Rotraud A. Perner: Die reuelose Gesellschaft
Residenz Verlag, St. Pölten
254 Seiten, 23,50 Euro, auch als e-book
Der Kapitalismus frisst seine Kinder
In allen westlichen Gesellschaften steigt die Zahl der psychischen Erkrankungen kontinuierlich. Angst vor sozialem Absturz und Einsamkeit, körperliche Erschöpfung und mentale Überforderung sind die Treiber. Die Psychotherapeutin Rotraut A. Perner enttarnt den aktuellen Zeitgeist als "Zeitalter der Seelenvergiftung".
Ja, es läuft etwas falsch. Ja, es trifft mich die Schuld. Ja, ich gelobe Besserung. So spricht der reuige Sünder, der Unrecht erkennt und sich selbst nicht im Recht wähnt. Es ist die Stimme einer Figur, die laut der österreichischen Juristin und Psychotherapeutin Rotraud A. Perner heute kaum mehr zu vernehmen ist. Wobei keineswegs die Sünder fehlten, sondern die Reumütigen. Soweit, so ungut.
Früher sei dagegen alles besser gewesen, bekennt Perner gleich zu Beginn ihres Buchs, und lässt Einen wissen:
“Es war einmal eine Zeit, in der Fehlverhalten nicht übersehen, nicht verharmlost und nicht vorauseilend verteidigt oder entschuldigt wurde. Ich meine die Zeit der 1960er-Jahre, in denen erstmals Menschen, die keine Macht hatten, von denjenigen, die Macht hatten bzw. gehabt hatten, Verantwortung einforderten. Sie benützten dazu wissenschaftliche Methoden wie den beabsichtigt ‚herrschaftsfreien Diskurs‘ statt traditioneller Anprangerungen und Blutgerichte und suchten durch Analysen und Alternativkonzeptionen Machtmissbrauch künftighin obsolet zu machen."
Soweit, so fragwürdig: Denn von dem nostalgischen Hauch einmal abgesehen, der die 1960-er-Jahre hier recht unbedarft zum singulären Ereignis der Menschheitsgeschichte stilisiert, erklärt das Bekenntnis der Autorin zum besseren Gestern wenig, wenn es darum geht, der heutigen Gesellschaft ihr sündhaftes Treiben vorzuführen.
Überhaupt trägt in Perners Buch wenig dazu bei, ihre Gesellschaftsanalyse, die als Anklage daherkommt, zu stützen. Perner verliest vielmehr eine Klageschrift, die derart unausgegoren ist, dass einem nichts anderes übrigbleibt als die beschuldigte Sozialität mangels Beweisen freizusprechen – und vielleicht in einem ganz anderen Verfahren zu verurteilen.
Lebensentwürfe werden korrumpiert
Denn es ist natürlich nicht zu leugnen, dass der Kapitalismus seine Kinder nicht nur füttert, sondern auch frisst; dass er Lebensentwürfe nicht nur ermöglicht, sondern auch korrumpiert; dass in seinen Augen nicht nur die Freiheit aufblitzt, sondern auch die Gier. Doch wollte man die moderne Existenz diesseits der Zwänge und Zweifel, wollte man dieses halb falsche, halb richtige Leben im Nicht-ganz-Richtigen, Nicht-ganz-Falschen untersuchen, man müsste behutsamer vorgehen, als Perner es tut.
Sie entscheidet sich stattdessen dafür, das falsche Leben im Falschen anzuprangern, indem sie kapitelweise die Tücken der sieben Todsünden vorführt – die Lügen der Gier, der Trägheit, des Zornes, des Geizes, des Hochmuts, der Unkeuschheit und des Neides. Heute sei, so der Tenor, zur Kompetenz, ja, zur Tugend aufgestiegen, wofür einst die Hölle erschaffen wurde. Kurzum: Es sei die Ellenbogengesellschaft, die sich um Kopf und Kragen bringt.
