Systematische Ermordung

Rezensiert von Martin Tschechne |
Der Historiker Götz Aly sammelt in seinem Buch Fakten und Belege für ein beklemmendes Kapitel deutscher Schuld: Er befasst sich mit den Angehörigen von Menschen, die im Dritten Reich der Euthanasie zum Opfer fielen. Die Nüchternheit seiner Analyse lässt dem Leser den Atem stocken.
Eine Frage sei noch offen, so hielt der Wissenschaftler in seinem Protokoll fest. Über Mongolismus und Idiotie sei man sich einig, ebenso über Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule. Aber zu klären bleibe noch die Frage der Poliomyelitisforschung.

Es ist einer der vielen Sätze in diesem Buch, die eine Sekunde oder zwei brauchen, bis ihre schreckliche Botschaft sich voll entfaltet hat. Der Autor Götz Aly, Historiker und Journalist, sammelt Fakten und Belege für ein beklemmendes Kapitel deutscher Schuld - und gerade die Nüchternheit seiner Analyse lässt dem Leser den Atem stocken.

Eine bürokratische Maschine
Denn was etwa der von Aly zitierte Mediziner Ernst Wentzler im beflissenen Eifer des Forschers und Faktensammlers seinen Kollegen ins Gedächtnis rief, die Frage der Poliomyelitisforschung, war in ihrer Konsequenz das Todesurteil für Tausende von Kindern: Von da an töteten sie also auch die Opfer der Kinderlähmung. Neben all den anderen Kranken und Behinderten.

"Ihr Leben ist absolut zwecklos, sie empfinden es als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbare schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke."

So zitiert Aly den Hamburger Arzt Max Nonne, einen Nestor der Nervenheilkunde - einen von vielen, die sich in polterndem Tatendrang in den Dienst der bösen Sache stellten. Rund 200.000 Menschen wurden zwischen 1939 und 1945 Opfer der "Aktion T 4", deren amtlich knappe Bezeichnung ihren Zweck nur verschleiert.

Denn was in der Berliner Tiergartenstraße 4 - deshalb T 4 - mit der unbeirrbaren Mechanik einer bürokratischen Maschine vorbereitet, abgespult und verwaltet wurde, war das Programm der Euthanasie, der planmäßigen und systematischen Ermordung von allem, was nach dem Urteil und in der wahnwitzigen Hybris der Nationalsozialisten als "unwertes Leben" galt: geistig behinderte Kinder und verwirrte Alte, bald auch Kriminelle, Tuberkulosekranke und schwer erziehbare Jugendliche.

"Die Kranken sollten mit CO-Gas, also mit Kohlenmonoxid, getötet, 'desinfiziert werden', wie es in der Tarnsprache hieß."

Theo Morell, der Leibarzt Adolf Hitlers, hatte das pauschale Todesurteil in seiner Denkschrift "Vernichtung lebensunwerten Lebens" mit dem schnödesten aller Argumente begründet:

"5000 Idioten mit Jahreskosten von je 2000 Reichsmark = zehn Millionen jährlich. Bei fünf Prozent Verzinsung entspricht das einem reservierten Kapital von 200 Millionen."

Was sich daraus entwickelte, war ein Wettrennen, in dem jeder jeden an Gier, Geltungssucht und bald auch an Grausamkeit überbieten sollte. Alys Analyse ist das Zeugnis eines explodierenden Wahns. Die Täter nannten es "Lebensunterbrechung", wenn sie Mord beschlossen, und entrückten ihre Opfer als so genanntes "Reichsausschussmaterial" in eine Begrifflichkeit, die zwischen Menschen und Müll nicht unterschied. Die Wirklichkeit gibt sich in den angstvollen Briefen aus den Anstalten zu erkennen:

"Gestern sind wieder die Autos da gewesen und vor acht Tagen auch, sie haben wieder viele geholt, wo man nicht gedacht hätte. Es wurde uns so schwer, dass wir alle weinten."

