Syrisch-orthodoxe Gemeinde in Berlin

Spirituelle Heimat für Geflüchtete

08:36 Minuten
Ein Pfarrer steht vor dem Altar, um ihn herum vier Ministranten.
Gottesdienst in der syrisch-orthodoxen Kirche Mor Izozoel in Berlin: Pfarrer Petros Karaca gibt auch Unterricht in Altaramäisch, der Sprache, die Jesus gesprochen haben soll. © Deutschlandradio / Gunnar Lammert-Türk
Von Gunnar Lammert-Türk · 09.10.2022
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Religiöse Gemeinschaften sind oft ein wichtiger Anlaufpunkt für Migrantinnen und Migranten. Die gemeinsame Tradition verbindet, aber sie löst nicht alle Probleme. Das lässt sich auch in der Berliner syrisch-orthodoxen Gemeinde Mor Izozoel beobachten.
Sonntagmorgen in der syrisch-orthodoxen Kirche Mor Izozoel im Berliner Stadtteil Wedding. Seit 8 Uhr 30 wird hier die dreistündige Liturgie zelebriert. Zwei Priester und eine Vielzahl von Altardienern singen Hymnen und Gebete: Vor den drei großen Bögen, die den Altarbereich vom Kirchenschiff abtrennen und vor dem Altar, der hinter dem prächtigsten mittleren Bogen zu sehen ist, umgeben von einem Baldachin.

Gottesdienst in der Sprache Jesu

Unterstützt werden sie bei ihren kunstvollen Gesängen von Frauen und Männern, die jeweils links und rechts vor der Treppe zum Altarbereich stehen. Einer von ihnen ist Simon Can. „Unsere Liturgie ist nach wie vor exakt so wie vor zweitausend Jahren", sagt er. "Also, wir könnten einfach ein Buch nehmen, egal aus welcher Zeit, wir könnten die Liturgie singen, wir könnten sie lesen und verstehen. Darauf sind wir sehr stolz.“
Die Sprache der Liturgie ist Altaramäisch. Schon Jesus soll sie gesprochen haben. Unter den Aramäern im Grenzgebiet der heutigen Staaten Türkei, Syrien und Irak wird sie bis heute als Sprache religiöser Hymnen und des Gottesdienstes bewahrt.

Hilfe durch die Landsleute

Nach Deutschland kamen die ersten Aramäer in den 1960er-Jahren, viele von ihnen aus der Gebirgsgegend Tur Abdin im Südosten der Türkei. Auch die Mitglieder der Berliner Gemeinde Mor Izozoel stammen mehrheitlich von dort. Im Dorf Kfarze, in dem viele von ihnen zu Hause waren, ist dem heiligen Izozoel eine Kirche geweiht.
Hierzulande ist Izozoel eher unter seinem lateinischen Namen bekannt: Pankratius, einer der Eisheiligen. Für die Aramäer von Mor Izozoel ist er eine Brücke zwischen alter und neuer Heimat. Wer seit den 1960er-Jahren nach Deutschland kam, konnte auf die Unterstützung durch die Landsleute und Glaubensgeschwister bauen, die schon hier lebten. Das gilt auch für jene, die bei der letzten großen Fluchtmigration 2015 aus Syrien und dem Irak kamen.

Gemeinsame Migrationserfahrung

Wir waren doch selber in dieser Situation in den 60er-Jahren", sagt Simon Can. "Das bedeutet, wir wissen genau, was diese Menschen durchmachen. Wir wissen genau, was diese Menschen brauchen. Praktische Dinge bis zu seelsorgerischen Dingen und so weiter. Das alles ist uns definitiv gegenwärtig.“
Simon Can kam mit seinen Eltern und Geschwistern 1976 nach Berlin, aus einer bäuerlichen Gegend, ohne Kenntnis der neuen Sprache und Gesellschaft. Damals war er drei. Er schaffte es mit Fleiß und Zähigkeit, Zahnarzt zu werden. Dabei half ihm die Solidarität unter den Aramäern.
Porträt von Simon Can.
Simon Can kam 1976 als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland. Die Solidarität in der aramäischen Glaubensgemeinschaft half ihm, in der neuen Heimat Fuß zu fassen.© Deutschlandradio / Gunnar Lammert-Türk
Vier syrisch-orthodoxe Gemeinden gibt es in Berlin. Sie kümmern sich gemeinsam um die Gläubigen, die ab 2015 vorrangig aus Syrien dazugekommen sind. Die Gemeinde Mor Izozoel hat dabei nicht die tragende Rolle. Aber auch sie sieht ihre Aufgabe darin, die Gemeinschaft in Kultur und Glaube zu stärken.

