Auf dem Sprung
Etwa 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge hat die Türkei seit Ausbruch des Konflikts in ihrem Nachbarland aufgenommen. Zu fremdenfeindlichen Zwischenfällen kommt es trotz dieser großen Zahl selten. Dennoch wächst die Zahl der Syrer, die sich in die EU durchschlagen.
"Manchmal schlafen die Leute hier mitten auf dem Fußweg. Vor allem gegen Abend wird es voll. Alle haben große Taschen dabei. Aber gerade gestern sind mehr als 1000 abgereist. Die Schlepper haben sie an die Küste gebracht. Jetzt ist es ruhig hier."
Kaffeeverkäufer Aziz aus Syrien zieht die Augenbrauen zusammen. Dass es auf dem Platz im Zentrum Istanbuls heute ruhig ist, ist schlecht für sein Geschäft. Seit mehr als zwei Jahren verkauft der gepflegte ältere Herr syrischen Kardamonkaffee an die Passanten, die sich trotz allem auch heute eingefunden haben. Statt Türkisch, sprechen die meisten von ihnen Arabisch. Fast alle haben riesige Rucksäcke auf dem Rücken, einige tragen Schwimmwesten oder Schwimmflügel in der Hand.
Ein junger Syrer steht an der Fontäne, die in der Mitte vor sich hin plätschert, und raucht eine Zigarette. Dieser Platz, der Aksaray Meydani, ist nicht einfach irgendein Platz in Istanbul, erklärt er freundlich:
"Aksaray ist das Zentrum der Schlepper in der Türkei. Fast alle treffen ihre Kunden hier. Setz dich in irgendein Café hier, bestell einen Cay – und schon spricht dich einer von ihnen an. So einfach ist das."
Dervish aus Damaskus zeigt auf die vielen kleinen Teehäuser, die den Platz umsäumen. Vor allem Männer sitzen davor an den kniehohen Tischchen, rauchen Wasserpfeife oder trinken Cay. Die Schlepper, weiß Dervish, erkennt man am besten an den alten Handys, die sie benutzen. Einfache Modelle, die sie in regelmäßigen Abständen samt Simkarte entsorgen.
In einem der Teehäuser sitzt Bilal aus Aleppo, rührt nachdenklich in seinem Glas. Die grauen Haare, die tiefe Falte zwischen den buschigen Augenbrauen – der 45-Jährige sieht älter aus als er ist.
"Seit Monaten schuften und sparen wir für die Reise nach Deutschland, aber es reicht einfach nicht",
seufzt er. Fast neuntausend Dollar will der Schlepper von ihm haben, mit dem er eben verhandelt hat.
"Ich habe sechs Söhne und eine Tochter aus zwei Ehen. Dazu meine Frau und ich. Neun Leute insgesamt. Ich muss einen guten Preis aushandeln. Erst wollte der Schlepper 1200 Dollar pro Person, am Ende 950. Aber das ist immer noch zu viel."
In Griechenland werden Flüchtlinge schneller abgefertigt
Dunkle Ringe liegen unter Bilals freundlichen braunen Augen. Wege nach Europa, das weiß jeder in Aksaray, gibt es viele. Die Route über Bulgarien ist die günstigste Variante, dauert aber oft Wochen. In Griechenland werden die Flüchtlinge sehr viel schneller abgefertigt, doch die Landgrenze ist inzwischen fast unüberwindbar. Bleibt der Weg mit dem Schlauchboot über die griechischen Inseln.
"Das ist ein Todestrip. Wenn du Glück hast, dauert es nur 45 Minuten, aber in denen stehst du Auge in Auge mit dem Tod. Welcher Syrer kann schon schwimmen? Die meisten von uns haben das Meer noch nie gesehen."
Eine gute Stunde dauert die Fahrt vom Aksaray Meydani in die Außenbezirke Istanbuls. Hier – zwischen billigen Fastfoodrestaurants, Schnäppchenmärkten und Handyläden – lebt Bilal mit seiner neunköpfigen Familie in einer winzigen Kellerwohnung.
Eine nackte Glühbirne verströmt kaltes Licht, die ausgefransten Sofas und der alte Fernseher, die das Wohnzimmer fast komplett ausfüllen, sind Geschenke der türkischen Nachbarn. Bilal versteht sich gut mit ihnen. Als Angehörige der turkmenischen Minderheit von Syrien hat seine Familie nicht mal ein Sprachproblem in Istanbul. Ihr Türkisch ist so gut wie ihr Arabisch. Dennoch will sie weg. Bilal fischt einen eingeschweißten Ausweis unter dem Sofakissen hervor.
"Sie haben uns diesen Gast-Ausweis hier gegeben. Aber nur mit einem echten Ausweis hast du soziale Rechte in einem Land. Nur damit kannst du dich versichern, kannst legal arbeiten, kannst einen Kredit aufnehmen, ein Haus bauen und in Rente gehen. Mit diesem Ding hier kannst du nichts davon."
2,5 Millionen Syrer hat der türkische Staat bisher ins Land gelassen. Täglich werden es mehr. Konflikte gibt es dennoch erstaunlich wenige. Immer wieder betont die Regierung in Ankara, dass die Flüchtlinge Gäste seien. Doch eine Zukunftsperspektive bietet sie ihnen damit nicht.
400 Euro im Monat als Bandarbeiter
Zwölf Stunden schuften Bilal und seine ältesten Söhne jeden Tag in Istanbul. In Aleppo gehörte der Familie eine kleine Textilfabrik. Bilal trug teure Anzüge und fuhr mit dem Auto zur Arbeit. Nun arbeitet er für knapp 400 Euro im Monat als Bandarbeiter.
Aida bringt eine Kanne dampfenden Tee aus der winzigen Küche nebenan und schenkt reihum ein. Schweigend nippt ihr Mann an seinem Glas. Selbst der Cay in der Türkei ähnelt dem, den sie zuhause in Syrien getrunken haben. Ob die Deutschen überhaupt Tee trinken?
"Ich würde die Türkei nicht verlassen, wenn wir hier eine Chance hätten. Ich weiß, dass ich wohl sterben werde, bevor ich die Sprache in Deutschland richtig beherrsche. Und auch sonst wird alles schwierig für mich sein. Aber auch wenn wir dort von Null anfangen müssen, haben zumindest die Kinder am Ende eine Zukunft. Hier haben sie keine."