Syrien ohne Assad
Als die in Syrien geborene Journalistin Hiba Obaid nach dem Sturz Assads die Sonnenallee in Berlin-Neukölln entlangläuft, gratulierten ihr die Menschen auf Arabisch mit den Worten "Mabrouk". Sie antwortete: "Ja, Assad ist weg." © IMAGO / Achille Abboud / IMAGO / Achille Abboud
Ich will, dass dieser Traum niemals endet
Nach dem Sturz Baschar al-Assads blickt unsere Redakteurin Hiba Obaid auf ihr Leben in Syrien und ihre Flucht aus ihrer Heimatstadt Aleppo zurück. Endlich traut sie sich wieder, von ihrer Heimat zu träumen – einer Heimat, die Platz für alle haben soll.
Auf meinem Weg nach Hause, in der Gegend von Neukölln nahe der Sonnenallee, halte ich mein Handy in der Hand. Ich fühle mich wie in einer Blase, getrennt von der Welt. Die Kälte ist beißend. Ich steige aus dem Bus und gehe Richtung Wohnung, unfähig mein Telefon für einen Moment loszulassen. Die Nachrichten überschlagen sich: Die Opposition ist auf dem Weg nach Damaskus.
Ich schlafe mit dem Handy in der Hand ein und wache auf durch die Geräusche der Feuerwerkskörper, die von der Sonnenallee herüberdringen. „Wurde Assad wirklich gestürzt?“, frage ich mich. Ich greife nach meinem Handy und sehe in Videos, wie Gefangene das berüchtigte Sednaya-Gefängnis, „das Schlachthaus Sednaya“, verlassen. Menschen laufen, schreien, und die Lieder der Revolution hallen durch die Straßen. Es ist der entscheidende Moment. Mit zitternden Händen schalte ich den Fernseher ein und rufe meine Mutter an: „Mama, es ist vorbei. Assad ist gestürzt.“
Kindheit und Studium in Aleppo
Mein ganzes bisheriges Leben zieht in diesem Moment an mir vorbei. Ich wurde in Aleppo geboren, als dritte Generation palästinensischer Flüchtlinge – ohne Staatsangehörigkeit. Wie alle palästinensischen Flüchtlinge in Syrien erhielten wir keine syrische Staatsbürgerschaft. Ich wuchs in Aleppo als Staatenlose auf. In einem System, das uns verbot, selbst die grundlegendsten Rechte wahrzunehmen, wie Eigentum zu besitzen oder zu reisen.
In Aleppo studierte ich dann auch - arabische Literatur. Schon in der Schule war ich immer die Beste, wenn wir Aufsätze schreiben sollten. Mein Lehrer sagte einmal zu mir: „Eines Tages wirst du Schriftstellerin sein.“ Und ich glaubte ihm. Ich begann mein Studium mit dem Traum, Journalistin zu werden. Doch mein Vater erlaubte mir nicht, Journalismus in Damaskus studieren. Er sagte: „Es gibt keinen freien Journalismus, solange der Diktator an der Macht ist.“ Und ich glaubte ihm.
Während meines Studiums spielte ich Theater an der Universität. Wir sangen und schrien auf der Bühne. Doch die meisten unserer Stücke wurden verboten, weil sie „nicht mit der Linie des Diktators“ übereinstimmten. Nach der Uni trafen wir uns in der Kulturbehörde Aleppos, um für unsere Stücke zu proben – oft aus der klassischen arabischen Literatur. Danach gingen wir in die Altstadt, aßen gerösteten Mais am Platz „Sahat al-Hatab“ und manchmal tranken wir Bier in der „Narange Bar“, bevor wir nach Hause gingen.
Im Jahr 2008 begann ich, Artikel über Kunst, Theater und Filme zu schreiben, über Poesie und arabische Geschichte. Doch meine Texte wurden immer wieder so umgeschrieben, dass sie „dem Diktator gefielen“. Mein Vater war stolz, als er meinen ersten Artikel in der Zeitung las. Er rahmte ihn ein und hängte ihn in seinem Büro auf. „Pass auf dich auf, mein Mädchen“, sagte er. Doch ich war nicht vorsichtig genug.
Flucht vor dem Geheimdienst Assads
Mit Beginn der Revolution in Aleppo gründete ich mit Freundinnen und Freunden eine Zeitschrift, die wir „Magazin der Revolution“ nannten. Unter Pseudonymen berichteten wir über das Universitätsleben, über die allgegenwärtige Polizei, über die Demonstrationen. Mein Name war „Nai Abu Matar“. Die kleine Zeitschrift war für mich der Anfang meines journalistischen Weges.
Der Diktator ließ nicht lange auf sich warten. Bald begann er die Universität Aleppo zu bombardieren. Mit jedem Bombenangriff wuchs der Freiheitsdrang der Menschen. Die Universität wurde ein Schlachtfeld: Tränengas in der Cafeteria, Geheimdienstagenten an jeder Ecke, Schreie und Prügel überall. Bei Demonstrationen bedeckte ich mein Gesicht mit einem Schal, der Haar und Gesicht halb verdeckte. Immer wieder mussten meine Freunde und ich rennen, um uns in Sicherheit zu bringen. Die Angst kam erst, als die Flugzeuge begannen, zu bombardieren. Dann suchten wir Schutz in Geschäften und Gebäuden, bis wir sicher nach Hause konnten.
Ich trug unsere Zeitschrift unter meiner Kleidung, als ich erfuhr, dass einer unserer Redakteure verhaftet worden war. Meine Mutter rief an und sagte: „Hiba, komm nicht nach Hause!“ Ich verstand ihre Worte nicht. Ich legte auf mit Herzklopfen und Angst. Ohne mich von meiner Familie und meinen Freunden zu verabschieden, floh ich in den Libanon. Seit diesem Tag habe ich Aleppo nicht mehr gesehen.
