Gehen oder bleiben?
Rund 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien leben inzwischen in der Türkei, das Land ist überfordert und reduziert die Hilfe auf das Nötigste. Auch nach Jahren finden viele Menschen hier keine Perspektive - und entschließen sich zur Weiterreise nach Europa. Einige von ihnen gewähren einen Blick in ihr Leben.
Ein Platz im Zentrum von Istanbul: In der Mitte ein Springbrunnen, rundherum Dutzende kleine Teehäuser und Dönerbuden, mit Fleischspießen so dick wie Baumstämmen. Von einer nahegelegenen Moschee klingt der Ruf des Muezzins herüber, vermischt sich mit dem Lärm einer mehrspurigen Straße. Zäh schiebt sich darauf der Istanbuler Berufsverkehr vorbei. Ein Platz, wie es hunderte gibt in der Stadt.
Aber nur auf den ersten Blick. Etwas ist doch anders auf dem Aksaray Meydani. Die Menschen, die sich hier aufhalten, sprechen Arabisch, nicht Türkisch. Viele junge Männer stehen mal einzeln, mal in Grüppchen herum, sie haben riesige Rucksäcke auf dem Rücken, fast alle tragen Turnschuhe. Etwas abseits sitzen auf einem Kinderspielplatz mehrere schwarz verhüllte Frauen auf einem Haufen prall gefüllter Plastiktüten, folgen den Männern aufmerksam mit den Augen. Alle hier scheinen auf etwas zu warten.
Ein junger Syrer steht an der Fontäne, die in der Mitte vor sich hin plätschert, und raucht eine Zigarette. Mit dem Fuß stützt er einen großen rotschwarzen Wanderrucksack. Der Aksaray Meydani, erklärt er freundlich, ist nicht einfach irgendein Platz in Istanbul.
"Aksaray ist das Zentrum der Schlepper in der Türkei. Fast alle treffen ihre Kunden hier. Setz dich in irgendein Café hier, bestell einen Cay – und schon spricht dich einer von ihnen an. So einfach ist das."
Den Namen Aksaray, erklärt der Mann, während er seinen Rucksack vom Boden hochwuchtet und auf den Rücken setzt, kennen die Kurden im Nordirak genauso wie die Syrer in Aleppo oder die Pakistaner in Islamabad. Praktisch jeder, der aus dem Nahen Osten in die EU reist, kommt dabei über Aksaray, meint er. Er selbst sei Literaturstudent aus Damaskus und wolle nächste Woche in Deutschland ein neues Leben beginnen. Inshallah – wenn Gott will.
"Die Schlepper warten hier in den Cafés auf ihre Kunden, einige davon gehören ihnen sogar. Wenn du dich mit einem von ihnen geeinigt hast, arrangieren sie alles weitere, bringen dich von hier an die Küste oder an die Grenze. Und von dort geht es weiter."
Ein älterer Mann kommt vorbei. In der einen Hand hält er eine goldverzierte syrische Kaffeekanne, in der anderen zwei kleine Tassen, die er beim Laufen aneinander klirren lässt. Erwartungsvoll schaut er den jungen Syrer an. "Ein letzter Gruß von zuhause, mein Sohn?"
Kaffeeverkäufer Aziz gehört zu Aksaray, wie die Fontäne in der Platzmitte und die Schlepper in den Teehäusern rundherum. Seit mehr als zwei Jahren verkauft der gepflegte ältere Herr syrischen Kardamonkaffee an die Passanten. Jeden Tag. Heute, findet Aziz, wirkt Aksaray geradezu ausgestorben. Schlecht für sein Geschäft.
"Manchmal schlafen die Leute hier mitten auf dem Fußweg. Vor allem gegen Abend wird es voll. Alle haben große Taschen dabei. Aber gerade gestern sind mehr als 1000 abgereist. Die Schlepper haben sie an die Küste gebracht. Jetzt ist es ruhig hier."
Zwei Lira, gut 50 Cent, kostet ein Tässchen Mokka bei Aziz. Ein paar Mal am Tag füllt er die goldene Kanne in einem Dönerimbiss neu auf und gibt dem Besitzer dafür etwas von seinem Verdienst ab. Wenn er genug Geld zusammen hat, will Aziz selbst einen Schlepper bezahlen und nach Schweden reisen. Seine Söhne, sagt er mit Wehmut in der Stimme, sind schon dort.