Nun ist es nicht so, dass man gegenwärtig über die Todsünden nicht ebenso gehaltvoll schreiben könnte wie über die Reuelosigkeit der kapitalistisch auf- und abgeklärten Jetztzeit. Nur ergäbe sich der Gehalt solcher Ausführungen aus der enggeführten Beschreibung sozialer Dramen, nicht aus dem Aufbau von Anti-Idolen, die jeder einmal kurz verfluchen darf, auf dass er sich sodann gesünder fühle.
Böse Medien, schlechte Politiker und ganz schlimme Penisträger
So, wie es einen Wertkonservatismus gibt, der für immer bewahren will, was es immer wieder zu bewahrheiten gilt, so gibt es auch einen Unwertkonservatismus, dessen Unwerte gleichermaßen starr wie steril sind. Und diesem Unwertkonservatismus geht Perner gehörig auf den Leim.
Keiner der üblichen Verdächtigen ist vor ihrem Rundumschlag sicher: Die bösen Medien bekommen ebenso ihr Fett weg wie die schlimmen Politiker, die noch schlimmeren Manager, nicht zu vergessen all die ganz schlimmen, gefühlskalten, karrieregeilen, frauenausnutzenden Penisträger.
Dieser Unwertkonversatismus verhindert nicht nur die feine Beobachtung, er scheut auch das ausgeführte Argument. Perners Phrasen verweilen nicht, fundieren nicht, sondern springen stets, kaum unterwegs, bereits zum nächsten Zitat, zur nächsten Zusammenfassung. Auf hundert Referenzen folgt kaum je ein entfalteter Gedanke.
Stattdessen wird frei heraus und nach Herzenslust gemeint: Es gibt nichts und niemanden, der davor gefeit ist, auf dem Altar der Beliebigkeit von Perner zum Opfer dargebracht zu werden: Freuds Kulturtheorie, Küngs Weltethos, Jungs Archetypen, Bubers Dialogphilosophie, sie alle finden sich wieder in diesem großen Mischmasch aus Lehrbuch- und Lexikontexten, Forschungsliteratur und Bestsellerzitaten, zusammengehalten einzig und allein vom porösen Kit der Subjektivismen. Diese lassen Nietzsche ebenso wahllos zum Nazi werden, wie sie die 1960-er-Jahre zur Geburtsstunde des Gewissens erklären oder die Gegenwart zum Teufel jagen.
Gefangen in der Sackgasse der Ressentiments
Zur wohlmeinenden Absicht der Autorin erfährt man im letzten Kapitel immerhin Folgendes:
"Eigentlich will ich mit diesem Buch nur zum Nachdenken anregen und Mut machen, sich die Zeit zu nehmen, um nachzufühlen, ob das, was man zu tun beabsichtigt, stimmig ist – zur Situation passt, zur eigenen Ethik und zur Salutogenese, d.h. zur Förderung der Gesundheit aller Beteiligten."
Dazu trägt das Buch höchstens mittelbar bei, indem es zeigt, wie derlei Existenzfragen nicht einzufangen sind. Dass sich über Werte und Unwerte heute durchaus originell, anspruchsvoll und zugleich lebensnah schreiben lässt, beweist etwa der Frankfurter Philosoph Martin Seel. 2011 unternahm er in seiner Schrift "111 Tugenden, 111 Laster" eine Entdeckungsreise, die Tugend- und Lasterpaare tänzelnd umspielt – und so erst gewinnt.
Während Seel die Gedankenbewegungskunst wagt, wählt Perner die Sackgasse des Ressentiments. Sie fabriziert eine Anklageschrift, die wie ein Bumerang auf sie selbst zurückfällt und die Klägerin zur Beklagten werden lässt. Denn bei aller angebrachten Skepsis verdient es keine Zeit, derart unter Wert kritisiert zu werden, wie Perner es mit der “reuelosen Gesellschaft“ versucht.