Später erfuhr ich, dass der Geheimdienst mich wegen „Aufwiegelung“ suchte. Mein Vater musste 500.000 syrische Lira – etwa 10.000 US-Dollar – an einen Offizier zahlen, damit ich nach Damaskus zurückkehren und mein Studium abschließen konnte. Während der zwei Monate in Damaskus, war mir klar: Das war das Ende. Ich werde Syrien danach nicht wiedersehen.
Als ich später in Berlin saß und meine Einbürgerungspapiere ausfüllte, fragte mich der Beamte, um meine Identität zu überprüfen: „Nennen Sie mir die Straße, in der Sie in Aleppo gewohnt haben.“ Ich antwortete sofort. Doch dann brach ich in Tränen aus: „Wissen Sie, was es bedeutet, jemanden nach einer Straße zu fragen, die er verlassen musste?“
„Das Land ist endlich frei von dem Tyrannen"
Jahrelang habe ich alles gemieden, was mich an Aleppo erinnerte. Am 8. Dezember 2024, dem Tag, an dem Baschar al-Assad gestürzt wurde, hat sich das geändert. In dem Moment, als ich davon erfuhr, dachte ich nur eines: „Das Land ist endlich frei von dem Tyrannen. Keine Bilder mehr von ihm in den Straßen, in den Universitäten, in den Schulen, in den Ämtern.“
Wie wird die Stadt jetzt aussehen ohne seine Bilder? Welche Farben werden in den Straßen zu sehen sein? Tausende Bilder schossen mir durch den Kopf. Unfähig still zu sitzen, ging ich mit den ersten Sonnenstrahlen auf die Sonnenallee. Die Menschen gratulierten mir auf Arabisch. „Mabrouk“, sagten sie. „Ja, Assad ist weg“, antwortete ich.
Wie wird die Stadt jetzt aussehen ohne seine Bilder? Welche Farben werden in den Straßen zu sehen sein? Tausende Bilder schossen mir durch den Kopf.
Während ich all die Nachrichten verfolgte, fragte ich mich immer wieder: „Wer sind diese Menschen, die plötzlich so stark geworden sind, dass sie Baschar al-Assad stürzen konnten? Warum haben sie 14 Jahre gewartet? Wie konnte das so schnell geschehen? Wer ist al-Dschaulani und was will er?“
Ich schrieb einem Freund, den ich von der Universität in Aleppo kannte: „Komm, wir treffen uns!“. Es war neun Uhr morgens. Zusammen hatten wir früher an Demonstrationen teilgenommen. Ich fragte ihn: "Kannst du dir das vorstellen? Wir haben eine Revolution gemacht, und sie hat gesiegt.“
Wir gingen zusammen durch die Straßen von Berlin, schrien die Parolen, die wir einst auf den Demos in Aleppo gerufen hatten. Wir setzten uns auf den Bordstein und schauten uns auf dem Handy Videos aus Syrien an. Wir sahen, wie Gefangene aus den Gefängnissen kamen – manche ohne Hände, ohne Beine, Frauen und Kinder, die nicht wussten, was es bedeutet, außerhalb der Gefängnismauern zu leben. Wir sahen Bilder von Leichen aus dem Gefängnis, suchten unter ihnen nach unseren Freunden. Wir weinten viel, erinnerten uns an die Vermissten und diejenigen, die gestorben sind, ohne diesen Moment mit uns erleben zu können.
Später gingen wir in eine libanesische Bar, in der Freunde feierten. Der Besitzer sagte: „Heute ist der Alkohol gratis. Heute feiern wir nur!“ Wir sangen, weinten und umarmten uns immer wieder. Ab heute wird es keine Gefängnisse mehr geben. Ab heute wird niemand mehr in Haft schlafen.
Träumend zurück in Kindheit und Heimat
Ich wollte nicht nach Hause gehen. Ich wollte diesen Traum, dieses Hochgefühl verlängern. Ich träumte von einem Haus, das ich mir am Meer in Latakia kaufen würde. Ich erinnerte mich an all die Sommerreisen, die meine Mutter mit uns von Aleppo ans Meer unternommen hatte. Ich träumte davon, das Grab meiner Großmutter im palästinensischen Flüchtlingslager in Aleppo zu besuchen, das Haus meines Großvaters zu sehen und auf dem Dach zu schlafen, die Sterne zu zählen, wie ich es als Kind getan hatte.
Ich träumte von all den Nächten, in denen wir in unserem Haus in Aleppo sangen und tanzten bis der Morgen kam, besonders in den Nächten vor dem Eid (dem Zuckerfest, mit dem der Fastenmonat Ramadan endet; Anm. d. Red.), wenn die ganze Familie zusammenkam. Eine lange Zeit hatte ich nicht mehr geträumt. Ich hatte mir verboten, Bilder von Aleppo zu sehen – von der Stadt, die im Rauch erstickte. Es war schwer zu ertragen, die Straßen, durch die ich gelaufen war, brennen zu sehen, die Häuser, in denen ich gelebt hatte, zerstört.
Doch jetzt sehe ich alles. Ich bin gegenwärtig – im Kopf, im Geist und in meiner Vorstellungskraft. Ja, ich möchte träumen, auch wenn der Traum schwer ist. Ich will von einer Heimat träumen, die Platz für alle hat. Ich will, dass dieser Traum niemals endet.
Ich will, dass dieser Traum niemals endet!