9000 Dollar muss Bilal den Schleppern zahlen
Einige Männer stellen sich im Eingang zur U-Bahnstation unter, wo schon mehrere Familien mit kleinen Kindern am Boden sitzen. Auch in den Teehäusern rundherum wird es jetzt voll. In einem davon sitzt unter einem Regendach der 45-jährige Bilal aus Aleppo, rührt nachdenklich Zucker in seinen Cay.
Die grauen Haare, die tiefe Falte zwischen den buschigen Augenbrauen – Bilal sieht älter aus als er ist. "Sorgen, immer nur Sorgen", murmelt er und blickt einem Mann hinterher, der jetzt seine schwarze Lederjacke über den Kopf zieht und ohne einen Gruß im Regen verschwindet. Bilal seufzt. Fast 9000 Dollar will der Schlepper von ihm haben.
"Ich habe sechs Söhne und eine Tochter aus zwei Ehen. Dazu meine Frau und ich. Neun Leute insgesamt. Ich muss einen guten Preis aushandeln. Erst wollte der Schlepper 1200 Dollar pro Person, am Ende 950. Aber das ist immer noch zu viel."
Dunkle Ringe liegen unter Bilals freundlichen braunen Augen. Seine Familie, erklärt er, wartet in der Wohnung am Rande der Stadt auf ihn, die er nach seiner Flucht vor zwei Jahren gemietet hat. Am frühen Morgen ist er allein nach Aksaray gekommen, um sich zu informieren. Viel Neues hat er dabei nicht erfahren: Die Route über Bulgarien ist die günstigste Variante, dauert aber oft Wochen. In Griechenland werden die Flüchtlinge sehr viel schneller abgefertigt, doch die Landgrenze ist inzwischen fast unüberwindbar. Bleibt der Weg mit dem Schlauchboot über die griechischen Inseln. Bilal zieht die dünne Jacke enger. "Wir hätten im Sommer gehen sollen", murmelt er. Jetzt ist das Wasser eiskalt. Drei seiner Kinder sind noch im Kindergartenalter.
Bilal steht auf. Bevor aus dem Nieselregen ein Gewitter wird, will er nach Hause zu seiner Familie. Durch eine kleine Gasse eilt er zur Aksaray-Metrostation. Rechts und links haben sich Tante-Emma-Läden auf das Geschäft mit den Flüchtlingen spezialisiert. Kekse gibt es, Dosenessen, aber auch wasserdichte Handyhüllen, überdimensionale Rucksäcke und Schlafsäcke.
Vor einem Laden stapelt ein Mann Schwimmwesten in allen Farben und Größen unter einem Regendach auf. An einer langen Schnur hängen orangene Kinderschwimmflügel. Bilal wirft im Vorbeigehen einen sorgenvollen Blick auf das Angebot.
"Das ist ein Todestrip. Wenn du Glück hast, dauert es nur 45 Minuten, aber in denen stehst du Auge in Auge mit dem Tod. Welcher Syrer kann schon schwimmen? Die meisten von uns haben das Meer noch nie gesehen. Glauben Sie mir: Umsonst begibt sich keiner in diese Lebensgefahr."
Eine gute Stunde dauert die Reise vom Aksaray Meydani in die Außenbezirke Istanbuls. Seit einigen Jahren schon leben hier nicht mehr nur ärmere Türken sondern auch Zehntausende Syrer. Wie viele es genau sind, weiß keiner. Die meisten Flüchtlinge überqueren die fast tausend Kilometer lange Grenze zur Türkei ohne dabei registriert zu werden.
An einer großen, lauten Straße steigt Bilal aus, hastet mit gesenktem Kopf durch das Gedränge auf dem Bürgersteig. Billige Restaurants reihen sich an Schnäppchenmärkte und Handyläden. Zwei Afrikaner haben gefälschte Uhren und Silberringe auf einem Tuch am Boden ausgebreitet, eine Frau mit einem Kind im Arm sitzt bettelnd wenige Meter entfernt. Von der Bosporus-Idylle, die jedes Jahr Millionen Touristen nach Istanbul lockt, ist in Sultanciftliği nichts zu sehen. Große, mehrspurige Straßen ziehen sich durch das Viertel, Staub und Abgase haben die Fassaden der mehrstöckigen Mietshäuser schwarzgrau gefärbt. Sechs bröckelnde Steinstufen führen in einer Seitenstraße hinab in Bilals Wohnung. Schnaufend lässt er sich im kleinen Wohnzimmer auf ein Sofa fallen, das ihm die türkischen Nachbarn überlassen haben.
