Syriens Opposition

Der letzte Widerstand gegen Assad

23:03 Minuten
Soldat der oppositionellen Rebellengruppe "Jaysh al-Izza" in Idlib.
Schon seit acht Jahren herrscht in Syrien Krieg. © picture alliance / dpa / APA / ZUMA Wire / Mouneb Taim
Von Marc Thörner · 20.08.2019
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Machthaber Assad hat dank der Hilfe aus Moskau und Teheran weite Teile Syriens wieder unter seiner Kontrolle. Die Bilanz im neunten Kriegsjahr: 300.000 Tote, Millionen auf der Flucht und eine kaum noch auffindbare Opposition. Eine Suche.
Das Hauptquartier des "Syrischen Zivilschutzes", wie die Weißhelme formal heißen, liegt längst im Ausland. Nach Istanbul soll ich kommen. Den genauen Standort wollen sie mir nicht schriftlich schicken. Ihre Arbeit ist gefährlich. 2013 im Bombenhagel begann ihre Arbeit: Als Freiwillige haben die Weißhelme in den syrischen Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, Kriegsopfer geborgen und ins Krankenhäuser gebracht.
Mitglieder der "Weißhelme" bringen ein Opfer nach einem Luftangriff aus einem getroffenen Gebäude.
Mitarbeiter der Weißhelme bergen im Juli in der Provinz Idlib einen Verletzten nach einem Luftangriff.© picture alliance / dpa / Anas Alkharboutli
Einer der Aktivisten ist zu meinem Hotel gekommen. Nachdem wir uns gegenseitig unserer Identitäten versichert haben, führt er mich Richtung Bosporus.
Die Räumlichkeiten der "Syrischen Zivilschützer" befinden sich in einer Nebenstraße im Zentrum der türkischen Metropole, eingerahmt von Moscheen und kleinen Märkten.

Rettende Opposition: Weißhelme bergen Kriegsopfer

Es sieht aus wie in einer ehemaligen Werkhalle oder einem Loft. An der Wand hängen großflächige Fotos, die zeigen wie Weißhelm-Sanitäter Kinder aus zerbombten Häusern tragen. Und daneben: internationale Auszeichnungen. 2016 waren die Weißhelme für den Nobelpreis nominiert – im selben Jahr erhielten sie den sogenannten alternativen Nobelpreis. Entgegen nahm den ein gedrungener, noch junger Mann mit Halbglatze, der heute sportliche Kleidung trägt:
"Ich bin Raed Saleh, Vorsitzender der syrischen Zivilschutzorganisation, bekannt als Weißhelme."
Finanziert werden Saleh und seine Mitarbeiter unter anderem durch Hilfsgelder der USA, Deutschlands und Kanadas. Das syrische Regime behauptet: Die Weißhelme würden nur vortäuschen, Kriegsopfern zu helfen. In Wirklichkeit assistierten sie den Dschihadisten bei Kriegsverbrechen. Und sie schmuggelten Islamisten und Terroristen nach Europa ein.
"Wir nehmen Anschuldigungen des syrischen Regimes nicht ernst. Seit Jahren offenbart es sich als kriminell, es tötet in Syrien die Zivilisten. Viele internationale Berichte dokumentieren diese Gewalt. Und in seinen Statements widerspricht sich das Regime. Allein dadurch hat es bereits die Glaubwürdigkeit verloren."
Zu Salehs Organisation zählen laut Schätzungen rund 3000 Helfer. Sie arbeitet mitten unter dschihadistischen Guppen, unter Kämpfern, die ihrerseits schwere Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begehen: Entführungen, willkürliche Tötungen, mittelalterliche Körperstrafen. Haben die Weißhelme Gruppen wie die frühere "Al-Nusra-Front" oder die "Armee des Islam" dabei beobachtet? Und wenn ja, was tun sie gegen diese Form des Terrors?
"Wir wissen nichts darüber. Unsere Arbeit besteht darin, Menschen zu retten, die durch Luftschläge verletzt wurden. Über solche Verbrechen können wir Auskunft geben, nicht über andere. Vielleicht können das andere Organisationen."
"Weißhelme" räumen Schutt vor einem von einem Luftangriff zerstörten Gebäude in Idlib (Syrien).
Weißhelme räumen Schutt vor einem zerstörten Gebäude in Idlib: Etwa 3000 Helfer gehören zu der Organisation.© picture alliance / dpa / Anas Alkharboutli
Saleh beharrt darauf: Der Terror gehe vom Assad-Regime aus. Denn dessen Truppen hätten gezielt die eigene Zivilbevölkerung angegriffen und täten dies weiterhin:
"In Aleppo zum Beispiel hat das Regime viele hochentwickelte Waffen eingesetzt, viele Raketen. Angeblich ging es darum, die unterirdischen Bunker zu zerstören. Aber viele Zivilisten wurden dadurch verstümmelt. In der Stadt Khan Shaykhun setzte die syrische Armee zum Beispiel Sarin-Gas ein. Auch 25 Mitarbeiter unserer Organisation fielen diesem Gift zum Opfer."
Wo sieht Saleh die zukünftigen Aufgaben der Weißhelme, jetzt wo Assad rund zwei Drittel Syriens wieder unter seiner Kontrolle hat? Noch immer in der Betreuung der Notleidenden. Viele Flüchtlinge, befürchtet er, würden nie wieder integriert werden.
"Diesen Menschen wird es nicht erlaubt, ihre Häuser wieder aufzubauen. Viele befinden sich noch immer in den Einrichtungen, die das syrische Regime als vorläufige Unterkunft bezeichnet. Viele von ihnen dürfen nicht in ihre Gegenden zurückkehren. An ihrer Stelle haben sich dort Assads Hilfstruppen angesiedelt: schiitische Milizionäre mit ihren Familien."

