Systembiologie
Leukämie-Zellen im Blutkreislauf: Eine Forschergruppe arbeitet speziell an der Frage, wie in den Blutstammzellen Blutkrebs entsteht. © imago images/Westend61
Die Entschlüsselung des Lebendigen
28:42 Minuten
Den Menschen als biologisches System zu verstehen, das ist das Ziel der Systembiologie: vom Genom über Zellen und Organe bis hin zu Psyche und Umwelt. Fehlentwicklungen in Organismen sollen erkannt werden, noch bevor sie sich zu Krankheiten entwickeln.
Auf dem alten Charitégelände in Berlin-Mitte erhebt sich zwischen kleinen geduckten Backsteingebäuden eine hochmoderne Glas-Stahl-Konstruktion. Die Scheiben sind mit hellen Kunststofffasern beklebt. Im Sonnenlicht erinnert das siebenstöckige Haus an eine überdimensionale organische Gewebestruktur. So passen Form und Inhalt bestens zusammen, denn hier sitzt des BIMSB, das Berliner Institut für Medizinische Systembiologie.
Die helle Eingangshalle wirkt mit ihren glatten Betonflächen sachlich und einladend zugleich. Der einzige Farbton hier kommt von einem großformatigen Foto. Ein Team von fröhlich in die Kamera schauenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Kostüm und Anzug ist zu sehen, und in der Bildmitte im gedeckt roten Blaser, die Hände zur Raute gruppiert: Angela Merkel. 2019 hat sie das Institutsgebäude eingeweiht und an Nikolaus Rajewsky übergeben.
Der studierte Pianist, Mathematiker und Physiker, der sich an der New York University zum Computerbiologen ausbildete und seit 2008 am Max Delbrück Zentrum die Systembiologie beforscht, ist Gründungsdirektor und Leiter des BIMSB.
„Bei Systembiologie kommen ja die Experimente und die Theorie zusammen. Es ist ein essenzieller Part, dass man nicht nur das eine oder das andere macht, sondern mit Theorie die Daten erklärt und Vorhersagen gemacht werden. Aber die müssen ja getestet werden. Und was wir hier in diesem Gebäude erreicht haben, dass die Data-Science – die Theorie – von den Experimenten wirklich nur durch Glasschiebewände getrennt ist. Es gibt da keine Grenzen: Hier ist der Professor X und hier ist der Professor Y, sondern es ist alles offen, die Übergänge sind fließend.“
Ein alter Traum der Wissenschaft
Am Institut für Systembiologie wird ein alter Traum der Wissenschaft mit neuesten Methoden geträumt. René Descartes war es, der mit seinem nüchternen Blick auf den Körper den Beginn der Neuzeit markierte. Für ihn gehörte der menschliche Leib zur von ihm so benannten res extensa, zur dinglichen, ausgedehnten Welt. Damit erklärte er den Körper – im Gegensatz zu den geistigen Dingen der res cogitans – als im Prinzip vollständig erkennbar. Letztlich funktioniere er wie eine Maschine, wenn auch eine besonders trickreich erdachte und extrem effiziente. 400 Jahre nach Descartes ist die Systembiologie angetreten, das Leben als Schnittpunkt von Erbe, Umwelt und individueller Entwicklung zu entschlüsseln.
Ein entscheidender Startpunkt dafür war die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. Im sogenannten Human Genom Project wurden die knapp 20.000 Gene des Menschen analysiert. Damit lag der Bauplan für den gesamten Körper vor. So dachte man zumindest. Allerdings fehlte in diesem Buch des Lebens das Eigentliche. Die Bedienungsanleitung gewissermaßen. Denn im Prinzip steht in jeder einzelnen der etwa 37 Billionen Körperzellen dasselbe Programm. Trotzdem aber differenzieren sich die Zellen völlig anders aus. Von der Haar- über die Blutzelle bis hin zu den Neuronen.