"Hier leben wir mit neun Personen in zwei Zimmern. Aber allein wegen meiner Nachbarn würde ich nicht umziehen. Wirklich: Die Türken haben uns nie spüren lassen, dass wir Ausländer sind. Sie haben uns ein Zuhause gegeben."
Bilal streicht über die ausgefransten Sofas, die den kleinen Raum fast komplett ausfüllen. Eine nackte Glühbirne verströmt kaltes Licht, an der gelb angepinselten Wand hängt ein Foto von der Kaaba in Mekka. Bilal mag die Türkei, das kann er gar nicht oft genug betonen. Nicht nur wegen der Nachbarn, die ihm auch Küchengeschirr, Matratzen und einen alten Fernseher überlassen haben, sondern auch wegen der Atmosphäre draußen in den Straßen. Als Angehörige der turkmenischen Minderheit von Aleppo hat seine Familie nicht mal ein Sprachproblem in Istanbul. Ihr Türkisch ist so gut wie ihr Arabisch. Dennoch will Bilal weg.
"Natürlich leben wir hier nicht so wie die Türken. Ich arbeite trotz eines Bandscheibenvorfalls zwölf Stunden am Tag in einer Fabrik. Seit wir angekommen sind, verlässt meine Familie eigentlich kaum das Haus. Ich gehe nur zur Arbeit und von der Arbeit wieder nach Hause. Für alles andere reicht das Geld nicht."
Der Lohn reicht nicht zum Leben
Wie zum Beweis zeigt Bilal die schwieligen Hände. Auch sein 17-jähriger Sohn, der mit versteinerter Miene neben dem Vater auf dem Sofa hockt, dreht jetzt die Handflächen nach oben. Bis die IS-Truppen kamen und ihm von einem Moment auf den anderen alles abnahmen, gehörte Bilal eine kleine Textilfabrik in Aleppo. Er trug teure Anzüge und fuhr mit dem Auto zur Arbeit. In Istanbul arbeitet er für knapp 400 Euro im Monat als Bandarbeiter. Weil das zum Leben nicht reicht, müssen auch die ältesten Söhne arbeiten. Bilals Frau Aida ist lautlos im Türrahmen erschienen. Jetzt beginnt sie zu klagen:
"Die Kinder haben hier ihre Ausbildung aufgeben müssen, um zu arbeiten. Sie haben ihre Chance auf ein gutes Leben verloren. Ja, wir haben diese Wohnung und wir haben auch genug zu Essen. Aber das kann doch nicht alles sein! Wir blicken in die Zukunft – aber da ist keine Zukunft, vor allem nicht für die Kinder. Da ist nichts, überhaupt nichts. Der türkische Präsident Erdogan hat neulich im Fernsehen gesagt: Möge Gott niemandem seine Heimat nehmen. Er hat ja so recht…"
Leise schluchzt Aida vor sich hin. Erst als ihr Mann ihr mahnende Blicke zuwirft, wendet sie sich schnell ab. Das tränenverschmierte Gesicht unter dem Kopftuch ist rund, das bunt gewebte Kleid spannt über Bauch und Hüften. Dick sei sie geworden vor lauter Sorge, sagt sie schulterzuckend. Immer diese Angst, immer diese Unsicherheit. Was, wenn Bilals Rücken bald gar nicht mehr mitmacht? Was, wenn er nicht mehr arbeiten kann? Die Großfamilie, die sie in Syrien aufgefangen hätte, gibt es nicht mehr. Die Ersparnisse sind weg, Haus, Auto und Fabrik in Syrien geblieben. Der türkische Staat hat sie zwar als Gäste ins Land gelassen. Aber mehr auch nicht. Bilal fischt einen eingeschweißten Ausweis unter dem Sofakissen hervor.
"Sie haben uns diesen Gastausweis hier gegeben. Aber nur mit einem echten Ausweis hast du soziale Rechte in einem Land. Nur damit kannst du dich versichern, kannst legal arbeiten, kannst einen Kredit aufnehmen, ein Haus bauen und in Rente gehen. Mit diesem Ding hier kannst du nichts davon."