Politische Opposition: Syrischer Nationalrat nicht erreichbar

In Istanbul geht meine Suche weiter. Hier soll auch die politische Opposition sitzen. Relativ schnell als der Volksaufstand in Syrien begann, gegen Präsident Assad und seine Baath-Partei, formierte sich der "Syrische Nationalrat", eine Art Dachverband der Anti-Assad-Kräfte.
In ihm organisierte sich ein breites Spektrum von teils säkular, teils religiös orientierten Organisationen und Persönlichkeiten. Einflussreichste Gruppe sind die syrischen Muslimbrüder. Sie hatten bereits in den 1980er-Jahren gegen den Vater des jetzigen Herrschers eine bewaffneten Revolte gewagt, die damals mit Zehntausenden von Opfern niedergeschlagen wurde.
Schon bald nach seiner Gründung 2011 wurde der "Syrische Nationalrat" von Frankreich anerkannt. Er hatte eine Exilregierung mit Schattenministern und Zuständigkeiten, die allerdings in rascher Folge wechselten. Wo sind sie heute und wie stellen sie sich die Zukunft vor?
Am Telefon versuche ich, einen Sprecher des "Syrischen Nationalrats" zu erreichen. Vergeblich. Mitarbeiterinnen vertrösten mich, geben mir neue Telefonnummern, unter denen entweder niemand antwortet oder sich niemand für zuständig erklärt.
Das Stochern im Nebel führt vor Augen, wie handlungsunfähig der Rat inzwischen längst geworden ist.