"Wohin soll ich fliehen, und wer will mich verstecken, wer kann für mich Einsprache einlegen? Bei mir sieht man ja schon von Weitem, dass ich ein unnützer Brotesser bin und zu nichts tauge."

"Die eine hat gar so gejammert. Die hat recht geschrien. Die gute Martha, die haben wir nicht gern gegeben. Ich seh' es heut noch, wie wir rumstanden um den Omnibus."


Was den Schrecken solcher Schicksale noch steigert, ist zweierlei: erstens die blitzschnelle Bereitschaft, persönlichen Nutzen zu ziehen aus dem Programm der Euthanasie. Vor allem Ärzte erkannten und ergriffen rasch die Chance, neben Macht und Geltung auch Menschenmaterial für bis dahin nicht denkbare Versuchsreihen zu gewinnen.

Götz Aly: "Die Belasteten"
Götz Aly: "Die Belasteten"© S. Fischer Verlag
Wissenschaftlicher Eifer
Und da Götz Aly nicht nur den anonymen Opfern ihre Namen und Lebensdaten zurückgibt, sondern auch die ehrgeizigen Hirnforscher, Psychiater, Kinderärzte und Humangenetiker beim Namen nennt, lassen sich in seiner Analyse eindrucksvolle Belege wissenschaftlichen Eifers entdecken.

"Arnold Asmussen, Ein charakterologischer Beitrag zum Adoptionsproblem, medizinische Dissertation aus der Landesanstalt Brandenburg-Görden, Kiel, September 1943. Werner-Joachim Eicke, Gefäßveränderungen bei Meningitis und ihre Bedeutung für die Pathogenese frühkindlicher Hirnschäden, Habilitationsschrift aus der Histopathologischen Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung, Berlin 1944. Josefine Bassek, Beitrag zur Röntgentherapie des chronischen Hydrocephalus, medizinische Dissertation aus der Universitätskinderklinik Leipzig, Dezember 1945."

Einen solchen Doktoren- oder Professorentitel habe nie eine deutsche Universität infrage gestellt, merkt Götz Aly noch an. Und so wenig die Idee einer "Gnadentötung unwerten Lebens" erst 1939 in die Welt kam; so wenig es allein perverse Irre waren, die sich auf sie einließen, sondern oft genug respektable, respektierte und bisweilen sogar fortschrittlich und human denkende Zeitgenossen - so wenig verschwand die Idee mit dem Niedergang der Nazis.

Eine Karriere, die im Dezember 1945 mit einer Promotion begann, selbst wenn Menschen dafür wie Versuchstiere ihr Leben hatten lassen müssen, hatte danach ein paar Jahrzehnte Zeit, sich zu entfalten. Manche solcher Ärzte hat Aly noch getroffen und befragt.

Zweitens und vielleicht noch bedrückender ist die Erkenntnis, dass niemandem ein Hintertürchen blieb, die Schuld auf ein politisches System abzuwälzen. Der Titel des Buches, "Die Belasteten" ist in voller Absicht mehrdeutig gewählt. Denn auf ihre jeweils eigene Weise belastet waren neben den Mördern und den Opfern auch deren Familien. Viele, so zitiert Aly die Eltern eines schwachsinnigen Kindes, waren:

"Im Prinzip einverstanden; nur dürften Eltern nicht gefragt werden; es fällt ihnen doch schwer, das Todesurteil für ihr eigen Fleisch und Blut zu bestätigen. Wenn es aber hieße, es wäre an einer x-beliebigen Krankheit gestorben, da gibt sich jeder zufrieden."

Hier wird persönliche Schuld beklemmend deutlich. Das Verfahren der angeblichen Gnadentötung ließ nämlich eine Lücke: Angehörige konnten Kranke und Behinderte zu sich nach Hause holen und sie damit aus der Mordmaschinerie retten. Entlassungsanträgen, so hieß es ausdrücklich, sei in jedem Fall zu entsprechen.

Götz Aly: Die Belasteten. Euthanasie" 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte
S. Fischer Verlag Frankfurt
352 Seiten, 22,99 Euro (auch als Ebook erhältlich)
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