Aida bringt eine Kanne dampfenden Tee aus der winzigen Küche nebenan und schenkt reihum ein. Nachdenklich nippt ihr Mann an seinem Glas. Selbst der Cay in der Türkei ähnelt dem, den sie zuhause in Syrien getrunken haben. Ob die Deutschen überhaupt Tee trinken?
"Eigentlich wollen wir die Türkei nicht verlassen. Wenn sie uns echte Ausweise geben würden, würden wir nicht gehen. Bis zum letzten Moment werde ich denken: Ach könnten wir doch hierbleiben."
Fast zweieinhalb Millionen Syrer hat allein die Türkei aufgenommen. Im Königreich Jordanien ist nach UN-Angaben inzwischen jeder zehnte Bürger Syrer, im Libanon gar jeder zweite. Die Arabischen Golfstaaten aber halten ihre Grenzen seit Beginn des Konflikts verschlossen.
Dabei liegt es auf der Hand, dass es längst nicht nur der Cay ist, der den Syrern dabei hilft, sich in einem neuen Land zuhause zu fühlen. Im südtürkischen Gaziantep, knappe 45 Minuten von der syrischen Grenze entfernt, leben etwa 400.000 Flüchtlinge. Zahlreiche Geschäfte in der 1,5-Millionenstadt werben inzwischen mit arabischen Werbetafeln, Bäckereien führen traditionelles Damaszener Brot, aus den immer zahlreicher werdenden syrischen Restaurants duftet es nach Falafel und Kreuzkümmel.
Besonders Flüchtlinge aus dem nordsyrischen Aleppo fühlen sich in Gaziantep fast wie zuhause, erzählt Munir, ein junger Syrer, der vor gut zwei Jahren mit seiner Familie über die Grenze kam.
"Die Menschen aus Aleppo sind generell eher religiös. Kopftuch, Trennung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit. Das sind Dinge, die für uns normal sind und auf die wir Wert legen. Hier in Gaziantep ist das genauso, die Menschen sind konservativ wie wir. Und deswegen behandeln sie uns nicht als Fremde. Im Gegenteil: Einige schütteln einem in der Moschee die Hand, wenn sie hören, dass man Syrer ist."
Munir – ein schlanker, auffällig blonder Brillenträger – ist 27 Jahre alt. An der rechten Hand glitzert ein silberner Ring. Vor wenigen Wochen hat er sich hier in Gaziantep mit einer Syrerin verlobt. Bald wollen sie heiraten. Hunderte Gäste aus der syrischen Community der Stadt sollen eingeladen werden. Männer und Frauen werden getrennt feiern, so, wie es auch in besonders konservativen türkischen Familien Sitte ist. Ob auch er von einem Leben in Europa träumt, so wie Bilal und seine Familie in Istanbul? Munir schüttelt den Kopf.
"Ich bin glücklich hier. Natürlich ist die Türkei nicht Syrien. Aber ich habe hier ein neues Zuhause gefunden. Ich habe Arbeit, eine Wohnung und Freunde hier. Ich habe ein Leben."
Nur wenige Minuten sind es von der "Straße der Syrer", wie die Menschen in Gaziantep die zentrale Inönü Caddesi inzwischen nennen, zu der Fabrik, in der Munir Arbeit gefunden hat. Mehrere Maschinen rattern in einer großen Produktionshalle, junge Männer fertigen daran Schlappen und Sandalen aus Kunstleder. An den Wänden ringsherum stapeln sich bis unter die Decke Leder- und Stoffballen. Das südtürkische Gaziantep ist bekannt für seine Teppich-, Textil- und Schuhfabriken. Munirs Chef Murat Özkanli gehört zu den vielen Menschen hier, die den türkischen Präsidenten Erdogan für den Wirtschaftsaufschwung lieben, den er ihnen in den letzten zehn Jahren beschert hat. Stolz lässt er den Blick durch die Halle schweifen.
"Wir produzieren hier vor allem die Riemen für Sandalen und Schlappen. Dann exportieren wir sie ins Ausland. Die meiste Ware schicken wir nach Usbekistan."
