr langer Krieg werden. Aber die Bevölkerung hier sagt: Wir werden uns verteidigen, wir werden hierbleiben, wir werden unser Land nicht verlassen.“