Szczepan Twardoch: "Wale und Nachtfalter. Tagebuch vom Leben und Reisen"
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Rowohlt Berlin
253 Seiten, 24 Euro
Sätze, die einen beim Lesen innehalten lassen
06:04 Minuten
Die Suche nach dem Geheimnis des Lebens treibt den Schriftsteller Szczepan Twardoch nach Norwegen, Frankreich und in die Taiga. Geburt und Tod sind Klammer dieses Tagebuchs. Dem Autor gelingt es, wie beiläufig über die großen Fragen zu sprechen.
Der Schriftsteller müsse immer im Dienst sein, wie ein Spitzel der Geheimpolizei, schreibt Szczepan Twardoch in seinem Tagebuch "Wale und Nachtfalter". Andernorts heißt es wiederum, er schaue der Gegenwart zu, wie sie vorbeigeht.
Geburt und Tod sind Klammer dieses Tagebuchs, das nicht den Tagen folgt, sondern den Jahren von 2007 bis 2015. Es beginnt mit der Geburt von Twardochs erstem Sohn, und es endet mit einem verwesenden Rentier-Kadaver am Strand und dem Wunsch des Autors, er möchte auch so enden.
Enorm verdichtet und sprachlich ausgefeilt
Twardochs Schreiben dreht sich um das "Geheimnis des Lebens". Mit rasch hingeworfenen Tagebuchnotizen hat dieses Tagebuch nichts gemein, im Gegenteil, es ist ein enorm verdichteter, sprachlich ausgefeilter Kunsttext. Der Autor ist auf der Suche nach dem Sinn, ohne den wir Menschen nicht leben können und den er doch nirgends findet. "Ich betrachte die Welt mal mit den Augen einer Kuh, mal mit Gottes Augen: Ich sehe, ohne verstehen zu wollen, oder verstehe, ohne auch nur einen Blick zu verschwenden."
Der Mensch erscheint als ein Wesen zwischen Tier und Gott, zwischen dem reinen Sein im Jetzt und der mythischen Tiefe eines unerkennbaren Jenseits.
Seine Reisen führen den Autor nach Spitzbergen und in die norwegischen Fjorde, wo sein Boot von einer Welle zur anderen geschleudert wird, oder in die sibirische Taiga, wo tote Nachtfalter einen See bedecken "wie ein weißer Pelz". In Paris denkt Twardoch bei der "furchtbaren Visite" im überfüllten Notre-Dame an einen toten Wal: "im Innern der toten Kirche kämpfte ich mich zwischen den Rippen des Walkadavers hindurch, wie ein verspäteter Jonas".
Die Dinge so sagen, wie sie zuvor niemand gesagt hat
Von seinen Reisen kehrt Szczepan Twardoch nach Pilchowice in Schlesien zurück, wo seine Familie seit jeher gewohnt hat. Er lebt "auf den Knochen" seiner Vorfahren, und er ist davon überzeugt, dass das eine große Gnade ist: "Ich weiß nur nicht, warum."
Auf jeder Seite findet man diese Sätze, die einen beim Lesen innehalten lassen, so präzis und überraschend sind sie formuliert. "Der Wind packt die Schädel in Frost, dass es knirscht." "Geknebelte Verzweiflung in den Autos, die früh am Morgen zur Antistadt rollen." Einmal ist gar von einer "geschniegelten Blondine mit der Aura eines wollüstigen Hamsterweibchens" die Rede. Als er einen Roman beendet hat, ist es ihm, als hätte er sich "auf den Seiten ausgewrungen" und wäre durch die Tatstatur in den Text gesickert.
Twardoch sagt die Dinge so, wie es vor ihm noch niemand gesagt hat, und Olaf Kühl hat diese aufgeladene Sprache so eindringlich übersetzt, dass im Deutschen nichts davon verloren geht.
Keine schwere Kost
Die Literatur müsse das Wichtigste berühren, sagt Twardoch, und in der Tat spricht von nichts anderem. Es gibt in diesem Buch keinen belanglosen Satz – und wundersamerweise auch keinen pathetischen.
Dass dieses Buch keine "schwere Kost" ist, liegt am Ton. Der Autor und sein Übersetzer haben es geschafft, wie beiläufig über die großen Fragen zu sprechen. Szczepan Twardoch zieht alle Register, mal ironisch, mal nachdenklich. Ein ernster, manchmal verzweifelter Witz geht durch dieses gewaltige Buch, ein Lachen auf Messers Schneide.