45 Arbeiter sorgen dafür, dass Murat Özkanlis Produktionsvermögen ständig wächst. 45 Arbeiter, von denen inzwischen zwei Drittel Syrer wie Munir sind. Auch rund um Aleppo wurden einst traditionell Schuhe gefertigt. Nicht selten sogar für Auftraggeber in der Türkei. Viele der Flüchtlinge kommen deswegen mit reichlich Erfahrung. Murat Özkanli schlägt einem der Arbeiter freundschaftlich auf die Schulter. Verständigen kann er sich nur mit denen, die Türkisch sprechen. Fremd aber sind ihm auch die anderen nicht. Die religiösen Feiertage, die Essgewohnheiten, die Verlobungsfeiern, zu denen er selbst im letzten Sommer eingeladen wurde. In vielem, sagt der Chef, ähneln sie uns einfach.
"Außerdem sind sie gute Arbeiter und absolut diszipliniert. Sie kommen und gehen pünktlich und machen keine Probleme. Was immer du ihnen aufträgst, wird ohne Murren erledigt."
Murat Özkanlis Dauerlächeln verschwindet für einen Moment. Seine syrischen Angestellten, gibt er zu, beschäftigt er allesamt schwarz. Offiziell dürfen sie mit ihrem Gastausweis in der Türkei nicht arbeiten. Um zu überleben, müssen sie es trotzdem tun. Das weiß auch der Staat – und toleriert, dass inzwischen überall in Gaziantep, Istanbul oder anderswo Syrer an den Bändern stehen. Murat Özkanli zuckt mit den Schultern.
"Nicht nur für sie, auch für uns Türken ist es doch wichtig, dass diese Männer arbeiten. Denn wer nicht arbeitet, der macht sich früher oder später die Finger schmutzig. Und glauben Sie mir: Die türkische Wirtschaft braucht diese Arbeiter."
1000 Lira, etwa 300 Euro, beträgt der türkische Mindestlohn. Im Gegensatz zu vielen anderen Arbeitgebern in Gaziantep zahlt Schuhfabrikant Özkanli ihn auch den Syrern. Bei Munir und seinen Kollegen steht der Chef deswegen hoch im Kurs. Kemal, ein breitschultriger Turkmene, der an einer Maschine wie aus einem Plätzchenteig Schuhsohlen aus einer Lederbahn ausstanzt, winkt ab, wenn er nach einer möglichen Flucht nach Europa gefragt wird.
"Glauben Sie mir, wir sind zufrieden hier. Die Türkei hat uns gerettet. In Syrien wären wir längst tot. Meine Arbeit hier ist gut und der Chef behandelt uns fair. Ich würde auch nicht mehr zurückkehren, es ist ja eh alles zerstört, was ich dort hatte. Mein Leben ist jetzt hier."
Der nächste Morgen. Während es tagsüber auch jetzt noch sommerlich warm wird im Süden der Türkei, sind die Nächte klar und kalt wie in der Wüste. Die zwölf Männer, die in aller Frühe neben einer Tankstelle im Gras hocken, reiben frierend die Hände aneinander. Von einer festen Anstellung oder dem türkischen Mindestlohn können ungelernte Syrer wie sie oft nur träumen. Anas, um die 40, herausfordernd, fast wütend dreinblickend, hat sich einen dünnen Schal um Kopf und Ohren gebunden.
"Wir sitzen jeden Tag hier und warten auf Arbeit. Manchmal bekommen wir einen Job, manchmal auch nicht. In Syrien war ich Bauer. Hier tue ich jetzt alles, was man von mir will, um zu überleben. Wenn wir Glück haben, und einen Job kriegen, arbeiten wir von morgens bis abends und kriegen vielleicht 30 Lira dafür."
30 Lira am Tag, weniger als zehn Euro, das reicht auch in der Türkei nicht, um eine Familie zu ernähren. Anas deutet auf die Anzeigentafel der Tankstelle neben sich: Allein ein Liter Diesel kostet beinahe vier Lira, viel mehr als einst zuhause in Syrien.
"Aber was sollen wir machen? Woher sollen wir das Geld für unsere Miete nehmen? Die zwei Zimmer, in denen wir mit zwei Familien wohnen, kosten über 500 Lira im Monat. Zum draußen schlafen ist es jetzt zu kalt, der Winter steht vor der Tür. Sollen wir vielleicht nach Syrien zurück? Da wird alles zerbombt!"
