Tablet-PC für Blinde

Von Lutz Reidt |
Der Junge war vier Jahre alt, als er sich mit einer Ahle am Auge verletzte. Er erblindete. Es war Louis Braille, der später die nach ihm benannte Punktschrift entwickeln sollte. Seit Jahren werden Wege entwickelt, die Braille-Schrift auch elektronisch zu übertragen - das Zauberwort heißt Mikrofluidik.
Im Internet surfen, Mails schreiben und lesen, eine Bestellung im Versandhandel aufgeben - das alles ist für Gerhard Jaworek selbstverständlich. Der diplomierte Informatiker arbeitet am Studienzentrum für Sehgeschädigte im Karlsruher Institut für Technologie. Gerhard Jaworek ist von Geburt an vollblind. Dass er dennoch das Internet nutzen und Programme schreiben kann, verdankt er einem schlanken, länglichen Gerät mit vielen kleinen Punkten, die nebeneinander angeordnet sind:

"Die Braillezeile ist ein Gerät, ein Display, das mir den Text, der auf dem Bildschirm ist oder auch graphische Informationen umsetzt in Blindenschrift, in die normale Blindenschrift, die eigentlich jeder Blinde nutzt und auch versteht."

Es sind winzige Stifte, die sich unter der weichen Gummischicht des Lesegerätes heben und senken und dabei die Braille-Buchstaben bilden. Die Stößel werden elektronisch gesteuert. Das Ganze ist ausgereift und funktioniert bestens, auch nach 12 Jahren Dauereinsatz auf dem Schreibtisch von Gerhard Jaworek. Bei einem Anschaffungspreis von umgerechnet 10.000 Euro darf es auch ruhig etwas werthaltiger sein. Günstiger zu haben sind die Lautsprecher, die dem Informatiker beim Programmieren und beim Besuch des Internets helfen:

"Ich benutze eine spezielle Software, die nennt man Screenreader, Bildschirmleser; damit ist bildlich gemeint eine Software, die den Bildschirm für mich liest, interpretiert und mir als Blinder - verteilt auf die beiden Kanäle Braille und Sprache - die Information wiedergibt, die wichtig ist."

Die zusätzliche Unterstützung aus dem Lautsprecher ist hilfreich, denn die herkömmliche Braillezeilen-Technik ist limitiert. Maximal 80 Zeichen lassen sich damit darstellen. Das reicht zwar, um Web-Inhalte in Blindenschrift zu übersetzen. Doch um komplizierte Graphiken darzustellen, wären Geräte nötig, die zigtausend Euro kosten würden.

Billiger wäre eine andere Lösung, die Dr. Bastian Rapp am Karlsruher Institut für Technologie entwickelt. Rapp ist Experte im Bereich der Mikrofluidik. Für den Maschinenbau-Ingenieur geht es darum, die Braille-Buchstaben anders zu bilden. Nicht durch kleine Stifte, sondern durch winzige Mengen Flüssigkeit, die durch ebenso winzige Kanäle fließt:

"Eine sehr wichtige Komponente für uns in der Mikrofluidik ist das mikrofluidische Ventil. Das ist eine Komponente, die in der Lage ist, einen Kanal zu öffnen und zu schließen und Flüssigkeit durchzulassen. Und je nachdem, ob geöffnet oder geschlossen ist, kann die Flüssigkeit - wenn man Sie unter Druck setzt - durch den Kanal befördert werden und auf der Rückseite einer Membran einen Hub auslösen. Das ist genauso wie Sie es in der Hydraulik auch kennen: Sie schieben an einer Stelle eine Flüssigkeit rein, die Flüssigkeitssäule wird auf ihrer gesamten Länge verschoben und in diesem Fall dazu verwendet, den eigentlich Hub auszulösen."
Diese Flüssigkeit erzeugt dann punktförmige Ausbuchtungen unterhalb einer Kunststoffoberfläche, die der Anwender mühelos ertasten könnte. Vorausgesetzt, ein entsprechendes Kanalsystem wäre unter einem Display für Blinde und Sehbehinderte integriert - das ist die Idee von Bastian Rapp.

Damit die Flüssigkeit durch die winzigen Kanäle wechselweise fließt und dann wieder stoppt, muss sie gesteuert werden. Und das geschieht über die Temperatur. Winzige Heizwiderstände auf der Platine eines solchen Displays dienen als Wärmequellen, die jeweils an- und ausgeschaltet werden:

"Ganz einfach, indem Sie eine Flüssigkeit, einen Stoff erwärmen! Der dehnt sich dann aus in Folge dieser Erwärmung; und was wir machen: Wir verwenden ein Wachs. Dieses Wachs schmilzt und wenn das Wachs schmilzt, dehnt es sich aus. Minimal. Das ist vollständig ausreichend, um einen mikrofluidischen Kanal zu öffnen oder zu schließen. Und auf die Art und Weise einen Druck durch ein Kanalsystem durchzuleiten."

Und damit die winzigen Ausbuchtungen auf dem Display zu erzeugen. Dies alles geschieht weitgehend verschleißfrei. Und sowohl das Wachs als auch die winzigen Bauteile, die in der Mikrofluidik eingesetzt werden, sind sehr kostengünstig. Es sind im Grunde Pfennigprodukte. Das ist der große Unterschied zur klassischen Braillezeilen-Technik auf Basis elektronisch gesteuerter Mikrostifte.

Dank niedriger Materialkosten könnte die neue Technik in Bereiche vorstoßen, von denen Gerhard Jaworek bislang nur träumen konnte. Der Wunsch des vollblinden Informatikers wäre eine Art iPad - ein Tablet-Computer, auf denen er nicht nur Texte in Blindenschrift ertasten könnte:

"Ich verspreche mir persönlich von dieser Anwendung der Mikrofluidik wirklich ein Brailledisplay, ein graphisches Display, das auch bezahlbar ist. Ich stelle mir dann vor, dass es nur noch das graphische Display geben kann, ich kann auch graphische Elemente mit hinein nehmen, ich kann so etwas realisieren wie ein Braille-Pad, wenn man es so nennen will; das gibt dann baulich wesentlich größere Freiheitsgrade noch."

Auf diesem Braille-Pad im DIN-A-Format könnte der Informatiker dann zum Beispiel auch komplizierte mathematische Formeln lesen, oder auch Strukturformeln aus der Chemie sowie Notationen von Musikstücken. Somit wäre für Blinde und Sehbehinderte zum einen der Weg ins Internet weitgehend ohne Barrieren, sondern auch die Welt der Kultur und der Wissenschaft leichter zu erschließen.
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