Die Opposition im Ausland

Als einheitliche Bewegung erscheint er nur noch, wenn man mit einigen seiner europäischen Repräsentanten spricht, wie dem Deutsch-Syrer Sadique al Mousllie.
"Die Syrer sind auf die Straße gegangen wegen ihrer Revolution. Es ist eine echte Volksrevolution von allen Schichten der Gesellschaft, von allen Ethnien und Konfessionen der Gesellschaft. Muslimisch, christlich, sunnitisch, schiitisch, alawitisch und auch Drusen sind dabei."
Sadique al Mousllie gehört dem "Syrischen Nationalrat" seit 2012 an. Seit vielen Jahren lebt er in Deutschland, arbeitet als Zahnarzt in Braunschweig. Worin also besteht das politische Programm des Nationalrats?
"Die wesentlichen Forderungen der Opposition und auch der syrischen Bevölkerung sind: einfach in Würde zu leben, sich frei äußern zu können, die eigene Meinung vorbringen zu können, ohne Angst vor Repressalien, ohne unterdrückt zu werden oder vielleicht auch über Nacht verhaftet zu werden."
Der Zahnarzt Sadiqu Al-Mousllie sitzt am Schreibtisch
Der aus Syrien stammende Zahnarzt Sadiqu Al-Mousllie lebt in Braunschweig und ist Mitglied des oppositionellen "Syrischen Nationalrats".© picture alliance / dpa / Stefan Jaitner
Der kleinste Gemeinsamer Nenner der vielschichtigen Syrischen Nationalrates ist die Ablösung der herrschenden Familie und ihrer Elite, die sich vor allem aus der alawitischen Minderheit zusammensetzt.
"Denn diese Minderheit, die jetzt gerade regiert, kann auch nicht länger regieren, wenn danach friedlich noch mal zusammengelebt wird, beziehungsweise auch freie Wahlen vielleicht unter UN-Beobachtung stattfinden können."
Doch welches politische System, welche Art von Parlamentarismus soll es in Syrien geben? Und was ist mit den radikalen Dschihadisten, die sich auch als Opposition begreifen? Darüber ist von Sadique al Mousllie nichts zu erfahren.
"Es gibt keine Unterstützung für al Kaida oder andere Extremisten. Das ist eine Fälschung des Regimes."

Militärische Opposition: fast nur Extremisten übrig

August 2012. Der Mann, der sich Colonel Riad nennt, ist glattrasiert – bis auf den Schnurrbart, der zum Markenzeichen arabischer Offiziere gehört. Von der Türkei aus koordiniert er Aktionen gegen Assad und für die Freiheit. So sagt er es damals einer westlichen Reporterin des Fernsehkanals Journeyman TV.
"Wenn das Regime fällt, dann werden wir die Macht für eine Übergangszeit ausüben, so lange, bis Wahlen stattfinden und eine demokratische Regierung die Geschäfte übernimmt."
Es sollte anders kommen. Das syrische Regime konnte mit Unterstützung von Russland und vom Iran die drohende militärische Niederlage abwenden. Über die Jahre verlieren die Rebellen immer mehr an Boden. Im Mai 2018 bin ich dabei, als das Regime in der Hauptstadt Damaskus die letzten Viertel der Rebellen zurückerobert.
Hinter Schuttbergen bewegen wir uns vorsichtig auf die Frontlinie vor. Dahinter beginnt das Schussfeld der Rebellen, erklärt mein Begleiter.
Sichtbar ist von hier aus das schon aufgegebene Scharia-Gericht, das die Rebellen im Viertel unterhielten. Über dem Eingang prangt das Logo der Terror-Miliz "IS". Ihre Kämpfer sind die letzten, die noch Widerstand leisten. Das Schild spricht Bände.
Anfangs war die militärische Opposition in Syrien noch unter der Kontrolle säkular orientierter Offiziere, die sich vom Regime losgesagt haben. Acht Jahre später ist sie so gut wie vollständig in die Hände von Extremistengruppen übergegangen.
Viele von ihnen, so sagt es mir ein Offizier des Regimes, hätten bereits Abkommen mit der syrischen Regierung geschlossen und seien anschließend nach Idlib abgezogen. Die letzte Großstadt, die noch von oppositionelle Kämpfern gehalten wird - im Norden Syriens.
Rauch steigt nach einem Luftangriff in der Nähe von Idlib (Syrien) auf.
Seit acht Jahren herrscht im Land Krieg.© picture alliance / dpa / Anas Alkharboutli
Dass der Widerstand am Ende in die Hände von Terrorgruppen überging, hat unterschiedliche Gründe. Vor allem lag es an der Zurückhaltung des Westens, sich noch einmal mit ungewissem Ausgang in der Region zu engagieren.
Arabische Golfstaaten waren weniger zögerlich, sie rüsteten bald Dschihadisten aus, Milizen wie etwa die "Armee des Islam". Diese Gruppierungen wurden militärisch immer mächtiger und zahlreicher.
Anders als säkular orientierten Einheiten, wie die "Freien Syrischen Armee". Ihr fehlte es nach anfänglichen Erfolgen an nachhaltiger Unterstützung, Zulauf und einer klaren Zielstellung. Wieviele Kämpfer sie FSA noch hat, ist unklar. Mir erzählen Soldaten des Regimes im vergangenen Jahr, dass die "Freie Syrische Armee" inzwischen die Seiten gewechselt hat und gemeinsame Sache mit dem Assad-Regime macht.
Als Beleg zeigen sie mir auf ihren Handys Bilder, die die einstige Revolutionstruppe wenige Wochen vorher selbst ins Netz gestellt hat: Siegesfeiern aus dem nordsyrischen Afrin. Dort sei die "Freie Syrische Armee" eingerückt, in Absprache mit Machthaber Assad. Um die Einheit Syriens gegen die Kurden zu verteidigen, heißt es.