Anas reißt sich den Schal von den Ohren. Ihm ist jetzt nicht mehr kalt. Auch in eines der türkischen Flüchtlingslager in der Nähe von Gaziantep wollte er mit seiner Familie gehen. Aber die seien restlos überfüllt. Und einmal drinnen, käme man da nicht mehr raus. Arbeiten ist verboten. Aber, so fragt Anas, muss ein Mann nicht etwas tun, um seine Familie zu ernähren?
Ein mit Baustellenschlamm bespritzter Pickup fährt vor. Mehrere Syrer springen von der Wiese auf und beginnen mit dem Fahrer zu verhandeln. Sechs starke Männer sucht der, die ihm 10 Tonnen Kohle auf einen Lastwagen schaufeln und später wieder abladen. 25 Lira pro Person will er dafür zahlen. Anas schnaubt wütend. Die Türken, sagt er, beuten uns aus.
"Und am Ende halten sie sich oft nicht mal an die Abmachung. Du arbeitest bis zum Abend und dann kommt einer mit 15 Lira an und sagt: Dafür habt ihr ja alle schon ein Mittagessen bekommen. Wenn du protestierst, sagt er nur: Ich kann gern die Polizei rufen, da könnt ihr euch dann beschweren."
Der Mann im Pickpup trommelt ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. Anas und fünf weitere Männer springen auf die Ladefläche. Als das Auto anfährt, stecken sie die Köpfe zwischen die angezogenen Knie um sich vor dem kalten Wind zu schützen.
Dann kehrt Ruhe ein neben der Tankstelle. Kadir, der im abgewetzten Overall auf der anderen Straßenseite in einer türkischen Autowerkstatt arbeitet, atmet auf.
"Wir wollen die hier nicht haben. Sie streiten sich jeden Tag und belästigen die Leute. Wir hatten drei Kanister Olivenöl hier stehen, die haben sie geklaut! Immer machen sie Probleme. Und dann das Gebettel: Jeden Tag kommen 50 Typen hier an. Wenn ich jedem eine Lira gebe, macht das 50 Lira. Was glauben die eigentlich, was ich selbst verdiene?"
Kadir wischt die ölverschmierten Finger an einem alten Lappen ab. Immer mehr Gründe fallen dem 40-jährigen Familienvater jetzt ein, warum die Syrer die Ruhe in Gaziantep stören. Denn je mehr es werden, desto größer auch die Zahl der Konflikte mit Türken, so meint er. Kadir zählt auf: Die Kinder, die nicht zur Schule gehen und die Autos der Türken verkratzen, der Müll, der jetzt überall herumliegt, die Mieten, die sich mehr als verdoppelt haben, seit immer mehr Menschen sich um bezahlbare Wohnungen streiten müssen. Kadirs Kollege, der bisher schweigend im Hintergrund vor einem Fernseher gesessen hat, kommt dazu. Auch er hat die Nase voll von der Gastfreundschaft der Regierung in Ankara.
"Ich habe eine kleine Wohnung, die habe ich an Syrer vermietet. Sie sagten, sie seien vier Leute – ein Pärchen und zwei Kinder. Aber plötzlich wurden daraus zehn, dann 15, dann 20 Leute. Sie logen mich an und sagten, das seien nur Gäste. Aber ich weiß, dass sie die Hälfte der Wohnung untervermietet hatten. Und dreckig waren sie auch. Ich würde nie wieder an Syrer vermieten, egal, was sie mir bezahlen."
Wie viel Hilfe ist noch möglich?
Der Muezzin, der jetzt von einer nahegelegenen Moschee zum Gebet ruft, lässt die beiden Automechaniker verstummen. Eigentlich, so betonen sie, sei die Gastfreundschaft den Türken heilig. Und tatsächlich kommt es trotz mehr als 2,5 Millionen Flüchtlingen im Land auffällig selten zu Konflikten. Selbst die konservativ-nationalistische Volkspartei, für die die beiden bei den Parlamentswahlen Woche gestimmt haben, betont, dass die Syrer unsere Gäste sind, stellt Kadir klar.