„Klar, ne Nervenzelle, ne Leberzelle, ne Nierenzelle machen alle verschiedene Dinge. Und das funktioniert so: Die haben alle eine Kopie vom Buch des Lebens, aber sie lesen immer verschiedene Kapitel mit denen sie instruiert werden, wie sie auf Reize von außen reagieren müssen, wie sie mit ihren Nachbarzellen kommunizieren, weil ja häufig auch eine Zelle, die etwas macht, eine Nachbarschaftszelle hat, die etwas anderes macht. Der springende Punkt ist: Wir können jetzt die Daten bekommen, die einem sagen, wie eine einzelne Zelle das Genom interpretiert. Und das ist ein gewaltiger Sprung“, erklärt Nikolaus Rajewsky.
Alle Abläufe im Organismus verstehen
Das Gewaltige an dem Sprung besteht in der Chance, erstmals die Abläufe im lebendigen Organismus auf allen Ebenen zugleich zu verstehen. Von den molekularen Prozessen in den Zellen über die Steuerungs- und Kommunikationsvorgänge im Gewebe bis hin zur Organebene und schließlich dem Gesamtsystem Organismus im Wechselspiel mit seiner Umwelt.
Gedanklich vorbereitet wurde diese Herangehensweise am Biological Computer Lab in Illinois bereits in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Damals demonstrierte der österreichisch-amerikanische Physiker Heinz von Foerster, wie man die Erkenntnisse der Kybernetik von den technischen Maschinen auf biologische Systeme übertragen kann.
So machte die biologische Kybernetik deutlich, dass man Organismen auch als aus verschiedenen Modulen bestehende Systeme begreifen kann, die miteinander kommunizieren. Allerdings stieß Heinz von Foerster rasch an die Grenzen der damaligen Technologien. Heute eröffnen sich durch computergestützte Analyseverfahren, Künstliche Intelligenz und selbstlernende Algorithmen völlig neue Horizonte. Dazu kommen avancierte gentechnische Verfahren wie die Genschere CRISPR/Cas und die molekularbiologische Methode der Sequenzierung von Genaktivität und Eiweißproduktion in der Zelle.
„Das heißt, es wird jetzt immer mehr möglich, den Traum der Systembiologie zur Realität werden zu lassen. Das heißt, das man nicht nur Bilder macht oder sagt: Wenn ich dieses Gen kaputt mache, dann passiert X, und wenn man Glück hat, versteht man noch so ein paar molekulare Zwischenschritte. Sondern, dass man wirklich das System mehr und mehr als Ganzes verstehen kann“, freut sich Rajewsky.
Ein umfassendes Verständnis der Lebensvorgänge eröffnet schließlich eine neue und viel grundsätzlichere Einsicht in die Prozesse der Krankheitsentstehung. Wenn man weiß, wie die biologischen Prozesse im Normalfall im Detail ablaufen, kann man Dysbalancen und Fehlentwicklungen bereits erkennen und gegebenenfalls behandeln, bevor überhaupt die ersten Symptome auftreten.
Einblicke in RNA-Moleküle
Der Aufzug fährt in die 1. Etage, wo sich eine Arbeitsgruppe mit der RNA beschäftigt, jenem Biomolekül, das die jeweils benötigten Informationen aus dem Genom abschreibt und vom Kern in das sogenannte Cytoplasma der Zelle bringt.
„Mein Name ist Markus Landthaler. Ich bin Leiter der Forschungsgruppe RNA-Biologie. Systembiologie bedeutet ja, dass man einen Einblick bekommt über idealerweise alle Vorgänge einer Zelle, eines Gewebes oder eines ganzen Organismus. Wir können natürlich immer nur einen Teilaspekt abdecken. Die Aspekte, für die wir uns interessieren, sind letztendlich die Vorgänge, die im Cytoplasma stattfinden“, sagt er.