Zivile Opposition: Demokraten fast ohne Hilfe aus dem Westen

Ich bin bei Sophie Bischoff. Die Leipzigerin hat 2011 die Organisation "Adopt a Revolution" gegründet. Darüber sammelt sie Spenden, um demokratisch und weltlich orientierte Projekte der syrischen Opposition zu unterstützen, zum Beispiel ein Frauenzentrum in Idlib, dessen Leiterin Huda sie gerade per WhatsApp kontaktiert.
"Alle um mich herum sind Demokraten. Ich leite in Idlib ein Zentrum, das sich mit den Fragen der Gleichberechtigung befasst, der Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen. Die Leute, die hierher gekommen sind, wollen allesamt eine demokratische Gesellschaft. Es ist falsch, ganze Orte in Syrien danach zu bewerten, wer dort die militärische Kontrolle ausübt. Die Islamisten haben in Idlib zwar die Waffen. Dennoch gibt es in meinem Umfeld sehr viele Menschen, die sich freie Wahlen wünschen und Bürgerrechte."
Diese Beobachtung teilt auch die 30-jährige Sophie Bischoff von "Adopt a Revolution", die mit vielen zivilen Organisationen in Idlib in Kontakt steht. Es sei ein Vorurteil, dass die Oppositionellen alle Islamisten oder Dschihadisten seien.
"Vielmehr ist es so, dass die bewaffneten Gruppierungen islamistisch ausgerichtet sind, der Großteil der Zivilbevölkerung, die in den oppositionell gehaltenen Gebieten – mittlerweile hauptsächlich Idlib – lebt, völlig andere Ansichten hat und sich in Opposition stellt, auch in Konflikt steht mit islamistischen Milizen, die eben aufgrund ihrer Bewaffnung dort die Vorherrschaft haben – aber nicht, weil sie so viel Unterstützung durch die Zivilgesellschaft oder die Menschen, die dort leben, erfahren."
Inzwischen dominiert eine islamistische Organisation auch die Verwaltung in Idlib: das Dschihadistenbündnis "Hayat Tahrir a-Scham". Und das hat ähnliche Gründe wie die Islamisierung der militärischen Opposition. Weil die Demokraten aus dem Westen sich nicht genügend engagierten, nahmen viele der Oppositionellen mehr und mehr die Hilfe der konservativen Golfstaaten an. Aber das Assad-Regime sei nicht besser und nutze radikale Kämpfer aus dem Iran, kritisiert Huda – die Leiterin des Frauenzentrums in Idlib.
Auch Assad habe ein weltlich orientiertes Syrien in Wirklichkeit längst aufgegeben.
"Wenn man sich Assads Verbündete ansieht, kann man nicht gerade behaupten, dass sein Regime säkular orientiert ist. Wer gezielt schiitisch-iranische Milizen vorschickt, um sunnitische Orte zu besetzten, bedient sich ja des religiösen Elements. Die Truppen, die Rebellengebiete zurückerobern, gehören ja oft gar nicht zur syrischen Armee, sondern sind schiitische Milizen. Und es gibt genügend Beweismaterial wie Videos, auf denen man die religiösen Kampfparolen hört, mit denen diese Schiitengruppen auf syrischem Boden vorgehen."
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