Sprache schafft Verbindung

Dazu ist vor allem die Sprache als einigendes Band wichtig. Pfarrer Petros Karaca vermittelt sie: „Ich habe so 22 Jugendliche, Mädchen und Jungs, die kommen in der Woche dreimal zum Lernen. Und jedesmal zwei Stunden. Sie lernen Altaramäisch schreiben und lesen.“
Im Alltag sprechen die Jugendlichen Neuaramäisch und Deutsch. In die Gemeinde kommen sie nach der Schule, um sich die Sprache der jahrhundertealten Hymnen und Gebete und der gottesdienstlichen Liturgie anzueignen. In ihrer alten christlichen Kultur fühlen sich die Aramäer, die schon länger in Berlin leben, mit den seit 2015 neu Hinzugekommenen verbunden. Und so sitzen Jugendliche aus beiden Gruppen bei Pfarrer Karaca zusammen, um Altaramäisch zu lernen.

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Der in Deutschland geborene 17-jährige Altardiener Julius Göze sieht darin ein Zeichen dafür, dass der Glaube verbindet: "Durch den Glauben lernt man neue Leute kennen, was wir auch gerade schon hatten, mit den syrischen, arabischen Christen. Ohne den Glauben würden wir uns zum Beispiel nicht kennen, würden wir uns nicht in der Kirche sehen, hätten wir keinen Kontakt zu denen.“

Bildung als Überlebensformel

Der gemeinsame Unterricht im Altaramäischen soll die Verbundenheit befördern. Denn so stark das Band der religiösen Tradition auch sein mag, die neu dazu Gekommenen haben andere Gewohnheiten aus Syrien und dem Irak mitgebracht. Auch religiöse. Um sie im Gottesdienst eigens anzusprechen, haben die orthodoxen Aramäer in Berlin in ihre Liturgie einen kleinen Bestand arabischer Gesänge aufgenommen.
Einen Umstand aber gibt es, der orthodoxe Aramäer unabhängig vom heutigen Herkunftsland prägt: die jahrhundertealte Erfahrung, sich als religiöse Minderheit in einem feindseligen Umfeld behaupten zu müssen. So wurden sie 1915 im Zuge des Völkermords der Jungtürken an den Armeniern verfolgt. Dabei starb Simon Cans Großvater. Auch danach kam es zu Gewalt gegen die Aramäer.
„Bei uns war der äußere Feind immer da“, sagt Can. „Deshalb wussten wir: Es funktioniert nur über Bildung, dass wir uns behaupten können, und über Fleiß. Und das bedeutet, egal, wie hungrig eine Familie war, hat sie immer versucht, ein, zwei ihrer Kinder ins Kloster zu schicken, damit der gebildet wird."

Missverständnisse mit Neuankömmlingen

Im Kloster werde nicht nur kirchliche Bildung vermittelt, betont Can: "Man lernt Lesen, Schreiben, Mathe - diese ganzen Grundfächer. Man lernt dann vielleicht Englisch dazu und so weiter, damit man aus dieser Situation rauskommt. Und das ist tief verwurzelt. Das kriegt man auch nicht raus.“
Fleiß und Zielstrebigkeit und das Bemühen, möglichst gut und umfassend gebildet zu sein, hat den Aramäern über Jahrhunderte hinweg ihr Bestehen gesichert. Auch die Gemeinden in Deutschland sehen sich in dieser Tradition. Wie stark die Neuankömmlinge davon geprägt sind, wird sich zeigen. Dass sie hinsichtlich sozialer und gesellschaftlicher Verhaltensweisen und Vorstellungen nicht immer mit den schon länger hier Lebenden übereinstimmen, deutet Selva Can an:
„Die Werte, die wir hier haben, die sind zwar denen auch geläufig, aber nicht in dem Maße, wie wir sie hier leben. Frauen und Männer sind gleich, Kinder werden genauso angehört, Ältere geschützt. Das ist denen nicht so ganz geläufig. Und ich denke, dass da auch kleine Reibereien gekommen sind, wo man dann erklären musste, dass hier eben andere Systeme funktionieren und gelten.“

Verbunden durch den gemeinsamen Glauben

Die grundlegende Verbundenheit scheint das nicht in Frage zu stellen. So jedenfalls sieht es Simon Can. Für ihn steht diese über allen Differenzen: „Wenn jemand an unsere Tür klopft, dann ist er willkommen genauso, als wäre das direkt aus unserem Dorf. Denn uns verbindet in erster Linie die Religion.“
Religion und die von ihr geprägte Kultur sind das stärkste Band zwischen den hier heimisch gewordenen Aramäern und den neu Dazugekommenen. Bei den Aramäern, die ab den 1960er-Jahren nach Deutschland kamen, haben sie sich als Rückgrat auf dem mühevollen Weg der Integration bewährt.
Und dabei hat die altehrwürdige Sprache des Altaramäischen sie ständig begleitet, die Sprache ihrer religiösen Hymnen. In einem Lobgesang heißt es: "In deinem Licht sehen wir das Licht, Jesus, der du das Licht des göttlichen Vaters bist."
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