„Mithilfe der neuen Technologien bekommt man natürlich heute nicht nur den Einblick in ein RNA-Molekül und dessen Leben von der Geburt bis hin zum Tod, wenn es abgebaut wird und den möglichen Interaktionen in diesem Leben, sondern heute können wir natürlich Einblick bekommen in all die 10.000 Gene, die in einer Zelle letztlich aktiv sind. Das ist der Aspekt, den man auch als Systembiologie bezeichnen könnte: Dass wir uns nicht nur ein Molekül anschauen, sondern versuchen, einen umfassenden Einblick zu bekommen über alle RNA-Moleküle und deren Veränderungen in der Zelle.“
Zusammenspiel von RNA und Proteinen
Konkret geht es Markus Landthaler, der zugleich Professor für RNA-Biologie an der Humboldt-Universität ist, um das Zusammenspiel von RNA und Proteinen. Denn einerseits transportiert die RNA die Informationen für die Eiweißproduktion, andererseits treten Eiweiße mit der RNA in Wechselwirkung. Diese sogenannten RNA-bindenden Proteine – kurz RBPs -scheinen eine zentrale Rolle bei der Kommunikation innerhalb der Zelle zu spielen. Insgesamt soll es 1800 verschiedene dieser RBPs geben, 500 davon sind weltweit bislang erschlossen. So spektakulär diese Entdeckungen auch sind, wenn man den Forschern durch die Glastüren der Labore im BIMSB zuschaut, gibt es wenig Aufregendes zu sehen.
„All diese Experimente finden in diesem 1,5 Milliliter-Reaktionsgefäß statt. Wenn jemand kommt, dann würde er jemandem zuschauen, der den ganzen Tag einfach nur durchsichtige Flüssigkeiten in dieses kleine Gefäß rein- und rauspipettiert, die wir letztendlich dann zum Sequenzieren schicken. Der experimentelle Teil ist dann beendet, und die Daten, die wir dann vom Sequenzierer bekommen, erlauben uns über bioinformatische Analysen Aufschluss zu bekommen, wo das Protein bindet“, sagt Landthaler.
Tatsächlich scheint die Systembiologie eine im akustischen Sinne sehr leise Wissenschaftsdisziplin zu sein. Nur das High-Tech-Lüftungssystem rauscht im hell beleuchteten Labor. Auf den langen Tischen stehen Flaschen, Röhrchen und Pipetten, Kartons volle Gummihandschuhe. Verschiedene größere Behälter sind mit Alupapier abgedeckt. In Plastik eingeschweißtes Verbrauchsmaterial stapelt sich in den Regalen. Und überall stehen elektrische Geräte von der Größe eines Druckers.
„Was die Leute natürlich oft tun: Sie müssen immer mal wieder ihre Proben runterzentrifugieren. Und das sind diese kleinen Tischzentrifugen, die wir hier zur Verfügung haben. Und auch die machen mittlerweile eigentlich fast keinen Krach mehr. Und die gibt’s natürlich auch in kleineren Formaten.“
Erkenntnisse in Experimente überführen
Es gehört zum Credo der medizinischen Systembiologie, nicht zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung zu trennen. Wann immer es möglich ist, werden die Erkenntnisse möglichst unmittelbar in Experimente überführt und geprüft. Markus Landthaler schlägt seinen Laptop auf und scrollt durch die aktuelle Arbeit seiner Gruppe. Eines dieser RNA-bindenden Proteine hat sein Team bei der Tumorentstehung in der Maus beobachtet und reguliert. Die Ergebnisse stimmen optimistisch, dass hier ein grundsätzlich neuer, molekularbiologischer Weg der Krebsbekämpfung entwickelt werden kann.
„Und was man hier eben schön sehen kann, ist, dass wir hier eine Zunahme des Tumorvolumens sehen, das typischerweise für diese Zellen zu beobachten ist, und wenn wir jetzt hier unser Protein abschalten, sehen wir hier ein stark reduziertes Tumorwachstum. Und das bedeutet, dass unsere Hypothese hier ist, dass diese Zellen nicht mehr im Stande sind, mit der Umgebung im Mausgewebe so zu kommunizieren, dass sich diese Zellen wirklich zu einem Tumor weiterbilden können“, so Landthaler weiter.
Die dritte Etage im BIMSB ist architektonisch als Kernkommunikationsfläche des Hauses angelegt. Hier stehen Stühle, Tische, Bänke und Sofas, ein Dachgarten schließt sich an, von dem aus man Berlin-Mitte sieht. Drinnen und draußen sitzen die Forschenden in Gruppen beisammen.
