Tabubruch

Es darf nicht wieder geköpft werden

Auf einer Kundgebung der fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung in Dresden am 12.10.2015 hält ein Demonstrant einen Galgen hoch, an dem zwei Schilder hängen. Darauf steht "Reserviert für Angela Merkel" und "Reserviert für Siegmar Gabriel".
Ein Pegida-Demonstrant würde Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Gabriel offensichtlich am liebsten am Galgen sehen. © picture alliance / dpa / Markus Schreiber
Von Gesine Palmer |
Eine Parole wie "Merkel köpfen" verletze ein Tabu, das selbst in einer Gesellschaft zu respektieren sei, die sich für aufgeklärt und frei hält, meint Gesine Palmer. Die Berliner Religionsphilosophin würde manches Tabu lieber erhalten.
Es wird wieder geköpft. In der Realität. Im Nahen Osten enthauptet eine Verbrecherbande regelmäßig im Namen Allahs vermeintliche Feinde - darunter immer wieder eigene Kämpfer, die in Ungnade fielen. Sie tun das gezielt vor laufender Kamera und verbreiten die Bilder in Netzgeschwindigkeit in alle Welt.
Sie brechen in Zeiten von Krieg und Umsturz bewusst und blutig Regeln überlieferter Zivilisation, Regeln der alten Kulturen des Nahen Ostens ebenso der westlichen Welten. Denen sie damit irgendeinen Kampf ansagen. Wie geht es eigentlich Leuten, die so etwas machen?

Kopfjägern machte der Tabubruch Angst

Von den Kopfjägern Polynesiens sind uns durch die Ethnologen des 19. Jahrhunderts Gesänge überliefert. Einen zitiert Sigmund Freud in seinem Werk "Totem und Tabu":
"Zürne uns nicht, weil wir deinen Kopf hier bei uns haben; wäre uns das Glück nicht hold gewesen, so hingen jetzt vielleicht unsere Köpfe in deinem Dorf. Warum bist du unser Feind gewesen? Wären wir nicht besser Freunde geblieben? Dann wäre dein Blut nicht vergossen und dein Kopf nicht abgeschnitten worden."
Freud benutzt diesen Text, um zu zeigen, welchen Umschlag der Gefühle ein Tabubruch auslöst. Der Rausch der Sieger verwandelt sich in Angst, weil sie ein starkes Verbot übertreten haben. Das Tötungsverbot sichert – obwohl es viele Ausnahmen kennt – jede menschliche Ordnung.
Darum war auch das Töten von Feinden stets von Tabus umgeben, wie alle Berührungen mit dem Außeralltäglichen, insbesondere mit dem Blut, das den Grenzfluss von Tod und Leben bildet. Mit ihren Gesängen und rituellen Reinigungen wollen Menschen die Grenzverletzung wieder ungeschehen machen, die Ordnung wiederherstellen.
Das Kopfabschneiden ist eine Grenzverletzung. Zum gefährlichen Tabubruch wird es jedoch erst dann, wenn der unterlegene Feind nicht selbst schuld ist. Um die Tabu-Ordnung wieder herzustellen, muss also beteuert werden, das Opfer habe den Frieden zuerst gebrochen, durch sein Tun ein höheres, vielleicht gar göttliches Gut zerstört.

Moderne bestätigt sich durch Tabu-Brechen

Doch die Schuldumkehr reicht nicht aus. Es bleibt die Angst vor dem Fluch der Feinde und davor, eines Tages selbst als Besiegter geköpft zu werden. Deshalb erwiesen die Kopfjäger den Köpfen der Getöteten Ehren, die sie ihnen zu Lebzeiten verweigerten.
Als das Wort "Tabu" durch die Ethnologen nach Europa importiert wurde, machte es in unseren Sprachen eine eigene Karriere. Wir hatten so ein Wort nicht – aber schienen genau zu wissen, was gemeint war. Wer Tabus hat und achtet, der müsse wohl irrationale Ängste und furchtbare Schuldgefühle haben. Wir sind aufgeklärt, meinten wir, wir sind davon frei.
Und fortan schickten wir das Wort "Tabu" immer dann vor, wenn wir mal wieder durch Schockieren unsere Freiheit demonstrieren wollten, auf den Bühnen der Theater wie in besonders dreisten Reden - aber eben auch in den entfesselten Raubmordorgien der NS-Zeit.

Gewaltverbot bliebe besser ein Tabu

Danach haben wir in Deutschland eine Scheu gegenüber brutalen Grenzverletzungen und einer allzu schamlosen Anbetung der reinen Macht etabliert. Im Erinnern an diesen Zivilisationsbruch stellen wir uns der Schuld aus einer Zeit ohne jedes Tabu. Wir erlauben uns kein Umlügen der Geschichte, kein Tabu soll uns die Sicht verstellen.
Trotzdem haben wir normativ eine neues Tabu etabliert, das wir nicht mehr brechen wollen: Niemand soll hier je wieder zu Gewalt und Mord aufzurufen dürfen.
Aber hält das noch? Neulich ging ich in Kreuzberg an einem abgestellten Marktfahrzeug vorbei. Es warb für "Muttis Kartoffelpuffer". Dazwischen hatte jemand in dicker schwarzer Schrift geschrieben: "Merkel köpfen".
Es war so lapidar. Es sagte: Ich kann das machen. Es passiert nichts. Es sagte mir, wie schon die Galgen auf einer Pegida-Demonstration im letzten Herbst, dass das Köpfen nun auch in immer mehr Köpfen bei uns wieder angekommen ist. Mir wäre lieber, es bliebe tabu.

Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik" – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.

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