"Ich habe auch schon geholfen. Da war dieses Paar mit einem Baby in unserer Nachbarschaft, mit nichts als den Kleidern am Leib. Wir haben ihnen im Fastenmonat Ramadan Möbel, einen Teppich und einen Gaskocher besorgt. Aber wie weit soll das noch gehen? Es sind einfach zu viele, irgendwann kann man nicht mehr."
Kadir wendet sich wieder dem Reifen zu, den er gerade wechseln wollte. Sein Kollege zieht dem blauen Overall aus, macht sich schweigend auf den Weg in die Moschee. An der Hinterwand der Garage flimmern lautlos die Nachrichten über den Fernseher. Die türkisch-syrische Grenze ist zu sehen. 10.000 Flüchtlinge sollen sie in der vergangenen Nacht überquert haben. Wie viele davon in der Türkei bleiben werden, wer weiß das schon? Viele Syrer sehen die Türkei nun als Zwischenstation auf ihrem Weg in die EU. Denn je länger der Konflikt in ihrer Heimat dauert, desto schwieriger wird das Überleben in einem Land, das sie zwar als Gäste akzeptiert, ihnen aber weder Aussichten auf ein Asylverfahren noch auf eine Einbürgerung bietet.
Einige Wochen später in Istanbul: Auf dem zentralen Aksaray Meydani herrscht am frühen Abend geschäftiges Treiben. Wie jeden Tag stehen junge Männer und Familien aus Syrien, Afghanistan und dem Irak mit großen Rucksäcken herum. Wie jeden Tag tragen viele Schwimmwesten in Plastiktüten bei sich. Ernst und sorgenvoll blicken die einen – aufgeregt, fast abenteuerlustig die anderen. Auch heute verhandeln in den kleinen Teehäusern rundherum Schlepper mit ihren Kunden über den Preis für die Überfahrt nach Europa. So offen, als ginge es um eine ganz normale Bootsfahrt. Der vielleicht zwanzigjährige Dervish aus Damaskus hat sich eine kleine Deutschlandfahne an die Jacke gesteckt. In einer Woche, sagt er strahlend, bin ich hoffentlich schon in München bei meinem Bruder.
"Das Leben hier in der Türkei ist einfach zu schwer. Und je mehr Flüchtlinge kommen, desto schwieriger wird es. In Deutschland kann es nur besser sein. Wenigstens gibt es dort keinen Krieg, das ist jetzt das wichtigste für uns."
Auch Bilal aus Aleppo ist wieder da, immer noch. Von einem der Teehäuser aus beobachtet er das Treiben auf dem Platz vor ihm. Mehrmals war der Familienvater in den letzten Wochen in Aksaray, um Routen und Preise für seine Familie auszuhandeln. Heute Nacht nun soll es soweit sein. Bilals Schwager, der es kürzlich in ein Flüchtlingslager bei Düsseldorf geschafft hat, hat ihm Mut zugesprochen. Deutschland sei schön. Bilal versucht ein Lächeln. Wenigstens den Kindern wird es hoffentlich gefallen.
"Ich würde die Türkei nicht verlassen, wenn wir hier eine Chance hätten. Ich weiß, dass ich wohl sterben werde, bevor ich die Sprache in Deutschland richtig beherrsche. Und auch sonst wird alles schwierig für mich sein. Aber auch wenn wir dort von Null anfangen müssen, haben zumindest die Kinder am Ende eine Zukunft. Hier haben sie keine."
Am späten Abend bringt ein Kleinbus Bilal und seine neunköpfige Familie von Istanbul ins westtürkische Ayvalik. Von hier aus kann man die griechischen Inseln fast sehen. Mindestens 130 Menschen sind in diesem Jahr ertrunken bei dem Versuch überzusetzen. Bilal will es dennoch versuchen. Vor der Abreise hat er Schwimmflügel für seine Kinder gekauft.
Luise Sammann: "Die Tatsache, dass es in der Türkei trotz weit mehr als zwei Millionen syrischer Flüchtlinge kaum Konflikte gibt, beeindruckt mich jeden Tag. Erst recht in einem Land, in dem die Mehrheit der Menschen selbst alles andere als reich ist. Trotzdem machen sich immer weitere Syrer auf den gefährlichen Weg in die EU. Warum riskieren sie ihr Leben, um die Türkei, die ihnen doch nicht nur geografisch sondern auch kulturell so viel näher ist, zu verlassen? Dieser Frage wollte ich nachgehen."