Hier ganz in der Nähe hat einst Rudolf Virchow gearbeitet. Der berühmte Mediziner von der Berliner Charité erkannte als erster die Bedeutung der Zelle. Mit seinem Leitspruch, jede Zelle entsteht aus einer Zelle, leitete er Mitte des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der Mikrobiologie ein. Von ihm stammt auch die Idee, dass bei Krankheiten etwas auf der zellulären Ebene schiefläuft.
Im 5. Geschoss wartet bereits Stefanie Grosswendt. Die in Berlin, Zürich und Harvard ausgebildete Zellbiologin ist Gruppenleiterin mit dem Forschungsschwerpunkt Einzelzelltechnologien für den Einsatz in der personalisierten Medizin, die im Idealfall jedem Menschen seine Zelldaten in geeigneter Form zur Verfügung stellt.
„Zellen beeinflussen sich selbst und ihre Identität gegenseitig. Das kann man sich vielleicht ganz grob vorstellen, wie sich halt auch Menschen gegenseitig beeinflussen. Das heißt, ein Mensch hat seine Identität, seine Eigenheiten etc., aber in der Interaktion mit anderen Menschen – Schule, Familie, Freunde usw. –, diese Einflüsse formen ja letztendlich auch, wie der Mensch ist und sich verhält. So kann man es sich auch bei Zellen vorstellen. Sie haben ihre Identität, aber sie kriegen trotzdem auch Einflüsse und das beeinflusst dann halt auch die Eigenschaften der Zelle“, sagt Grosswendt.
Wie Zellen miteinander reden
Mit einer brandneuen Methode, die nicht zuletzt am BIMSB laufend weiterentwickelt wird, untersucht Stefanie Grosswendt mit ihrem Team, wie Zellen miteinander kommunizieren. Eine unglaubliche Menge an Zell-Daten kann sie sich mittlerweile erschließen.
„Dazu nutzen wir die Einzelzelltechnologie, das heißt, wir können dann Gewebe, die sehr komplex sind, die sehr viel unterschiedliche Zelltypen enthalten, in einzelne Zellen auflösen. Die einzelnen Zellen, also wirklich tausende von Zellen, können wir dann analysieren, um herauszufinden, welche Gene jeweils in den Zellen aktiv sind. Also pro Zelle können wir dann wiederum tausende von aktiven Genen auslesen. Und dann kriegt man natürlich ein sehr genaues Verständnis von dem jeweiligen Zustand der Zelle. Den jeweiligen Typ der Zelle kann man sehr gut auslesen, aber auch den jeweiligen Zustand, in dem sich die Zelle gerade befindet. Ist die gestresst, wurde die schon aktiviert durch eine andere Zelle. Solche Sachen kann man dann noch zusätzlich mit auslesen.“
Mit der Fülle dieser nur mit Computertechnik zu beherrschenden Daten können nun verschiedene Aspekte der Zellvorgänge untersucht werden. Erkrankungen äußern sich im Gewebe bereits vor dem Auftreten von Symptomen. Dann ist beispielsweise die Zellkommunikation gestört. Stefanie Grosswendt erforscht auf molekularer Ebene, wie Zellen überhaupt miteinander reden.
Biochemische Interaktionen
„Worauf wir uns dann fokussieren in der Genanalyse, das ist das Repertoire an Antennenmolekülen, was eine Zelle produzieren kann. Diese Antennenmoleküle werden dann auf der Oberfläche der Zelle präsentiert und können dort passende Signale empfangen, die sie von anderen Zellen geschickt bekommen. Biochemische Interaktionen“, erklärt Grosswendt.
„Und diese Kommunikation kann über ganz viele unterschiedliche Gene erfolgen und dann ist es halt entscheidend, welche Gene nutzt da gerade eine Zelle, also welche Antennen hat die Zelle, um überhaupt bestimmte Informationen aus der Umgebung zu bekommen. Und dann ist es natürlich auch entscheidend: Produzieren die Nachbarzellen gerade dieses passende Signal oder auch nicht. Und das schauen wir uns an. Und das ist in ganz unterschiedlichen Bereichen relevant: In einem Gewebe, wo unterschiedliche Zelltypen interagieren, auch in gestörtem Gewebe wie zum Beispiel einem Tumor, da gibt es ganz viele unterschiedliche Zellen und Zelltypen, die dann beeinflussen, was eine Zelle tun kann, hören kann, etc.“
Die Forscherinnen und Forscher am BIMSB arbeiten zusammen an einer Art molekularem Mikroskop, das es erlaubt, in alle zellulären Ebenen hineinzuzoomen. Vom Gesamtorganismus über die Organe bis hin zum Signalfluss zwischen den Zellen und schließlich bis hinein in die Genaktivität. Perspektivisch hätte man mit diesem systembiologischen Ansatz ein ganz neuartiges Präventions- und Diagnoseinstrument in der Hand, die sich von der molekularen Ebene an um die Erhaltung der Gesundheit und nicht mehr um die Beseitigung von Symptomen kümmert.
