Mosambiks unsichtbare Kinder
05:48 Minuten
80 Prozent aller Menschen mit Behinderungen leben in Entwicklungsländern. In Mosambik werden Kinder mit Behinderung aus Scham regelrecht versteckt. Einige Schulen versuchen jetzt, mit diesem Tabu zu brechen.
Ein Rollstuhl in tiefem Sand: Herminia Maria Samo braucht Kraft, um ihre Tochter Chelsia in die Schule zu bringen. Asphaltierte Straßen oder Bürgersteige gibt es hier in Zona Verde nicht, so wie in vielen Orten Mosambiks. Doch früher, erzählt sie, sei es noch mühsamer gewesen:
"Ich wollte, dass Chelsia, wie alle anderen Kinder, mit 6 Jahren die Schule beginnt. Aber damals hatten wir noch keinen Rollstuhl und ich musste sie den ganzen Weg tragen. Das war beschämend, man hat über uns gelacht. Dann wurde Chelsia zu schwer für mich und musste zuhause bleiben. Erst seit mein Cousin im benachbarten Südafrika einen Rollstuhl gekauft hat, kann sie zur Schule gehen."
"Das Gesundheitssystem ist überfordert"
Die Mutter wischt sich eine Träne von der Wange. Es fällt ihr schwer, über diese Zeit zu reden. Über das Gefühl der Ohnmacht, weil Rollstühle, so wie andere Hilfsmittel, in Mosambik rar sind. Über die Scham, überhaupt ein Kind mit einer Behinderung zur Welt gebracht zu haben. Denn das sei ein gesellschaftliches Stigma, erklärt Antonio Nhantumbo von der Organisation für Menschen mit Behinderungen, ADEMO:
"Viele Familien verstecken Angehörige mit Behinderungen, weil sie sich schämen, wegen gesellschaftlicher Tabus. Ein Kind, das nicht der Norm entspricht, gilt als Bestrafung, als Fluch. Diese Kinder werden nicht als gleichwertige Menschen wahrgenommen, diskriminiert und teilweise auch misshandelt. Sie werden nur als Last erachtet."
Dabei sind Behinderungen in Mosambik schon angesichts der vielen Landminenopfer infolge des Bürgerkrieges keine Seltenheit.
"Wir haben alle Arten von Behinderungen hier: körperliche und geistige. Doch viele Eltern erkennen die Einschränkungen ihrer Kinder oft zu spät. Außerdem mangelt es an Behandlungsmöglichkeiten – sowohl für angeborene Behinderungen als auch für solche, die später etwa durch Infektionskrankheiten oder infolge von Verkehrsunfällen entstanden sind. Damit ist das Gesundheitssystem unseres Landes überfordert."
Barrierefreier Zugang ist nur der Anfang
Eine Klinik gibt es in Zona Verde nicht. Mütter wie Herminia Maria Samo müssen dafür mit dem Minibustaxi bis in den nächsten Ort fahren. Das ist teuer und kompliziert. Selbst in der Hauptstadt Maputo gibt es nur ein einziges spezialisiertes Reha-Zentrum. Ähnlich desolat ist die Situation an den Schulen.
Chelsia hat Glück, dass sie in eine der zwölf Pilotschulen für inklusive Bildung geht. "Handicap International" hat hier behindertengerechte Toiletten und Betonrampen gebaut.
So könne sie den Klassenraum ganz ohne Hilfe erreichen, sagt Chelsia stolz, während sie die Rampe hochfährt. Doch der barrierefreie Zugang ist nur ein Teil des Pilotprojekts: Früher wurden Kinder mit Behinderungen, wenn sie überhaupt an einer Schule zugelassen wurden, weitgehend ignoriert. Nun lernen Lehrerinnen wie Sandra Macamo in Fortbildungen, wie sie Schülerinnen wie Chelsia einbeziehen und fördern können.
"Zunächst war das schwierig und ungewohnt. Wir dachten, dass diese Kinder in eine Sonderschule gehören. Aber ich habe gelernt, wie ich sie integrieren kann, auch wenn das angesichts von Klassengrößen von über 60 Schülern eine Herausforderung ist. Wir arbeiten jetzt beispielsweise häufiger in Gruppen, so dass ich mich mehr um die Schüler kümmern kann, die Hilfe brauchen, ohne dass sich die anderen langweilen. Es ist wunderbar zu erleben, dass sie täglich Fortschritte machen."
Die Tabus langsam auflösen
Und so findet langsam ein Umdenken statt. Viele Kinder können nun erstmals zur Schule gehen. Die Zahl der Neu-Anmeldungen habe die Erwartungen übertroffen, betont Alberto Sambo von "Handicap International".
"Das ist nicht nur für diese Familien ein Erfolg, sondern für die ganze Gesellschaft. Die Kinder lernen, dass Mitschüler mit Behinderungen die gleichen Rechte haben. Eltern begreifen, dass ihre Kinder in der Schule willkommen sind. Lehrer sind im Umgang mit diesen Kindern geschult. Nachbarn informieren uns, wenn nebenan noch immer ein Kind versteckt wird. So lösen sich die gesellschaftlichen Tabus langsam auf. Natürlich haben wir nicht die Mittel, jede Schule entsprechend auszustatten, aber der Anfang ist gemacht."
Sambo hofft auf ein landesweites Projekt für inklusive Bildung. Damit Kinder wie Chelsia in Mosambik nicht mehr länger unsichtbar sind oder wie Luft behandelt werden.