Gutes Verständnis für Erkrankungen
Gleich im Büro nebenan sitzt Simon Haas. Der studierte Biowissenschaftler kam nach dem Studium in Heidelberg über das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und die Harvard Medical School ans BISMB. In seiner Arbeitsgruppe forschen Ärzte, Technologieexperten, Informatiker und Biologen an den systembiologischen Mechanismen von Blutkrebs.
„Wir benutzen dafür neueste Methoden, die Sie wahrscheinlich auch heute schon kennengelernt haben. Diese Einzelzellmethoden. Und damit bekommen wir ein sehr gutes Verständnis für diese Erkrankung, versuchen aber auch gleichzeitig die Erkenntnisse, die wir erlangen direkt in die Klinik zu transferieren. Dafür sind unsere Gruppen gepaart mit den Kliniken der Charité, um diese Forschungsergebnisse direkt zum Patienten zu bringen.“
Vom Fenster des Büros von Simon Haas scheint das seit seiner Renovierung hell strahlende Bettenhaus der Charité zum Greifen nah. Mit der Onkologie und Hämatologie arbeitet seine Forschergruppe eng zusammen. Speziell an der Frage, wie in den Blutstammzellen Leukämie entsteht.
Experimente zur Heilung von Leukämie
Blutstammzellen sitzen im Knochenmark des Menschen. Sie produzieren die verschiedenen Blutzellen. Pro Sekunde werden beispielsweise zwei Millionen rote Blutkörperchen gebildet. Die Stammzellen halten durch ihre Tätigkeit das Gleichgewicht der verschiedenen Blutbestandteile aufrecht. Sobald es in den Blutstammzellen durch Mutationen zu bestimmten Veränderungen in der DNA kommt, werden vermehrt Krebszellen produziert und das Gleichgewicht des Blutes läuft aus dem Ruder. Das Mittel der Wahl zur Therapie des Blutkrebses ist in der Regel die Chemotherapie.
„Wenn man jetzt eine Chemotherapie macht, werden hauptsächlich die Zellen, die sich teilen abgetötet. Und die wenigen stammzellartigen Krebszellen bleiben zurück und können dann den Rückfall induzieren. Das ist das Hauptproblem und auch die Haupttodesursache zumindest bei akuten myeloischen Leukämien. Und deswegen versuchen wir zu verstehen: Was machen diese leukämischen Stammzellen, was macht die aus und wie kann man die gegebenenfalls abtöten. Und zwar über molekulare Prozesse, die eben nicht wie diese Keule Chemotherapie sind und gezielt in diese Zellen gehen und diese Prozesse dort unterbinden“, sagt Haas.
Erkenntnisse dieser Art bereichern die klinische Praxis heute schon, indem sie ein Verständnis des Prozesses der Krebsentstehung liefern und neue diagnostische Ansätze eröffnen. Simon Haas und sein Team arbeiten mit den behandelnden Ärzten aus der Charité an mehreren konkreten Fällen zusammen. Gewebeproben und Auswertungen wechseln von Haus zu Haus, und die Wissenschaftler kommen mit den Ärzten zu Fallbesprechungen zusammen.
„Diese Einzelzellmethoden, das ist was, was in der klinischen Diagnostik keinen Einzug gefunden hat. Einfach weil die ziemlich neu sind, sie sind auch ziemlich teuer. Aber mittelfristig ist es klar unser Plan eben auch so neue Methoden wirklich in ein diagnostisches Setting zu bringen, um Krebserkrankungen früh zu erkennen, um gegebenenfalls auch schon Vorstufen von Krebs zu erkennen und sozusagen zu intervenieren, bevor es überhaupt zu einer Krebserkrankung kommt“, so Haas weiter.
Stichwort: personalisierte Medizin
„Bislang nutzen wir die hauptsächlich zum Erkenntnisgewinn, aber mittelfristig ist das eine Strategie, die auch wirklich für die Diagnostik und die Therapieempfehlung von einem speziellen Patienten unter dem Stichwort personalisierte Medizin angewendet werden können. Dafür sind solche Methoden eigentlich perfekt geeignet. Wenn man jetzt von jedem Patienten, den man gerade behandelt, so ein Verständnis hat, dann kann man sehr gut verstehen, welche Art der Medikation wirklich die richtige wäre.“
Im Labor zeigt Simon Haas noch ein Gerät, das die neuen Dimensionen der Systembiologie demonstriert: Er hält eine kleine Platte zwischen seinen Fingern, die kaum größer ist als eine handelsübliche Speicherkarte.
„Hier kann man jetzt Flüssigkeit reinlegen – etwa eine Patientenprobe. Und in dieser Patientenprobe befinden sich typischerweise eine Million von Zellen, die kommen jetzt hier rein, und man sieht hier, das sind praktisch hunderte von tausend kleine Löcher. Und jedes dieser Löcher legt sich halt eine Zelle rein. Und dann können wir die Zelle lysieren, also die Zellmembran auflösen, und dann die Genexpression da drin messen“, erklärt er
„Dann legt man das hier in diesen Scanner, und in diesem Scanner wird dann angezeigt: Ist in jedem der Löcher eine Zelle drin, geht’s denen gut, leben die noch, sind die ok. Dann wird jedes Molekül, was in der Zelle ist, mit einem Barcode versehen, und dann werden die wieder alle zusammengemischt und dann werden die zusammen sequenziert. Letztlich kann man dann durch den Barcode an jedem Molekül auslesen, aus welcher Zelle der ursprünglich kam und kann dann diese ganzen Aussagen machen. Dieses Feld gibt es jetzt seit sechs, sieben Jahren – diese Einzelzelltechnologie. Die Technologien entwickeln sich rasant in dem Bereich.“
Wie werden Gene reguliert?
Wieder zurück in der 3. Etage des Gebäudes. Auf dem Dachgarten ist Betrieb. Kaffee scheint das Hauptgetränk der Systembiologen zu sein. Anna Pombo hat als einzige Gruppenleiterin ihr Büro auf dieser Etage. Sie ist verantwortlich für das Arbeitsgebiet Genregulation und Struktur des Genoms. Zudem ist sie stellvertretende Direktorin des BIMSB und Professorin für Genregulation und Epigenetik an der Humboldt-Universität Berlin. Ihr Forschungsziel ist anspruchsvoll.
„Wir wollen verstehen, wie die Gene in den 200 verschiedenen Zelltypen des menschlichen Körpers im Normalzustand reguliert werden und wie die Regulation im Falle einer Krankheit gestört wird. Das ist Systembiologie, denn es geht hier um alle drei Milliarden Buchstaben, aus denen die 20.000 Gene des Menschen bestehen. Wir wissen bereits, wie kompliziert das Vorhaben ist, denn wir wollen verstehen, wie alle Gene zusammenarbeiten, um auf allen zellulären Ebenen zu jedem Zeitpunkt das genau richtige Programm zur Verfügung zu stellen. Wir müssen also alle Teile des Gesamtsystems im Auge haben, um schließlich sehen zu können, wie es gut läuft und warum und wie Probleme entstehen. Zum Beispiel haben wir Projekte laufen, die untersuchen, was der Austausch eines einzigen Buchstabens im Genom bewirken kann und wie man das Geschehen wieder in normale Bahnen bringen kann.“
Um die Komplexität dieser Forschungsaufgabe zu erfassen, muss man sich die Fakten des menschlichen Genoms noch einmal vor Augen führen. Wenn man die insgesamt 3,27 Milliarden Basenpaare in der DNA der menschlichen Zelle ausbuchstabiert, kommt ein gigantisches Datenmaterial zustande, das gedruckt etwa 3000 Bücher mit je 1000 Seiten füllen würde.
In dieser beeindruckenden Bibliothek sucht Anna Pombo mit ihrem Team also nach einzelnen Buchstaben, die vertauscht sein könnten und will Mittel und Wege finden, die korrekte Reihenfolge wiederherzustellen. Bei den computergestützten Methoden zur Datenanalyse sind für die nächsten Jahre einige Durchbrüche zu erwarten. Ein kompletter Perspektivwechsel in der Sicht auf die Funktion der Gene zeichnet sich bereits heute ab.
Erkenntnisse bei Schlafstörungen
„Wir denken in der Regel, dass die Aufgabe der Gene darin besteht, Bauanleitungen für Proteine zu liefern. Wenn man aber genau hinsieht, dann wird deutlich, dass nur etwa 2 Prozent der Gene für die Eiweißproduktion verantwortlich sind. Die restlichen 98 Prozent hingegen haben nichts damit zu tun, sondern sie dienen ausschließlich der Regulation“, sagt Pombo.
„Als ich zu forschen begann, wurden die 98 Prozent des Genoms noch als dunkle Materie, ja sogar einfach als nutzloser Müll bezeichnet. Aber je tiefer wir mit den modernen Methoden der Systembiologie, die wir an diesem Institut anwenden und entwickeln, in die Materie eindringen, desto klarer wird, wie viele Unterschiede allein durch die Regulation zwischen den unterschiedlichen Zellen in unserem Körper entstehen. Wir führen mehrere Studien dazu durch. Eine dreht sich zum Beispiel um Schlafstörungen. Und wir untersuchen, was dabei in der Genomstruktur passiert. Wir wollen verstehen, was genau da fehlreguliert wird, und wie wir das dann reparieren und das System in einen gesünderen Zustand zurückführen können.“
So wie die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts allgemein als die Dekade des Gehirns galten, scheint das jetzige Jahrzehnt der Systembiologie zu gehören. Wie in einem Schmelztiegel kommen Innovationen aus den unterschiedlichsten Gebieten zusammen und bringen immer neue Methoden hervor, die das Verständnis der Vorgänge in lebenden Systemen rasant erweitern.
Frage nach der Sicherheit der Gesundheitsdaten
Am Horizont scheint jetzt bereits die Idee des individuellen digitalen Zwillings für jedermann auf. Die Ingenieure im Silicon Valley sitzen bereits in den Startlöchern. Mit immer effizienteren Biosensoren können bald Daten auf allen Ebenen des Organismus erhoben und digital ausgewertet werden. So wie heute bereits Smartuhren die Schlafqualität messen und vor Herzinfarkten warnen, werden dann Informationen zum Gesamtsystem Körper verfügbar sein. Bereits bei der kleinsten Dysbalance in den biologischen Abläufen wird dann Alarm geschlagen und gegengesteuert.
So könnte der Weg in Richtung Unsterblichkeit aussehen, der von Futuristen wie Ray Kurzweil, dem Leiter der technischen Entwicklung von Google, angepeilt wird. Dieses Paradies der Gesundheit mag für manche allerdings eine Horrorvorstellung der Überwachung sein, angefeuert von der Frage nach der Sicherheit der Gesundheitsdaten.
„Das ist natürlich eine sehr wichtige Frage. Also einmal gibt es da schon in Europa sehr klare Gesetze: Die Daten eines Patienten gehören dem Patienten und Schluss. Das ist so vorgeschrieben. Das sind mit die schärfsten Gesetze dieser Art, die es gibt“, sagt Rajewsky.
„Ich verstehe natürlich, dass medizinischer Datenmissbrauch besonders gruselig sein kann, aber man muss mit Gesetzen arbeiten, um davor zu schützen. Ich glaube nicht, dass das ein guter Grund wäre, zu sagen, man stoppt jetzt die Fortschritte in der Gesundheits- oder Krankheitsforschung, mit denen man Menschen besser behandeln kann. Deswegen braucht man eine kluge Politik, die das begleitet, sodass man sich davor nicht fürchten braucht, sondern vielleicht auch mit ein bisschen Hoffnung in die Zukunft blicken kann.“